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Lebkuchen-Gugl

Lebkuchen-GuglhupfSo wie die Weckmänner, die ich fast jedes Jahr backe, gibt es noch ein Rezept, das ich seit über 20 Jahren quasi jedes Jahr mache. Als Kastenform, als Muffins mit Marzipan-Deko, als Kuchenpralinen oder Cannelés, … Das Rezept stammt von einer meiner Tanten aus dem Saarland und da alle das Rezept wollen und ich es selbst auch hier am schnellsten wiederfinde, schreibe ich es auf:angeschnittener Lebkuchen

450 g Rübenkraut (vielleicht kennt ihr es auch als Zuckerrübensirup)
100 g Zucker (im Original stehen 450 g – aber das ist mir viel zu süß – aber falls ihr Süßschnäbel seid, dann probiert es aus)
6 Eier
2 Tassen Milch
2 Päckchen Lebkuchengewürz
1 kg Mehl
2 Päckchen Backpulver

Das Rübenkraut mit dem Zucker und den Eiern gut verrühren, dann langsam die Milch unterrühren, bis eine glatte Masse entstanden ist. Diese dann auf höherer Stufe schön luftig aufschlagen. Das Mehl mit dem Backpulver und den Gewürzen mischen und nach und nach unterrühren. Es entsteht ein schwerer, dunkler, glänzender Teig.

In die gewünschten Formen füllen und bei 180°C etwa 45 bis 50 Minuten backen (Guglhupf oder Kastenform). Kleinere Formen wie Muffins oder die Tannenbäumchen brauchen etwas weniger lang. Die Stäbchenprobe zeigt euch, wann der Lebkuchen fertig ist.

Wenn ihr einen zickigen Backofen habt, so wie ich, dann kann ein großer Guglhupf auch mal knapp zwei Stunden backen, aber da kann der Lebkuchen nichts für…Kaffeetafel für den Adventskaffee mit Plätchenteller und Lebkuchenguglhupf

Heut‘ ist Nikolausabend da…

Wer mich seit einigen Jahren kennt und in räumlicher Nähe wohnt, ist sehr wahrscheinlich schon einmal Zeuge einer ganz besonderen Familientradition geworden. Zumindest hier im Rheinland sorgt sie immer wieder für Verwunderung, denn Weckmänner heißen hier Martinsmännchen und haben daher rund um den 11. November – Sankt Martin eben – Hochsaison.

Doch im Schwarzwald haben die „Dambedeis“ einen anderen Haupt-Feiertag: den Nikolaustag.

In meiner Familie wurde der immer am Vorabend begangen. Mein Vater zog sich vor den Augen von uns Kindern und einer Horde Nachbars- und Freundeskinder den Rauchmantel an, legte den Bart um, setzte sich eine Mitra auf und nahm den Holzstab in die Hand. Er ging aus dem Wohnzimmer, kam wieder herein und – eine Lieblingsgeschichte meiner Mutter – wir Kinder waren ganz aufgeregt und wollten unbedingt den Papa holen, damit er den Nikolaus nicht verpasst. Es hat wohl einige Jahre gedauert, bis wir alle das Spiel durchschauten.

Im Grundschulalter machten meine Schwester und ich dann irgendwann einen Kinderbackkurs mit und lernten einen einfachen Quark-Öl-Teig für Dambedeis, Stutenkerle, Weckmännchen – nennt sie, wie ihr wollt. Auf jeden Fall waren alle von den kleinen Gebäckstücken so begeistert, dass es sie von da an jedes Jahr gab. Der Teig ist schnell gemacht* und je nachdem, wie viel Zeit man hat, kann man einfache oder aufwändiger dekorierte Weckmänner herstellen.

Egal, wo ich lebte, wenn es irgendwie ging, habe ich seither an jedem 5. Dezember gebacken und die kleinen Weckmännchen am darauffolgenden Tag an Freunde oder Kolleginnen und Kollegen verschenkt.

Und nicht nur ich… Als ich vorhin in der Küche stand und gerade das erste Blech Dambeideis in den Ofen schob, da kamen Messenger-Nachrichten von meiner Schwester und meiner Mutter. Die beiden hatten auch gerade gebacken… Hach <3

Nikolause aus dem Schwarzwald …

 

 

 

 

 

… und aus der Pfalz

Habt einen schönen Nikolausabend!

* Rezept für den Quark-Öl-Teig:

1 Ei
250 g Magerquark
10 EL Öl
10 EL Milch
80 g Zucker
2 Pck. Vanillezucker
1 Prise Salz
500 g Mehl
1,5 Pck Backpulver

Alle Zutaten außer dem mit Backpulver gemischten Mehr verrühren, dann das Mehl nach und nach unterkneten. Weckmänner formen, mit Eigelb bepinseln und bei 200°C ca. 15 Minuten backen.

Was schön war (kleine Schritte sind auch Schritte)

Vor ein paar Tagen habe ich einem kleinen Jungen an einem Bahnhof angeboten, an meiner Hand die Treppe zum Gleis hochzugehen. Seine Mama war mit dem Buggy schon ein paar Stufen gegangen und er stand noch unten und maulte rum. Ich hielt ihm die Hand hin und fragte, ob er mit mir zusammen hinauf gehen möchte. Erstaunt nahm meine Hand und kraxelte neben mir bis nach oben. Dort lächelten wir uns an wie zwei erfolgreiche Verschwörer.

Normalerweise mache ich so etwas nicht. Ich traue mich nicht, fremde Kinder anzusprechen. Ich hätte Mitgefühl verspürt mit der jungen Frau, wäre aber einfach weitergegangen.

Aber nun ist es so, dass ich versuche, offener zu sein, Dinge – eigentlich Menschen, auch solche, die mir nicht nahe sind – näher an mich heranzulassen.

Und so war ich vermutlich genauso erstaunt wie der kleine Junge, als der mich abschätzig musterte – so richtig von oben bis unten und zurück und mit tief in die Augen schauen – und dann überraschend entschlossen und fest meine Hand nahm und gemeinsam mit mir die Treppe hinauf stapfte.

Ich bewunderte seine Schuhe mit roten Blinklichtern und wurde mit einem großen Strahlen belohnt. Zwischendurch hörten wir ein Martinshorn und vor Aufregung sah der kleine Mann nicht nach vorn und tapste mit dem Fuß in die Luft, statt auf die nächste Stufe. Intuitiv hielt er sich an mir fest, schaute zu mir hoch und dann ging es weiter.

Die Mutter wartete oben, bedankte sich, ging in die Hocke und ließ sich das Abenteuer mit brabbelnden Lauten nochmal erzählen.

Ich winkte zum Abschied und bekam ein begeistertes Winken zurück. Ich winkte, er winkte und die müde aussehende Mama lächelte und winkte auch.

Was schön war? Das. Und wie.

Abend und Morgen in der Gaststadt

Am Abend hat der Regen aufgehört und der Nebel hat sich über die Stadt gesenkt. Es ist so dunkel, dass man ihn nicht sehen könnte, hätte die Stadt sich nicht schon in ihr Weihnachtslichtergewand gekleidet. Viele kleine Lämpchen funkeln an Hauswänden und in Bäumen und machen es dem Nebelkönig unmöglich, sein Reich unbemerkt zu vergrößern.

Bei Kerzenschein und Tee sitzen wir in einem oberen Stockwerk und schauen den grauen Schwaden beim Einzug zu. Langsam kriechen sie vorwärts und abwärts. Sie sind nur mit einer kleinen Abordnung gekommen und können nicht die ganze Stadt einhüllen in ihr wolkiges Gewand. Aber für einige Straßen, ein paar Häuserspitzen, Kirchtürme, Baukräne reicht es dann doch. Sind wir nicht hübsch? – lassen sie den Wind ihr Gesäusel weitertragen. Und wie, denke ich im warmen Zimmer mit den vielen Büchern, den einfachen, aber beseelenden Bildern an den Wänden und der so langjährigen und tragenden Freundschaft im Herzen.

Am Morgen haben die Nebelschlieren sich eine Etage höher gelegt und geben den Blick frei auf den Turm der so schönen Bibliothek im Winterzauber. Das Glockenspiel klingt durch die Straßen bis in mein offenes Fenster. Ganz nachtschwarz ist es noch und wären die Lichter der Häuser und der Weihnachtsdekoration nicht, man könnte glauben, der Tag habe uns vergessen. Doch langsam, langsam mischt sich ein wenig Blau in die Schwärze und nach Laudes, Messe und Frühstück ist es grau geworden. Wieder klingt das Glockenspiel in mein Zimmer und an meinen Schreibtisch.

Noch ist es das einzige Geräusch. Doch schon bald folgen ihm eilige Schritte auf dem Kopfsteinplaster, klappernde Türen, aufheulende Motoren, das Scheppern von Baustellengeräuschen aus der Ferne und in der Nähe ein paar schüchterne Vogelstimmen. Mit den Geräuschen kommen auch Gerüche zu mir herein. Nasser Asphalt mischt sich mit dem Holzrauch des Nachbarkamins und mit Kakaoduft.

Zur vollen Stunde gibt es ein wenig mehr Glockenmusik. Ich hole mir noch einen Kaffee, um die letzten Nachtreste auch aus meinem Kopf zu vertreiben. Der Tag kann kommen.

 

Vier Jahre Erinnerung

Vier Jahre lang. Woche für Woche für Woche. Vom 28. Juli 2014 bis zum 11. November 2018 gab es diese Rubrik im Gemeinde-Infoblatt von Kerlouan. „Commémoration du centenaire de la guerre 14-18“.

Vier lange Jahre erinnerte die Gemeinde Woche für Woche an den Krieg, den Verlauf der Frontlinien in der jeweiligen Woche vor 100 Jahren. Beschrieb wichtige politische Entscheidungen, relevante Truppenbewegungen, große und kleine Randnotizen von der Front und dem, was sie für die Menschen in Frankreich, in der Bretagne, im Finistère, in dem Dorf am Ende der Welt bedeuteten. Und sie gedachte der Toten aus Kerlouan. Erinnerte an die jungen und alten Männer, Fischer und Bauern, Handwerker und Arbeiter. An den Mittzwanziger aus der Straße an der Kirche, den Endvierziger, der in der Nähe der Metzgerei gewohnt hatte. An den Sohn der Witwe in der Avenue …, die nun nach Mann und Bruder schon den dritten Verlust zu betrauern hatte.

Sachlich wurde da berichtet. In weniger Sätzen zusammengefasst, was weltpolitisch passierte und wie es die Menschen am Ende der Welt betraf. Fast schon lakonisch stand da, wie der große Krieg in die kleine Welt am Ende des Endes der Welt einbrach. La Der des Ders –  la dernière des dernières (guerres) -, wurde der Krieg später genannt. Der letzte der letzten Kriege sollte es gewesen sein, der weite Teile Frankreichs vernichtete. Dass er nicht der letzte war, dieser Krieg, den die Franzosen aufgrund der Verwüstungen auf ihrem Territorium bis heute die „grande guerre“ nennen, dass da mehr und Schlimmeres bevorstand, das mochte sich damals niemand vorstellen.

Noch heute gibt es in Frankreich Zones rouges, die nicht betreten werden können. Der Krieg, der die Männer aus dem Finistère und aus allen anderen Regionen holte und auf dem Schlachtfeld vernichtete. Etwa 240.000 Männer aus der Bretagne sind gefallen, jeder vierte, der in den Krieg zog – überdurchschnittlich viele (im Durchschnitt starb jeder achte französische Soldat). Viele von ihnen konnten kaum oder kein Französisch, und seien es die Sprachprobleme, oder die Vorurteile oder noch viel komplexere Ursachen, die dafür sorgten, dass es die Fischer, die Bauern, die Handwerker und Arbeiter aus der Bretagne waren, die besonders oft in die ersten, aussichtslosen Reihen und Schützengräben geschickt wurden, es waren viele, die nicht zurückkamen und kaum eine Woche vergeht, in der das kleine Gemeindeblatt nicht vom Sterben eines Sohnes, eines Ehemanns, eines Vaters und Großvaters aus der Kommune zu berichten hat.

Vier lange Jahre stehen die kleinen Meldungen inmitten von Hinweisen zum Umgang mit der asiatischen Hornisse, zu Ausschreibungen von Flurstücken, zur Reparatur von Wasserleitungen, zu Sonnenbrillen und Autoschlüsseln, die im Fundbüro abgegeben wurden. Sie stehen neben den Anzeigen des Traiteur und der verschiedenen Coiffeurs, über den Hinweisen der Sportvereine und der Restos du coeur.

Der Krieg, auch er hat stattgefunden, während das Leben andernorts weiterging. Manchen brachte der Krieg sich auch vor 100 Jahren so in Erinnerung wie uns, wenn wir in den vergangenen Jahren als Touristen einige Wochen in der kleinen Gemeinde verbrachten und freitags das Infoblatt auf der Post mitnahmen, um ein wenig mitzubekommen, was die Menschen um uns herum bewegt (und wann es sich besonders lohnt, nicht selbst zu kochen, sondern beim Traiteur einzukaufen). Man hörte hin und wieder Nachrichten, erfuhr von Gräueln und dem Hin und Her der Front. Doch man lebte weiter.

Anderen rief der Krieg sich ganz anders in Erinnerung. Durch Gewalt und Schlachten, durch Flucht und Vertreibung, durch den Tod geliebter Menschen, durch Verletzung und Verstümmelung, durch …

Vier lange Jahre dauerte der Krieg. Und gab es zum 100. Geburtstag seines Anfangs unzählige Artikel, Buchveröffentlichungen und Veranstaltungen, geht sein Ende deutlich ruhiger vonstatten (natürlich gibt es das große Gedenken in Paris und … – und doch ist es ruhiger.

Dabei lohnt es sich, auch das Ende des Krieges zu betrachten. Innezuhalten und zu sehen, was es bedeutet, wenn die Waffen schweigen.

Clémenceau scheint davon geahnt zu haben, als er in der Stunde der Verkündung des Sieges nicht nur den Gefallenen dankte, sondern auch – im Voraus – den Überlebenden, die nun vor der Mammutaufgabe des Wiederaufbaus standen.

Was geschah nach dem Hissen der Trikolore und dem Läuten der Glocke. Das kleine Bulletin vermerkt:

Lundi 11 novembre : à 2h, du matin, les délégués allemands font savoir au maréchal Foch qu’ils sont à sa disposition. La séance s’ouvre aussitôt. La convention est relue et discutée article par article. A 5h, les signatures sont apposées sans qu’aucune modification importante ait été apportée. Il a été convenu que les hostilités cesseraient à 11h de la même matinée. Plus tard, il arrivera aux allemands de prétendre que seule la menace de révolution intérieure les a obligés à capituler et que leurs troupes ont été « poignardées dans le dos ». Ce ne furent pas les révolutionnaires de l’intérieur qui eurent finalement raison des armées du Reich,
ce fut le courage, l’opiniâtreté des soldats alliés ; ce fut aussi l’esprit de sacrifice des marins chargés d’assurer le blocus ; ce fut enfin le génie militaire du maréchal Foch.
[…]

… Später gaben die Deutschen vor, dass allein die Bedrohung einer Revolution von innen sie gezwungen habe zu kapitulieren und dass ihre Truppen ‚von hinten erdolcht worden seien‘. Doch es waren nicht Revolutionäre aus den eigenen Reihen, die die Armeen des Deutschen Reichs besiegten, es war der Mut, die Beharrlichkeit der alliierten Soldaten; es war auch der Opfergeist der Marinesoldaten, die die Seeblockade aufrecht erhalten haben; es war schließlich das militärische Genie des Marschall Foch.

Und auch das steht da:

L’ivresse légitime de la victoire empêche de distinguer combien cette victoire, toute glorieuse soit-elle eue été chèrement payée, chèrement par la France, chèrement par la civilisation dont la France était le sel.

Die legitime Siegestrunkenheit verdunkelt den Blick darauf, wie viel dieser Sieg, wie ruhmreich er auch gewesen sein mag, wie viel er gekostet hat, wie teuer er bezahlt wurde von Frankreich, von der Zivilisation, deren Salz Frankreich gewesen ist.

Ich habe nicht jede Woche online in die Gemeindemitteilungen geschaut. Aber ab und an habe ich nachgelesen, was geschah vor 100 Jahren. In der Welt, in Frankreich, in dem kleinen Ort am Atlantik, der uns so ans Herz gewachsen ist. Was mich dabei am meisten gefreut hat ist etwas, das nicht in Worten formuliert werden musste: Dass da jemand erzählt hat ohne Ressentiments. Sachlich und doch anteilnehmend. Mit Blick auf die historischen Fakten und die menschlichen Auswirkungen. Dass es möglich ist, dass aus Feinden – „Erbfeinden“ – Menschen werden, die sich in Frieden lassen, in Frieden leben, Freunde werden. Ich habe es gerade in Frankreich oft genug erlebt und es ließ sich auch zwischen den Zeilen der „commémoration“ finden. Dass Menschen, die es nicht schafften, miteinander zu sprechen, sich auf Wahrheiten zu einigen, Fakten anzuerkennen – dass es ihnen gelang, den Hass zu überwinden. Eine kleine Hoffnung. Aber eine Hoffnung.

800 Meter in Pasing

Auf der Straße kommen mir zwei Kinder entgegen gerannt. Atemlos spielen sie fangen. Einer der Jungen versteckt sich hinter mir und kichert dabei so sehr, dass er sich an meinem Bein festhalten muss, um nicht umzufallen. Ich muss lachen, denn dabei kitzelt er mich in der Kniekehle. Zwei junge Männer und zwei junge Frauen kommen den beiden nachgelaufen. „Entschuldigung, Entschuldigung“, rufen sie schon ein paar Meter entfernt. „Aber warum denn“, frage ich. „Ich habe es nicht eilig und freue mich über die fröhlichen Jungs“ lächle ich. „Wir sind so – äh – froh – froh sagt man, nicht?“ – sagt eine der Frauen. Sie trägt ein kunstvoll zum Turban geschlungenes Kopftuch und lächelt ein wenig schüchtern. „Froh“, sage ich, „genau“. „Als Baby hat er immer nur geweint“, sagt einer der Männer. Er tritt heran und nimmt vorsichtig die Hand der Frau. „Krieg, Aleppo“, sagt er. Ich nicke. „Wie schön, dass Sie hier in Sicherheit sind“, sage ich und fast entsteht ein Gespräch, aber die beiden Wirbelwinde finden das Gerede der Erwachsenen langweilig. Längst sind sie weitergerannt und kommen nun mit empörten Gesichtern zurück. „Schneller, schneller“, rufen sie und „fangen, schneller fangen“. Schon düsen sie wieder los, die Erwachsenen im Eilschritt hinterher.

Auf dem Marienplatz haben die Bäumchen in den rot gewandeten Bottichen längst alle Blätter abgeworfen. Im Sommer wirkten sie in ihrer Blätterpracht schon fast wie ausgewachsene Bäume, als ich in ihrem Schatten lesend schöner gewartet habe als am zugigen Bahnhof. Nun stehen die Stühle unter ihnen leer und stumm herum, einige sind so zueinander gedreht, dass man meinen könnte, in Ermangelung von Besuchern plauderten sie nun eben miteinander. Die goldene Marienstatue sieht novemberlich aus. Kein Sonnenstrahl bringt sie heute zum Funkeln, auch die Perlenkette aus Regentropfen, die ihr bei meinem letzten Besuch so gut stand, hat sie nicht angelegt. Still schaut sie auf die Stühle und die novembergrauen Bäumchen hinab.

Auch vor der Eisdiele einige Schritte weiter stehen Stühle, tapfer aufgestellt und mit den sommerfarbenen Auflagen einladend ausgestattet. Mutig hat sich ein Pärchen dort niedergelassen, in dicken Fliesjacken und Schals bis über die Ohren. Der Keller nähert sich ihnen mit einem großen Tablett. „After-Eight-Becher“ ruft er so laut, dass viele Passanten sich nach ihm umdrehen und den beiden mutigen Eisliebhabern anerkennend zunicken.

„Magst du Stollen?“, fragt ein Mann eine Frau an der Straßenverkaufstheke des Bäckers. „Nein, bloß nicht, die Rosinen, das Orangeat und was da sonst noch alles drin ist“. Man sieht, wie sie sich allein beim Gedanken daran schüttelt. „Aber mit Marzipan und Mandeln?“, fragt er schon deutlich weniger enthusiastisch. „Keine Ahnung“, sagt sie und schnaubt empört, als er „einen Mandelstollen bitte“ über die Theke ruft. Als die Verkäuferin den Stollen über die Theke reicht, sieht sie immer noch missgelaunt aus. „Und ein Mohnschnecke“, sagt der Mann und die Sonne geht auf in den Augen der Frau. „Das hast du dir gemerkt?“ Er lächelt zurück. „Ach weißt du was, ich probiere deinen Stollen, wenn wir zu Hause sind“, sagt sie. Mit ineinandergehakten Armen bummeln sie davon.

„Heute auf Gleis 10“ fährt mein Zug ein. Ein ältere Dame tippelt schnellen Schrittes im Gleisabschnitt hin und her, in dem „mein“ Waggon halten soll. Eine andere Dame im gleichen Alter steigt als eine der letzten aus und die beiden fallen sich begeistert um den Hals, halten sich eng umschlungen fest und tun das noch, als ich sitze, eingecheckt habe und nochmal kurz aus dem Fenster sehe.

Lichtspiel im Rheintal und darüber hinaus

Nebel liegt über dem Rheintal. Nicht leichte, glitzernde Schwaden direkt über dem Wasser, wie sie vor wenigen Wochen die Luft mit den ersten Strahlen der Morgensonne zum Funkeln und Meckerfreunde in der Bahn zum Verstummen brachten. Nein, dichter, weißer Nebel ist es, der das Tal und die gegenüberliegenden Hügel einhüllt. Nur der Fluss ist zu sehen oder das, was von ihm übrigblieb.

Vergebens halten die Kinder in meinem Waggon Ausschau nach den berühmten Burgen. Gut getarnt verstecken sie sich hinter der Nebelwand. Sie haben ein altes, abgeliebtes Bilderbuch dabei, das kitschig gezeichnet das Rheintal zeigt, auf dem sie die Finger hin und her schieben. Anhand der Uhrzeit versuchen sie zu schätzen, an welcher Burg wir gerade vorbeifahren könnten und wie diese aussieht. Ist es die mit dem großen, runden Turm? Oder doch die mit den vielen kleineren Türmchen?

Ab und an blitzen am gegenüberliegenden Ufer die im Tal gelegenen Häuser auf, lässt sich eine Fachwerkfassade oder ein Restaurant-Schriftzug erahnen. Einer hat den Nebel aber so weit vertrieben, dass man ihn ansehen kann: Ein kleiner, in sich zusammengesunkener Vater Rhein fließt langsam in die entgegengesetzte Richtung. In seiner Mitte stehen trockenen Fußes Menschen mit Messgeräten. Sie mussten kein Boot nehmen, so weit ist das Wasser zurückgewichen. Fast hat man den Eindruck, sie könnten die roten Bojen, die die Fahrtrinne markieren, mit einem langen Arm ans provisorische Ufer ziehen.

Alt geworden sieht er aus, der Fluss, an dem ich so oft schon vorbei gefahren bin; erschöpft, resigniert. Von seiner sonstigen Erhabenheit ist nichts übriggeblieben. Auch von der Menge der Schiffe, die man sonst mit dem Zug überholt, ist kaum etwas zu sehen. Und die, die noch da sind, sind kaum beladen, niedrig sind sie, die Kohle- und Kiesladungen.

Der Nebel hüllt uns ein, die kleine Gemeinschaft in dem übervollen Eurocity. Kein Internetempfang, kein Telefonnetz – fast fühlt es sich an, als gebe es sonst nichts auf der Welt als die Menschen in diesem kleinen Raum und den kleingewordenen Fluss.

Doch dann, ganz plötzlich, kurz vor Sankt Goarshausen, bricht die Nebelwand auseinander. Ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen kitzeln sich ihren Weg durch die kalten Glieder des Nebelkönigs und hüllen die Loreley in helles Licht. Stolz wirft Vater Rhein das Glitzern aus seinen stillen Wellen zurück. Im Zug wird es zwei Stufen stiller, Blicke heben sich aus Büchern und von Displays, Lächeln schleichen sich in Gesichter, die Großeltern der burgenliebenden Kinder zeigen flüsternd auf die Felsnase und die Überdachung der großen Freileichtbühne, die man von unten sehen kann.

Heute würde hier kein Fischer, kein Kahn in den Fluten versinken. Zu deutlich sind die Felsen zu sehen, von denen die in güldenes Haar gehüllte Sirene die Unglücklichen abzulenken versuchte. Hart und hoch und schwarz ragen sie aus dem Wasser, wie von Riesenhänden ins Gestein gekratzt.

Die Sonne bricht sich in den Fahnenmasten auf dem Gipfel und ich muss daran denken, wie wir als Schülerinnen dort oben mit den Blockflöten die Geschichte der Nymphe mit dem goldenen Haar und dem verlockenden Kamm spielten und die Klassenkameraden dazu sangen. Mit einem Sonderzug für die ganze Schule sind wir damals angereist und während die Großen nach Köln oder Bonn ins Museum weiterratterten, stiegen wir Kleinen hinauf auf den Felsen und picknickten mit Blick auf das Rheintal. Zum ersten Mal hörte ich damals von den Reisen des jungen Goethe, von Rheinromantik und den Nibelungen. Die gleiche Lehrerin, die meine Liebe fürs Französische und für Frankreich weckte, die Neugier auf andere Menschen und Meinungen unterstützte und uns lehrte, dass Sprachenlernen manchmal auch über das Nachkochen von Rezepten und Besichtigen von Käsereien gelingt, sie verstand es, Zusammenhänge zwischen Literatur und Kunst und Musik und Natur für einen kurzen Moment in mir wach werden zu lassen. Und eine Ahnung davon, dass es möglich ist, dies mit Worten festzuhalten und sich von den Worten in neue, fremde Welten und Gedanken mitziehen zu lassen. Ich erinnere mich noch an das Leuchten ihrer Augen, als sie uns oben auf dem Berg, den Rhein im Rücken, von Siegfried und dem Rheingold erzählte. Schnell war das damals vergessen, in keiner Weise rechnete ich damit, dass mir dieser Moment bleiben würde. Doch seit einigen Jahren muss ich jedes Mal, wenn ich auf der Lieblingsbahnstrecke unterwegs bin, wieder daran denken. Auch in grauen Stunden und schweren Tagen ist es eine schöne, frohe Erinnerung. Ob sie es wohl ahnt, dass ein Ausflug vor fast 30 Jahren noch immer nachhallt?

Auch, dass ich abends von einer Nachbarin am Bahnhof abgeholt wurden, weil mein Vater einen Radunfall hatte und wir statt der üblichen Ausflugsende-Bratkartoffeln Krankenhausbrote bekamen, weiß ich noch und erinnere es doch viel seltener. Erfahrungen wie die auf der Loreley  haben Spuren in mir hinterlassen wie die Narbe es auf Papas Arm tat: Etwas habe ich mitgenommen, was im Alltag kaum auffällt, sich aber immer wieder in Erinnerung ruft.

Noch heute weiß ich den Text der Loreley-Ballade in Gänze auswendig und singe in inwendig vor mich hin, während der Zug sich durch die nächsten Tunnel schlängelt. Am Ende der Röhrenreihe hat der Nebelkönig das Regiment wieder an sich gerissen, doch nicht für lange. Kaub – auf einer übergroßen Insel, wie ich sie in all den Jahren nicht gesehen habe – reckt den Sonnenstrahlen seine weiß-roten Farben und sein leuchtend schwarzes Dach entgegen.

In Bingen leuchtet der Mäuseturm schon in der Sonne, der graue Himmel hat aber noch nicht ganz begriffen, dass er die Schlacht verloren hat und sein Blau nun nicht mehr lange verbergen kann. Die Weinberge erzählen es ihm mit leuchtend gelb-orange-roten Blättern und dem ein oder anderen Hang, an dem noch taufeuchte, in der Sonne leuchtende Trauben auf den ersten Frost und die Eisweinlese warten.

Zwischen Mannheim und Vaihingen schaue ich dem Fangenspiel zwischen Nebelkönig und den Sonnenkindern zu. Der König hat seinen dicken Mantel abgelegt und lässt aus seinen Fingerspitzen spielerische Wolkenbänder schlängeln. Wie mit einem groben Schwamm zu einem eigenwilligen Muster verwischt zeigt der Himmel sich in grau-blau. Des Königs Schwager Wind hat hier noch keine Audienz gegeben und so toben die Sonnenkinder durch tausendfarbig bunte, dicht belaubte Blätterreihen. Schnell werden sie erwachsen und in Göppingen tun sie schon ganz ernst wie ein echter Spätsommertag, als seien sie nicht gerade erst den Kinderschuhen entwachsen.

Farbenrausch

Ich öffne das Fenster zum Lüften und schaue ins morgenkalte Schwarz. Vor ein paar Tagen war es draußen noch orange-gelb-rosa, als ich aufstand. Zum Meditieren setze ich mich vor das große Fenster und lasse mich vom immer heller werdenden Blau umscheinen. Ganz dunkel wie eine Decke ist es. Umfängt mich wie der Schlaf. Das Licht der Straßenlaterne reicht nicht bis zum Fenstersims und so sitze ich still und lasse mich umhüllen, bis das Blau auch in mir Raum nimmt, mich ausfüllt und mit jedem Atemzug hinein und hinausströmt.

Als würde mein Atem die Dunkelheit ein und wieder aussaugen und dabei einen Teil davon verschlucken, wird es langsam und fast unmerklich heller. Ich habe die Augen geschlossen und ahne die Veränderung von tiefem dunkelblau zu blaugrauem meerblau, zu brechende-wellen-grün-blau und schließlich zu nebeldurchzogenem himmelgraublau mehr als dass ich sie sehe.

Als ich aufstehe ist es eindeutig Tag geworden. Ein junger Tag noch, aber eindeutig ein Tag. Auf dem Weg zu Bahnhof spielt die Sonne mit dem Frühnebel Verstecken und verrät dabei ständig ihren Standort, weil sie auf dem Weg hinter die nächste Nebelschwade rote, gelbe, rosafarbene und orange Spuren hinterlässt.

Beim Warten auf die Bahn wird klar, wer das Spiel gewonnen hat und die Sonne färbt die Backsteinfassade der Konservenfabrik mit diesem besonderen Herbstgold, das es nur im Oktober gibt. Fast mag ich nicht einsteigen, doch auch der Blick aus dem Bahnfenster beschenkt mich mit Farben und Licht. Der kleine Schlossteich hat nur wenig Wasser, doch es reicht, um das Sonnengold und die Rot-Gelb-Beige-Braun-Töne der Bäume um den Teich herum glitzernd zu reflektieren.

Im Büro muss ich die Sonne ein wenig ausschließen, damit ich den Bildschirm sehen kann. Früher als noch vor wenigen Wochen ist sie hinter die Fassade des gegenüberliegenden Bürohauses gewandert, so dass nicht mehr Lichtstreifen, sondern sanftes goldenes Leuchten das Büro und die Domspitzen umfängt. Kurz bricht sich das Nachmittagsgold in einem Fenster im Innenhof und zeigt deutlich, dass es verwandt ist mit dem Gold über der Fabrikhalle am Morgen, aber es ist eher eine Cousine als eine Zwillingsschwester und blitzt frech, um die ihm zustehende eigene Bewunderung abzubekommen.

Wie eine Waffel mit Puderzucker ist die Stadt mit Abendlicht überzogen, als ich wieder zum Bahnhof gehe. Ich lasse mir Zeit, nehme nicht die Straßenbahn, sondern bummle durch das rötlicher werdende Licht in Richtung Zug. Unterwegs kommt das Blau zurück und mischt sich langsam und unauffällig unter das Rot und Gold und färbt es zu Rosa um. Je nähe ich den Gleisen komme, desto größer wird das Blau und desto verwunschener werden die rosa-grau-dunkelblauen Farbbänder.

Als ich aussteige, ist die blaue Stunde ganz dunkelblau geworden. Durch das samtene Licht lasse ich mich über einen Umweg über die Felder nach Hause treiben. Die Äste der Bäume verstecken sich immer weiter im Blau, nur das leise Rascheln einzelner fallender Blätter verrät sie noch. Als ich die Tür aufschließe, atme ich wieder schwarze Ruhe ein. Doch nicht lange. Drinnen umfängt mich die Helligkeit der Leselampe und das noch wärmere Licht eines Lächelns.

Urlaubserinnerungen

Wirbelnd treibt der Wind den feinen Sand vor sich her, die Gischt der Wellen spritzt so hoch, dass sie die Spaziergänger auf dem Pier von unten durch die Ritzen zwischen den Planken durchweicht und sie kichernd zur Seite springen.

Auch beim Spaziergang durch das Belle-Epoque-Innenstädtchen werden wir ordentlich durchgepustet. Der Wind wechselt die Seiten, kommt von vorne und hinten, rechts und links, sogar von oben und unten. Er wirbelt alles durcheinander, außen wie innen, und nimmt das Gedankenchaos mit. Vielleicht ist er genau darum gekommen, um uns in den den kurzen Urlaubstagen so viel Erholung zu schenken, wie möglich. Mit seinen kräftigen Böen pustet er den Stress, die Erschöpfung, das Ausgelaugtsein und den Gedankenmischmasch erst durcheinander und dann davon, bis wir nur noch im Jetzt da sind und an nichts anderes denken als an das Rauschen des Meeres und die Schreie der Vögel, an die vorbeitreibenden Wolken und das immer neue Heranrollen der Wellen.

Auf dem Rückweg zur Strandpromenade hat Herr Wind sich in der kleinen, steil ansteigenden Gasse fangen lassen und bläst so stark, dass wir uns gegen ihn stemmen und mit ihm kämpfen müssen, um voranzukommen. Wir ziehen die Jacken fest um uns, um keine zusätzliche Angriffsfläche zu bieten. Die Köpfe eingezogen und die Schultern in den Wind gestemmt, sehen wir aus wie Bäume, die lange im Wind standen – schief und gebeugt.

Oben angekommen lässt der Druck plötzlich nach und fast fallen wir nach vorne und purzeln übereinander. Stolpernd und gegeneinander taumelnd schaffen wir es gerade so, auf den Beinen zu bleiben. Unser Lachen nutzt der dreiste Wind, um uns Sandkörnchen und Gischtfetzen in den Mund zu pusten.

Außer Atem retten wir uns auf den Balkon unseres Zimmers und freuen uns daran, wie der Wind nicht mehr uns, sondern nur noch die Nordseewellen in Wallung bringt.

Des einen Freud…

Wir fühlen uns, als wären wir in eine lebende Kitschpostkarte gefallen. Dabei wussten der Lieblingsmensch und ich doch genau, was uns erwartet, wenn wir nach Brügge fahren. Wie in fast allen alten flämischen Städten gibt es hier Spätmittelalter-Romantik in Hülle und Fülle. Prachtvolle Backsteinhäuser, einen beeindruckenden Belfried, reich verzierte Fassaden und prachtvolle Kirchen. Das kennt man j aus Brüssel (OK, das ist nicht flämisch), aus Gent, aus Leuven, … In Brügge fühlt sich das alles allerdings tausendfach potenziert an.Häuer und eine Gracht in Brügge

Schon als ich Anfang der 2000er Jahre bei einem Praktikum dort war, gab es Touristen ohne Ende in der Stadt. Seit es in Zeebrügge das große Kreuzfahrtterminal gibt, hat sich auch die Zahl der Touristen potenziert, sie kommen busladungsweise und eilen freizeituniformierten Ausflugsbegleitern mit Schirmchen in Unternehmensfarben hinterher.

Wären da nicht die vielen Touristen und die dazugehörige Infrastruktur (Pommesbuden, Souvenirläden, Waffelstände), man könnte meinen, in Brügge wäre die Zeit stehengeblieben. Kein Krieg, kein großflächiges Feuer hat die Altstadt zerstört.Oude Markt, der Alte Markt, in Brügge

In Hamm wurde unsere Hochzeitsgesellschaft darauf hingewiesen, dass wir in einem von nur einer Handvoll historischen Häusern getraut würden ;der Rest ein Opfer des Krieges – Kunstpause – des dreißigjährigen Krieges. Die Kölner Innenstadt ist seit 1945 nicht wiederzuerkennen. In Rennes hatte ein Feuer einen großen Teil der Altstadt hinweggerafft – am Kranz der Fachwerkhäuser um die Innenstadt kann man die Brandlinie noch heute gut erkennen. Nur in Brügge ist noch fast alles, wie es war. Zeugt von Macht (der Herzöge von Burgund), von Reichtum (durch die Textilindustrie) und wirtschaftlichem Selbstbewusstsein (selten habe ich so schlecht gelaunte steinerne Türwächter gesehen wie am Rathaus von Brügge, die Mitglieder der Handelskontore umschmeicheln – hier nicht).Häuser in der Altstadt von Brügge

Zur Wahrheit gehört aber auch: Dass das alles so gut erhalten ist, zeugt auch von Machtverlust, Armut und Bedeutungslosigkeit. Denn mit der Neuzeit kam die Versandung des Zwin, ohne Nordseezugang kein Handelszentrum, ohne Handelskontore und Adelssitz keine Einnahmen, ohne renommierte Universität keine wissenschaftliche Bedeutung. Jahrhundertelang lebte man nicht mehr in Brügge, sondern überlebte, mit Ach und Krach.

Gerne hätte man wohl teilgehabt an der Industrialisierung. Aber ach, Antwerpen und all die anderen mit sandfreien Meereszugängen, mit großen, schiffbaren Flüssen und attraktiven Konditionen für Investoren, waren so viel attraktiver. Fabriken und Arbeitsplätze? Entstehen andernorts. Kanalisation? Wird zuerst woanders gebaut. Gut gefüllte Marktstände? Nur dort, wo auch Menschen waren, die die Produkte bezahlen konnten.Altstadt von Brügge

Wer durch die Straßen und Gässchen schlendert, über die Brücken der Reies (so heißen hier die Grachten) geht, im Café am Oude Markt eine der besten Waffeln ever isst, sieht diesen Teil der Geschichte nicht. Dabei hat gerade sie die heutige Pracht möglich gemacht. Wer arm ist, reißt die bestehenden Häuser nicht ein, um neue, dem aktuellen Zeitgeist entsprechende zu bauen. Wer ums Überleben kämpft, zieht keine Stararchitekten an. Wer am Hungertuch nagt, bewahrt Traditionen und klöppelt Spitze – und ist gezwungen, sie zu einem Hungerlohn zu verkaufen.

Sollen wir also alle mit einem schlechten Gewissen durch das Schmuckkästchen spazieren? Natürlich nicht. Aber der Gedanke, dass das, was wir als schon immer dagewesene Tradition begreifen, das, was wir auf den ersten Blick schnell als romantisch und verwunschen einstufen, bei einem zweiten Blick vielfältiger, vielschichtiger, komplexer ist als wir vermuteten – dieser Gedanke könnte uns auch begleiten, wenn wir zurückgekehrt sind in unseren weniger kitschigen, aber immer wieder auch auf den ersten Blick erfassbar scheinenden Alltag.