Archiv für den Monat: November 2022

Was schön war

Neulich bin ich nachts wachgeworden von einem mir unvertrauten Geräusch. Ich war in einer mir fremden Wohnung (der Freund wohnt da noch nicht lange und ich blieb zum ersten Mal über Nacht) und lauschte vorsichtig ins Dunkle, um zu orten, woher das Geräusch wohl komme und ob ich etwas dagegen unternehmen sollte. Ich muss mich dabei bewegt haben, zumindest die Füße, denn das Geräusch verstummte kurz, kam dann näher, kuschelte sich an meinen Hals und da war dann klar, dass es von einer laut schnurrenden Katze kommt und ich auf keinen Fall etwas dagegen unternehmen wollte.

Ein Mensch, den ich sehr, sehr gern hatte, ist verstorben und das passt natürlich überhaupt nicht in diese Rubrik. Aber dass in dem Moment, in dem ich davon erfuhr, jemand in meiner Nähe war, für den ich keine gesellschaftsfähige Fassade aufsetzen musste, dem ich nichts erklären brauchte und der mich einfach so annahm, wie es eben war, das war schön.

Gleich zwei Adventsüberraschungen steckten letzte Woche in unserem Briefkasten, kleine Aufmerksamkeiten und liebe Nachrichten. Nun denke ich also bis Weihnachten jeden Morgen beim ersten Kaffee an die Absenderinnen und darauf freue ich mich schon jetzt.

Das Telefon klingelt mit einer vertrauten Nummer, eine der wenigen, für die ich noch ein Festnetztelefon habe. Wir telefonieren den Akku leer, ganz wie in alten Zeiten und geografische Ferne verblasst gegen Herzensnähe. Was bin ich dankbar für diese Menschin, die den Faden auch in schwierigen Zeiten immer fest- und unsere Freundschaft zusammengehalten hat. Du weißt, wer du bist und es ist so schön, dass es dich gibt.

Auf dem Weg ins Büro in der Stadt macht ein Windstoß, dass ich aufblicke und die Bäume mit überraschend vielen und wunderbar in der Sonne leuchtenden Blättern am Straßenrand bewusst sehe, trotz morgendlicher Müdigkeit und dem Kopf schon halb im ersten Meeting. „Straßenbegleitgold“ schrieb Herr Buddenbohm vor einiger Zeit. Auch das fällt mir ein. Und wie liebenswert dieses Dorf hier in diesem Internet doch ist.

Ich backe Vanillekipferl nach dem Rezept einer der Besten und mit echter Madagaskarvanille, die eine Freundin von einem Nothilfeeinsatz von dort mitgebracht hat. Eine Katastrophe, die es für kaum ein paar Stunden in die öffentliche Wahrnehmung geschafft hatte; eine Hilfe, über die viel zu wenig berichtet wurde. Der Vanilleduft in unserer Küche ruft mir die Bilder wieder ins Gedächtnis – die der Zerstörung und die von denen, die beim Aufräumen und Neuanfangen mit angepackt haben. Bei allem Schweren – das war schön.

Die Weltlage am Boden

Auf dem Domplatte vor dem Kölner Dom sitzen seit ich denken kann Maler, die mit Kreide Bilder auf die Steine zeichnen. Manchmal ganz kunstvoll, Zitate berühmter Gemäle. Meist aber Dinge, die den Tourist*innen das Herz erwärmen sollen, weil sie an zu Hause erinnern. In letzter Zeit sehe ich ständig Flaggen in Herzform. Passant*innen legen Geld auf den Bildern ab und da liegen die meisten Münzen seit Wochen auf der ukrainischen Flagge. Seit einige Zeit auch auf der iranischen. Heute auch auf der amerikanischen und eine Regenbogenflagge ist auch dabei und wird still mit Spenden für den Künstler bedacht.

Es sind hilflose kleine Zeichen – aber eben doch genau das. Zeichen, dass die Menschen, die hier vorbeigehen, kurz stehen bleiben und nach ein paar Münzen kramen, dass diese Menschen nicht einverstanden sind mit dem Wahnsinn der Welt. Und dass sie das tun, was sie eben können – kleine gute Dinge in ihrer Umgebung. Das macht den Wahnsinn an Tagen wie diesen etwas besser auszuhalten.

Das Schlimmste

Im Vierer neben mir in der Regionalbahn sitzt eine Handvoll Jugendlicher. Sie wollen unbedingt cool sein, das sieht und das hört man, „digga“. Sie berichten sich lautstark von den ersten Erfahrungen in der Liebe. Wer da mit wem Händchen gehalten hat, wer wen küssen und wer wem die Hand unters T-Shirt schieben durfte. „Kannste nicht einfach so machen, digga, musste fragen“, erklären sie einem, der ein wenig jünger aussieht und mein Herz wird warm. Wie das denn geht, wenn eine nein sagt, fragt der zurück. „Was machste dann, digga?“ Sie sagen wirklich in jedem Satz Digga, manchmal auch am Anfang und am Ende des gleichen Satzes. Wallah sagen sie auch. Und, ja wirklich, „Digga wallah, digga“.

„Wenn eine nein sagt, dann musste aufhören. Auch wenn du dich schlimm fühlst“, sagt einer und die anderen nicken. „Wenn du abblitzt, furchtbar. Darfste aber nicht zeigen. Ist mir passiert, digga. Die Jasmin hat gesagt, dass sie nicht mit mir gehen will, digga. Digga, das war das Schlimmste“, sagt einer. Es ist kurz still und dann sagt einer der anderen: „War sicher furchtbar, digga, aber schlimste war die Flucht zu Fuß aus Afghanistan, wo sie die Mutter vom X erschossen haben.“

Man klopft ihm kurz auf die Schulter. „Mein Vater ist Kurde, digga, wenn der von früher redet, könnt ich heulen“, sagt einer, bevor sie darüber sprechen, wo sie sich bewerben wollen und dann noch, ob jetzt eigtlich jemand anderes die Jasmin fragen kann, ob sie mit ihm gehen will. „Mir egal, digga“, sagt der, der abgeblitzt ist. Und der andere: „Digga, ich nehm ’ne Frau, die versteht, dass  ich mein erstes Gehalt meiner Mutter geb, digga, weil die hat verdient“. Alle nicken, sie zücken die Handys und zeigen sich Musikvideos als wäre nichts gewesen.

Im Alltag

Ich sitze in der Bahn und fahre zu einer Konferenz. Der Fahrgastbefragersucht anscheinend gezielt nach Menschen, die nicht nach Vielfahrer*innen aussehen. Um Erkenntnisse zu gewinnen, wie man den eigenen Service verbessern könnte, fragt man lieber nicht die Expert*innen. Das ist ja nicht nur bei der Bahn so.

Die Skyline von Frankfurt ist von Nebel umgeben, die Enden der Türme sieht man nicht. Auch das ein Bild für den Zustand der Welt. Das Schwere, Graue, Nach- unten-ziehende fällt mir zuerst ins Auge. Die himmelweisenden Spitzen, die Wegweiser zum Licht, die sehe ich oft genug nicht und muss sie mir dazu denken. „Ich will mir meine Hoffnung nicht kleinreden lassen, aber ich muss zugeben, ich bin pessimistischer als früher“ habe ich mir neulich bei einer anderen Konferenz mitgechrieben. I feel you, Redner auf dem Podium, I feel you.

Das schwarze Herz ist in der Liste meiner meistgenutzten Emojis schon das ganze Jahr viel zu weit vorne. Ich nutze die Fahrt zum Erinnern an Menschen, für die ich früher hier ausgestiegen wäre – um zusammen zu arbeiten, einen Kaffee in der Bahnhofshalle zu trinken, sich wenigstens kurz in den Arm zu nehmen. Und ich denke an andere, die aktuell mit Krankheit ringen. Ich versende den Link zum ASB-Wünschewagen, weil da Menschen sind, die im wahrsten Sinn des Wortes letzte Wünsche haben. An anderen Tagen freue ich mich, dass ich einige der Menschen, die solche Wünsche ehrenamtlich in die Tat umsetzen, Kolleg*innen nennen kann. Heute macht die Tatsache, dass ich so viele potentielle Fahrgäst*innen kenne, mein Herz schwer.

Ein Freund schreibt, dass er am Wochenende bei einem Umzug geholfen und noch Muskelkater hat. Ich richte mein neues Mastodon-Wohnzimmer ein und kriege auch Kater; Online-Umzugs-Seelenkater.

Jemand aus meiner angeliebten Familie schickt einen Link zu eMusik, zu der wir im Sommer ausgelassen getanzt haben. Ich kann die Leichtigkeit dieser Abende noch spüren, die Freude über die wildromantischen Sonnenuntergänge und die Möglichkeit, diese Zeit miteinander zu teilen. Und ich denke an das Kinderbuch von Frederick der Maus, die Sonnenstralen und Farben für den Winter einlagert. Wie ich mir wohl etwas von meinem Sommer-Ich bewahren kann?

Überhaupt: Wie geht das mit dem Erinnerungen bewahren? Eie große Frage nicht nur an diesem geschichtsträchtigen 9. November. Wo waren meine Verwandten 1938? Was taten sie? Wie kann ich das herausfinden, wenn niemand rechtzeitig gefragt hat? Was ist aus der Freude von 1989 geworden? Welche Hoffnungen haben sich erfüllt, welche sind unerfüllt geblieben, welche sind laut gestorben und welche leise? Ich schreibe einer Freundin, die im Osten groß geworden ist. Vielleicht können wir ab und an über solche Fragen reden, den Alltag unterbrechen, neue Perspektiven einüben.

Vor dem Fenster ist es Franken geworden. Mein Sitznachbar telefoniert in passender Mundart. Auch die kleinen Zeichen von Vielfalt sehen und schätzen.