Ich werde immer wieder gefragt, warum ich die Bretagne so liebe. Da könnte ich natürlich tausend und eine Geschichten erzählen von der Schönheit der Natur, dem Meer (immer das Meer), den Felsen und dem wirklich außergewöhnlich schönen Wechsel der Gezeiten. Ich könnte schwärmen von architektonischen Highlights, von Granitspitze und Fachwerk, von Leuchttürmen und Inseln, von Kormoranen und Papageientauchern, Seehunden und Delphinen. Ich könnte erzählen von Legenden und Märchen, von Traditionen und modernen Brüchen derselben. Und das tue ich ja in der Regel auch.
Aber solche naturgegebenen und menschengemachten Schönheiten gibt es ja auch andernorts. Und natürlich gibt es auch andere Orte, an denen ich dieses „schockverliebt“-Gefühl schon gespürt habe, das ich hatte, als ich zum ersten Mal das Schild „Bienvenue en Bretagne“ am Straßenrand gesehen habe. Was die Bretagne für mich so besonders macht, sind die Menschen, denen ich dort begegnet bin. Menschen, die einem nicht nur offen begegenen, weil man als Touristin Geld mitbringt. Sondern Menschen, mit denen sich echte Gespräche ergeben haben. Die von ihrem Leben erzählen und mir einen Einblick gegeben haben, in das, was es heißt, am „Ende der Welt“ zu leben. Im Laufe der Jahr habe ich zahlreiche solche Begegnungen gehabt. Eine davon war in einer Buchhandlung in Bécherel.
Ich habe meine Magisterarbeit über Henri Queffélec geschrieben und habe dafür einige Wochen in der Bretagne recherchiert. Da es nicht alle Bücher, die ich gerne gelesen hätte, in der Unibibliothek in Rennes und auch nicht mehr im Buchhandel zu kaufen gab, habe ich versucht, sie antiquarisch zu bekommen. Und wo geht das wohl besser als eben in der Bücherstadt Bécherel. Dort reiht sich Buchhandlung an Buchhandlung, Antiquariat an Antiquariat. Und überall stehen die größten und nettesten Bücherwürmer der Welt hinter den Verkaufstresen, servieren den stöbernden Gästen Kaffee oder Tee, empfehlen das zum jeweiligen Literaturgeschmack passende Teilchen vom nahegelegenen Bäcker und sind auch ansonsten gerne zum Plaudern aufgelegt.
In einem der Läden fing der Besitzer von innen heraus zu strahlen an, als ich ihn nach Büchern vom „Grand Keff“ fragte. Und wollte sofort mehr darüber wissen, warum ich danach auf der Suche war. Also erzählte ich ein wenig von der geplanten Arbeit, davon, was ich schon gelesen hatte und wir kamen ins Diskutieren, welcher von Queffélecs Romanen der beste sei und welche ich unbedingt noch lesen müsste. Schließlich kletterte der ältere Herr auf eine Leiter, stieg in den Keller hinab und stöberte auch sonst noch eine Weile herum, um schließlich mit drei Büchern zurückzukommen. Zwei wollte er mir auch gerne verkaufen, das dritte war aber eines aus seiner privaten Sammlung und unverkäuflich. Henri Queffélec hatte es nach einer Lesung in der Buchhandlung ausführlich und sehr persönlich signiert. Und als ich endlich verstanden hatte, dass der nette Herr „meinen“ Autor persönlich kennengelernt hatte, brühte er noch einen Kaffee auf, ich packte meinen Block aus und machte mir eifrig Notizen für das Biografie-Kapitel meiner Arbeit.
Irgendwann musste ich dann aber zusammenpacken, um den letzten Bus zurück nach Rennes nicht zu verpassen. Und da fragt doch der freundliche Ladenbesitzer, an welcher Uni ich eigentlich studiere. Meine Antwort – Freiburg im Breisgau – konnte er kaum glauben. Wie ich das denn mache, wenn ich täglich aus Frankreich dorthin fahren müsse. Oder ob ich während des Semesters eine Wohung dort hätte? Ich verstand ihn erst gar nicht, aber schließlich kam doch bei mir an, dass er nicht mitbekommen hatte, dass ich gar keine Französin, sondern Deutsche bin. Meinen Akzent hatte er für elsässisch und meine Grammatikfehler für das übliche mangelnde Sprachgefühl der „Jugend von heute“ gehalten.
Ich erinnere mich noch genau an die plötzliche Stille, die das fröhliche Geplauder der vergangenen Stunden so jäh unterbrach. An das tiefe Luftholen meines Gegenübers, an sein Zögern, bevor er mir sagte, dass er gar nicht mit mir gesprochen hätte, wenn er gewusst hätte, dass ich Deutsche bin. Im Krieg hatte er viele Familienmitglieder verloren und bewusst hatte er noch nie ein Gespräch mit jemandem aus Deutschland geführt und eigentlich hatte er das auch nicht mehr ändern wollen.
Ich weiß nicht, wer von uns beiden überraschter war, dass es diesen Nachmittag mit intensiven Gesprächen, geteilten Erinnerungen und Hoffnungen, die Stunden mit intellektuellem Streit über die Qualität von Büchern, mit Lachen und Kaffeetrinken unter diesen Umständen gegeben hatte. Gerade als ich mich wortreich entschuldigen wollte, dafür, dass ich ihn unbewusst zu etwas gebracht hatte, was er so sehr ablehnte und was schmerzhafte Erinnerungen in ihm weckte, nahm er mich am Ellbogen, gab mir ein Küsschen rechts und links und noch eines rechts und wieder links und wünschte mir viel Glück für meine Arbeit. Ich solle mir keine Gedanken machen, er habe in seinem Alter ganz überraschend noch etwas dazugelernt. Und ich solle auf keinen Fall den Bus verpassen. Ich habe ihm am Ende ein Exemplar meiner Arbeit geschickt – in der er natürlich dankend zitiert wurde – und eine kleine Postkarte mit nur einem Satz zurückbekommen: Danke für den Nachmittag.
Es sind solche Momente und Begegnungen, solche Menschen, die mir das Gefühl geben, in der Bretagne immer auch ein Stück meines Herzens zurückzulassen wenn ich wegfahre und es bei jedem neuen Besuch wiederzufinden.