Archiv für den Monat: November 2024

Wie skaliert man Menschlichkeit? (aus traurig aktuellem Anlass)

Auch wer weder jüdisch noch christlich aufgewachsen ist, kennt vermutlich die sprichwörtliche babylonische Sprachverwirrung. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel, an deren Ende die Menschen sich nicht mehr verstehen können, weil jede:r eine andere Sprache spricht.

Ich habe neulich mal wieder festgestellt, dass das mit dem Nicht-Verstehen gar nicht unbedingt an der Sprache liegen muss. Ich saß mit fünf anderen Frauen an einem Tisch. Wir hatten keine gemeinsame Sprache, also keine Sprache, die wir alle beherrscht hätten. Zwei sprachen Slowakisch, eine Koreanisch, zwei Deutsch und eine Hindi als Muttersprache. Manche sprachen italienisch, andere spanisch, wieder andere englisch und mache der Sprachen verstand die eine oder andere, solange die anderen langsam sprachen.

Und wir hatten alle Hände und Füße und gute Laune. Mehr brauchte es nicht, um einen wunderbaren Abend zu verbringen. Wir haben viel voneinander erfahren – von unseren aktuellen Lebensabschnitten, von dem, was uns bewegt, was wir erhoffen, wovon wir träumen. Da war nicht nur Small Talk, wir wurden ganz schnell wesentlich. Wir kannten uns teilweise vorher, teilweise „nur“ online. Aber trotz des Sprachwirrwarrs habe ich keinen Graben wahrgenommen.

Ich habe diesen Abend, diese Tage sehr genossen. Und ich habe darüber nachgedacht, warum das so gut funktioniert hat. Mit Sicherheit hatte einen wichtigen Anteil, dass wir nicht einfach zufällig zusammenfanden, sondern alle zur Mary-Ward-Familie gehören. Wir lassen uns inspirieren vom Vorbild dieser Frau im 17. Jahrhundert, die neue Wege ging, wo vorher keine waren. Die Grenzen überwand und andere damit ansteckte. Die Solidarität lebte und erfuhr. Und wir wollen das auch.

Ein weiterer wichtiger Grund war sicher, dass dies für uns alle nicht unsere erste internationale Erfahrung war. Wir hatten schon erlebt, dass Sprachbarrieren fallen oder überwunden werden können. Wir alle kannten und kennen das Gefühl, dass Erinnerungen nicht nur visuell sondern auch mit Worten und Sprachen gespeichert werden und unser Herz wärmen können. Wir haben uns getraut – und den anderen ohne Nachdenken zugemutet – zu sagen, wenn wir nicht mehr mitkamen, etwas Wichtiges verpasst hatten. Dann übersetzte eine andere in eine Sprache, die die Fragende verstand. Wir haben im Notfall mit den Händen erklärt und im Zweifel mit dem Herzen gesprochen. Und wir haben viel gelacht – trotz manch schwerer Themen.

Wir waren zudem alle für Technologie offen. Wenn wir irgendwo absolut stecken blieben, war es völlig OK, dass wir das Smartphone zückten und eine für unsere Sprache besonders geeignete App befragten. Das führte nicht zu wilden Diskussionen und grundsätzlicher Ablehnung, sondern war einfach ein Hilfsmittel, Punkt.

Vor allem aber war da eine Art stilles Einverständnis, dass wir wollten, dass unser Austausch gelingt. Es stand gar nicht infrage, dass unsere Neugier aufeinander, unser Wunsch, mehr voneinander zu erfahren, unsere Bereitschaft, Freundschaft entstehen und wachsen zu lassen, größer war als die sprachlichen und kulturellen Differenzen. Da saßen Menschen zusammen, die alle die Grundüberzeugung mitbrachten, dass Verständigung möglich ist, dass Konflikte gelöst werden können, dass Freundschaft – egal wie schwer sie errungen wird – immer weiter trägt als Feindschaft und Konkurrenz. Scheitern wir, die wir da saßen, immer wieder an diesem Anspruch? Na klar. Das hält uns aber nicht davon ab, es immer wieder neu zu versuchen.

Mein Herz hüpft bei solchen Begegnungen, weil eben so viel mehr möglich ist, als die aktuelle Welt- und Nachrichtenlage vermuten lässt.

Eine Frage aber bleibt: Wie lässt sich diese Art der Verständigung, des Einverständnisses, der Solidarität und Zugewandtheit skalieren? Was kann ich dazu beitragen, dass diese Möglichkeit nicht in meinem kleinen, privaten Rahmen bleibt, sondern in die Geschichtsbücher wandert? Auf der Arbeit würde ich fragen: Wie lässt sich diese Erfahrung skalieren? Wie kann aus vielen kleinen Barrieren-überwinden-„StartUps“ eine globale Marktmacht werden? Damit nicht nur die brutale Realität des Unverständnis überliefert wird und überlebt, sondern eine Wirklichkeit, in der Menschen einander die Hände halten, Tränen trocknen, Kälte wegwärmen, Freundschaften pflegen und Herzen. Egal in welcher Sprache.

Zug, Zug, Zug, die Eisenbahn …

„Lassen Sie das lieber bleiben“ sagt die Frau am DB-Schalter. Ich habe vor, mit dem Zug vom rheinischen Vorgebirge ins Urola-Tal mitten in den baskischen Bergen zu fahren. Ein Interrail Ticket (ja, das gibt es auch für Erwachsene) habe ich bereits, aber beim Buchen der passenden Verbindungen stoße ich auf den Hinweis, dass zwischen Irún und San Sebastián Schienenersatzverkehr herrsche und man sich an die Bahngesellschaft des Ausgangspunkts wenden soll, um entsprechende Reservierungen über deren System buchen zu lassen.

Ich frage also bei der Deutschen Bahn und schaue in erstaunte Augen. Ja, tatsächlich, die Dame mit den zahlreichen grauen Haaren und dem bürgerlichen Aussehen will einmal mit dem Rucksack durch halb Europa fahren. Und das auch noch einigermaßen kurzfristig. Nur 6 Wochen Vorlauf habe ich – denn die Anfrage, ob ich nach Loyola kommen möchte, kam einigermaßen überraschend. „Da kriegen Sie doch jetzt sowieso keine Plätze mehr“, werde ich informiert. Außerdem findet die Software der Bahn meinen Zielort nicht (die DB-Navigator-App zeigt ihn mir aber an). Da sei ein sicheres Ankommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln doch mehr als fraglich, höre ich. Und: „Nehmen Sie doch ein Flugzeug. Das ist sicher einfacher.“ Vermutlich hat die DB-Mitarbeiterin recht, denke ich, auch wenn es Direktflüge nach Bilbao nur ab Orten gibt, wo ich aufwändig mit der Deutschen Bahn hinfahren müsste (das größte Risiko, auf der Reise stecken zu bleiben) oder ich fliege von quasi vor der Haustür erstmal 2 Stunden gen Norden, warte dort lange am Flughafen und dann weiter nach Spanien. Auch nicht sehr verlockend.

Je mehr die Bahn-Dame mir die Zugfahrt ausreden will, desto sturer werde ich. Jetzt erst recht, sagt mein Kopf und mein Herz nickt begeistert. In diesem Moment fühle ich mich abenteuerlich und ein wenig verrückt. Auch mal schön.

Ich lade mir also die Interrail-App herunter, suche passende Züge aus, mache die notwendigen Reservierungen für den Eurostar und den TGV für Hin- und Rückfahrt und vertraue auf meine Sprachkenntnisse, um mit dem spanischen Schienenersatzverkehr irgendwie klar zu kommen. Auf dem Papier (ok, auf dem digitalen Papier meiner App), sieht das alles ganz einfach aus: Mit der Regionalbahn nach Köln, mit dem Eurostar nach Paris, dort mit der Métro von der Gare du Nord zur Gare de Montparnasse, dann mit dem TGV nach Hendaye, von da nach San Sebastián und das letzte Stück mit dem Bus nach Loyola. Ich möchte gerne an Allerheiligen ankommen. An Feiertagen nimmt der Eurostar aber keine Interrail-Reisenden mit, also fahre ich am Vorabend und übernachte in Paris, ein paar Schritte von der Gare de Montparnasse entfernt. So weit, so gut.

Passend zu Halloween fängt die Fahrt gruselig an: Der Eurostar meldet, dass er nicht ab Köln, sondern erst ab Brüssel fährt. Um irgendwie nach Brüssel zu kommen, muss ich in dem Moment, in dem die Meldung bei mir ankommt, quasi direkt in die Schuhe schlüpfen, den Rucksack schultern (gut, dass er fertig gepackt bereit steht), die Handtasche mit Portemonnaie und Sonenbrllle schnappen und mit schnellen Schritten zum Bahnhof im Heimatdorf laufen. Ich bekomme zum Glück nach wenigen Minuten eine verspätete Regionalbahn nach Köln. Ich spurte auf Gleis 6 und springe in den ICE nach Brüssel – fast zwei Stunden vor der geplanten entspannten Abfahrt, aber immerhin im Zug.

Der ist erwartungsgemäß total überfüllt. Ich stehe also und lache gemeinsam mit den umstehenden Reisenden über die Durchsage, dass in den Wagen 21 bis 23 etwas mehr Platz in den Fluren sei als im Rest des Zuges. Vor Aachen halten wir außerplanmäßig. Personen im Gleis. Bundespolizei ist informiert. Ein paar Leute steigen aus zum Rauchen. Irgendwann pfeift jemand und es geht weiter. In Aachen geht dem Bordbistro das Wasser aus, für quengelnde Kinder gibt es aber Kinderfahrkarten und supergeduldige Mitarbeiter:innen – die sind an diesem Nachmittag wirklich großartig.

Irgendwann erreichen wir Brüssel. Ich sehe auf der Anzeige, dass ich dort tatsächlich einen früheren Eurostar nach Paris bekommen könnte – der kommt verspätet aus London. Ich frage beim Schalter nach. Der freundliche Herr wundert sich überhaupt nicht. Interrail-Passagiere habe er hier häufig. Er findet direkt die gewünschte Auskunft – dass im früheren Zug zwar Plätze frei seien, aber keine mehr für Interrail-Reisende. Umbuchen daher nicht möglich. Wenn ich trotzdem in den Zug hüpfen möchte, könnte ich den Aufpreis der Reservierung zum Preis der regulären Fahrt zahlen. Ein nettes Angebot, aber ich verzichte, setze mich in den Wartebereich, beobachte das bunte Bahnhofstreiben und freue mich am leckeren Duft der belgischen Pralinen aus dem Shop nebenan.

Der Eurostar steht überpünktlich am Gleis bereit. „Wir kommen ja nicht aus Deutschland“ witzelt die Zugbegleiterin, die beim Einsteigen unsere Tickets kontrolliert. Ich komme pünktlich in Paris an, kaufe mir ein Métro-Ticket und als ich zum Bahnsteig komme, fährt passend die Bahn ein. Darin gibt es viele aufwendig geschminkte Gespenster, Piratinnen und Hexen, die Herren, die dabei stehen, tragen Einheitslook: dunkle Jeans, helles Hemd, Lederjacke oder Teddymantel. Nur einer hat eine Narbe über die Wange geschminkt. Die große Halloweenparty scheint irgendwo bei Les Halles zu steigen, denn dort strömen die Gruselgestalten laut schnatternd aus der Bahn.

Im Hotel bekomme ich die Karte zu meinem Zimmer, die Dusche ist herrlich, ich stelle einen frühen Wecker und falle ins Bett. Am nächsten Morgen nutze ich die Kaffeemaschine im Zimmer, laufe zum Bahnhof, besteige den pünktlichen TGV nach Hendaye, trinke einen weiteren Kaffee an Bord, frühstücke ein Brioche und Äpfel von zu Hause, schlafe eine Runde und wache kurz vor Bordeaux wieder auf. „Reisen Sie schneller und verschmutzen Sie die Umwelt weniger“ zeigt der Bildschirm im Waggon freundlich an, bevor er auf Wickelräume, Defibrillator und das aktuelle Gericht des Monats im Bordbistro hinweist.

Der Nebel hat sich verzogen, die Sonne scheint und ich schaue die nächsten zwei Stunden einfach aus dem Fenster. Ab Biarritz wünscht die freundliche Zugchefin allen, die aussteigen, schöne Ferien und gute Erholung. Kurz vor Hendaye sagt sie an, wie Reisende nach Spanien den Schienenersatzverkehr und seine Tücken umgehen und schnell am Ziel ankommen können. Das Geheimnis heißt Straßenbahn und fährt nur wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt ab. Klar, hier gilt mein Interrail-Pass nicht, aber die zusätzlichen 2,75 Euro bis San Sebastián kann ich gut verschmerzen.

Google Maps bringt mich und meinen Rucksack sicher durch die spanische Hafenstadt, ich mache eine gemütliche Mittagspause im Schatten am Wasser, verspeise mein letztes Reisebrot und steige in den nächsten Bus nach Loyola. Beim Einsteigen treffe ich drei Teilnehmerinnen der Konferenz, zu der ich fahre. Sie kommen aus Brasilien, Chile und Argentinien und sind in etwa genauso lang unterwegs wie ich. Wir freuen uns über den Busfahrer, der baskische Rockmusik mitpfeift und irgendwann zu ABBA wechselt und laut mitsingt. Er erklärt uns den Weg von der Bushaltestelle zum Tagungshaus und hilft beim Ausladen des Gepäcks.

Tldr: Was sich unheimlich abenteuerlich anhörte, entpuppte sich – sobald die DB ihren Job getan hatte – als völlig durchschnittliche, dafür aber herrlich entspannte Reise. Ich freu mich jetzt schon auf die Rückfahrt.