Es ist Tag 31 des Kriegs gegen die Ukraine, in der Ukraine. Noch immer fällt das geschriebene Wort mir schwer. Gleichzeitig schätze ich meinen Alltag mit all seinen kleinen Belanglosigkeiten und Selbstverständlichkeiten so innig wie schon sehr lange nicht mehr und notiere mir ein paar unverbundene Bemerknisse aus diesem Alltag.
Beim Facharzt möchte ich nur ein Rezept abholen. Im Treppenhaus gibt es eine Warteschlange. Zu voll sei es drinnen, daher müsse man draußen warten – egal ob auf einen Termin oder ein Rezept, teilen mit die vor mir Wartenden mit. Ich stehe also über eine halbe Stundein einem fensterlosen, schlecht beleuchteten und natürlich nicht belüfteten Treppenhaus dicht an dicht mit einer immer größer werdenden Menge von Wartenden, immerhin alle mit Maske. Als ich dran bin, trete ich einzeln in die Praxis ein. Im doch komfortabel großen Foyer mit der Anmeldung (und mit Fenster zum Lüften) sitzt mir eine Mitarbeiterin hinter einer kleinen Plexiglasscheibe gegenüber, die OP-Maske träge sie als Ohrring. „Entschuldigen Sie die lange Wartezeit, wir tun hier unser Bestes, um eine Ansteckung in den Praxisräumen zu vermeiden“. Ich denke an Picards epische Double-Facepalm und daran, das jemand auf YouTube eine zehnstündige Dauerschleife davon gebaut hat. Dann geht es fast wieder.
Schwestern der Ordensgemeinschaft, der ich mich als Laiin und Gefährtin verbunden fühle, schicken Nachrichten aus Kyiv und Ushhorod, von der Grenze in der Slowakei und in Ungarn. Sie bedanken sich für unser Gebet und alle Hilfe und berichten in schlichten Worten von dem, was sie tun. Die unermüdliche Hilfe, die sie so ganz selbstverständlich leisten – mit hochgekrempelten Ärmeln und dem, was eine australische Schwester kürzlich „bold humility“ nannte, Bescheidenheit, aber in ihrer kühnsten Ausprägung; dieser Einsatz rührt mich an.
Auch die Tatkraft meiner ASB-Kolleg*innen rührt mein Herz. Mit einem Kollegen, den ich schon bei der Impfkampagne digital unterstützt habe, verlängere ich unser Abkommen: Für alles, was schief gegangen sein wird, für alle kurzfristigen Arbeitsaufträge nach Feierabend, für die fehlende Anerkennung für das, was der oder die andere außer der Reihe getan hat, werden wir uns entschuldigen. Aufrichtig. Hinterher. „Dass wir den Pakt verlängern, bevor wir auf das Ende des ersten anstoßen konnten, ist ja nicht optimal. Aber was können wir denn anderes tun als helfen“ sagt der Kollege. <3
Für einen unserer Spaziergänge (zählt das eigentlich immer noch als Trendsportart oder haben die Querdenker den Begriff für alle Zeit zerstört?) wählen der Lieblingsmensch und ich einen Rundweg um kleine Seen in der Umgebung. Ein Erdrutsch beim Hochwasser im letzten Sommer hatte dort ziemlichen Schaden angerichtet. Längst kann man den Rundweg wieder gehen – mit einigen Umwegen und kleinen Klettereien über Wurzeln und Steine. Aber die klaffenden Lücken im Hang sind noch da. Dafür gibt es jetzt an einem der Seen einen kleinen Strand – da, wo der Hang hineingerutscht ist. Wie nah Leid und (in diesem Fall: nahende Sommer-Bade-) Freude beieinanderliegen.
Eine Dienstreise führt mich in den Norden. Auf der Hinfahrt im Zug helfe ich bei der Koordination von Hilfe für eine neue Notunterkunft. Wir hinken hier im Lande so sehr hinterher bei digitaler Infrastruktur und allein schon beim Verständnis dessen, was das alles sein könnte. Aber was ich da vom Zug aus regeln konnte, wäre vor 2 Jahren noch nicht möglich gewesen. Ich freue mich über die kleinen Fortschritte – und wundere mich über meine Milde. Zu dringlich ist es, dass hier strukturell endlich mehr passiert, dass Bewusstseinswandel nicht nur gefordert, sondern auch Maßnahmen zu seiner Durchsetzung angegangen werden. Ist die Freude am Reisen der Grund? Oder die neue Wertschätzung für meinen Alltag (den die Menschen in Kyiv und Charkiv, in Mariupol und Chernivtsi und Lviv und Odessa und … vor 32 Tagen ja auch noch gelebt haben)? Ich will mir merken: Die kleinen Fortschritte sehen und davon berichten kann vielleicht andere unterstützen auf ihren Wegen hin zu einer menschenfreundlichen, menschengerechten, menschenunterstützenden Digitalisierung. Zumindest im Kleinen.
Ich wurde zur Wahlhelferin bei der Landtagswahl ernannt, genauer gesagt zur Schriftführerin, und kann die notwendigen Formulare per Mail zurücksenden. (Nachdem ich sie vorher ausgedruckt, per Hand unterschrieben und dann eingescannt habe.) Eine ehemalige Studienfreundin in Frankreich lacht mich aus – gibt es dafür bei euch kein Onlineportal? Meine neue Milde bringt mich doch tatsächlich dazu, diesen E-Mail-Quatsch -Unsinn -Vorgang als Fortschritt zu verteidigen; aber dann lachen wir doch zusammen darüber und sie freut sich, dass ihr mein Bericht Gelegenheit gibt, ein Vorurteil zu revidieren („Ich dachte, in Deutschland seid ihr bei digitaler Bürokratie viel weiter vorne als wir“).
Eine Bekannte schickt Fotos von der großen Fridays for Future-Demo in Bonn, eine andere postet Fotos aus Afghanistan, wo sie lange gearbeitet hat und wo Frauen mutig dafür kämpfen, dass sie und ihre Töchter weiterhin Bildung bekommen. Per DM wünsche ich einem Freund im Nordirak ein frohes Nevroz. Eine ehemalige Kollegin schickt ein Update aus dem Trockengürtel in Mittelamerika, wohin ich einst eine Journalistenreise zu den Folgen des Klimawandels begleitet habe. Eine Kerze brennt während einer Krebs-OP eines lieben Menschen, eine Freundin wird Tante und ich bewundere die Nichtenfotos. Ich kaufe für einen Freund in Isolation ein und erkundige mich nach dem Befinden von immer mehr positiv getesteten Menschen im Bekanntenkreis. Ich freue mich über unheimlich viele, liebe Geburtstaggrüße, über eine Tasse, die die Welt beschimpft, eine Geburtstagsgirlande und noch immer jeden Tag über die Kaffeemaschine, die der Lieblingsmensch und ich uns gegenseitig zu Weihnachten geschenkt haben. Freund*innen mit Kindern berichten vom Irrsinn an Schulen in Zeiten einer Pandemie, bei dem auch nach zwei Jahren kein Fortschritt zum Guten zu erkennen ist. Habe ich sie früher nur einfach nicht so extrem wahrgenommen, die Gleichzeitigkeit all dieser Realitäten? Oder hat die „neue Normalität“ meinen Fokus dafür geschärft?
An einer unserer Wände hängt nun eine Gezeitenuhr, die mir anzeigt, wie hoch das Wasser gerade an meinem Lieblingsende der Welt steht. Eine liebevolle Aufmerksamkeit eines Freundes, ein ganz unerwartetes Geschenk. Wenn ich von Videokonferenzen im Homeoffice aufschaue, sehe ich nun auf die Gezeitenuhr – und kann den Blick weiten von meiner kleinen Welt auf das Größere, das Meer, das Mehr. Sie hängt da erst seit ein paar Stunden und schon jetzt macht mich das froh – und demütig. Ich hoffe, dass es diese kühne, mutige, ein wenig kecke, aber immer klare und deutliche Art von Demut ist. Die, die Mary-Ward-Frauen auszeichnet.