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Erinnerungen einer starken Frau

Zwei Jahre hatte sie schon im Stall gearbeitet. Der Vater im Krieg vermisst, der Bruder noch ein kleines Kind. Zwei Jahre hatte sie Geld dazu verdient. Nicht viel, aber immerhin genug, damit es mit dem Lohn der Mutter zum Überleben reichte. Nach der Flucht aus Schlesien war ihnen nichts geblieben als die Kraft ihrer Hände. Und dann gab es da diesen Kurs für Jugendliche, die die Schule nicht hatten abschließen können. Und die Empfehlung der Lehrerin, sie solle doch den Realschulabschluss nachholen.

Ob ich das noch kann? Lernen? Ich bin doch schon zwei Jahre weg von der Schule und davor war es auch oft schwierig, im Krieg. Hatte sie gedacht und laut gesagt. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich niemals ein Internat hätte leisten können. Doch die Lehrerin hatte der Mutter und ihr immer wieder Mut gemacht, sich anzumelden in der bayerischen Schule. Doch die Post brachte keine Antwort auf die Anmeldung und so ging sie weiter auf den Bauernhof als Magd. Bis dann im Herbst ein Brief kam, wo sie denn bleibe, die Schule habe längst begonnen.

Der alte Holzkoffer wurde gepackt, mit dem letzten Bargeld eine Fahrkarte gekauft und eine kinderlose Tante versprach, die monatlichen Pensionsgebühren zu übernehmen. Und dann kam sie spät am Abend in der Kleinstadt an, weit weg vom hessischen Dorf, das ihr mittlerweile so etwas wie Heimat geworden war. 17 Jahre war sie, viel älter als die Klassenkameradinnen.

In der ersten Nacht – ich war ja noch nie in einem Schlafsaal – hatten sich die Mädchen schlafend gestellt, als die Leiterin sie in den Raum führte und ihr flüsternd zeigte, welches ihr Bett sei. Kaum war die Tür zu, da ging das Geschnatter los und ich wurde eingeführt in die Eigenheiten des Hauses. Sie bekam noch im hohen Alter Lachfältchen um die Augen, wenn sie sich daran erinnerte.

Am ersten Tag dann eine Lehrerin, die sie vorführte: Buchhaltung sollte sie an der Tafel vorrechnen. Davon hatte sie noch nie etwas gehört. So hart waren die Worte, dass sie weinend auf dem Bett saß. Ich hatte ja alles Geld für die Fahrkarte ausgegeben. Wenn ich nur genug gehabt hätte, wäre ich gleich zurückgefahren, so entmutigt war ich. Aber sie wurde getröstet von den jungen Mädchen – und bei der Lehrerin verteidigt von der Direktorin. Ich sollte dann mit einem Heft zu ihr gehen, am Nachmittag. Und dann hat sie mir stundenlang beigebracht, was ich nicht konnte.

Am Ende machte sie den Abschluss als eine der besten. Und sollte aufs Gymnasium gehen. Doch Latein hatte sie nicht gelernt und hätte in der unteren Mittelstufe wieder anfangen sollen. Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich war ja schon fast großjährig und musste auch Geld verdienen. Zwar wussten sie mittlerweile, dass der Vater überlebt hatte und nach Hause kommen würde, aber für ihren Lebensunterhalt wollte und musste sie selbst sorgen. Und so ging sie zur Lehrerinnenakademie und wurde Volksschullehrerin.

Aber das war ja ein bayerisches Diplom und ich konnte nicht zurück nach Hessen, denn da war das nichts wert. Also bewarb sie sich als Lehrerin „bei den Englischen“, diesem Orden voller Frauen, die ihr imponiert hatten. Als Lehrerinnen ihrer Schule, als Pförtnerin, Näherin, Köchin, Betreuerin im Internat. Und als Mitschülerinnen bei der Lehrerinnenausbildung. Eine kam immer mit so einem alten Motorrad über die Autobahn zur Schule gerutscht, das hat mir imponiert. Eine andere ging in Zivil, in einem schlichten Kostüm und sogar die Männer hörten auf zu reden, wenn sie etwas zu sagen hatte. Die lachten und arbeiteten und beteten und lebten. Hatten ein offenes Ohr und offene Herzen für die Schülerinnen. Glaubten daran, dass die Mädchen mehr konnten als putzen und waschen, dass sie etwas lernen und etwas werden könnten. Das hat mir gefallen, da wollte ich unterrichten – und schauen, ob ich da nicht vielleicht ganz hingehöre.

Aus dem vielleicht wurde ein überzeugtes Ja. Rund 70 Jahre gehörte sie schließlich ganz dorthin. Hat Generationen von Schülerinnen ausgebildet – erst in der Volksschule, nach einer Weiterbildung dann auch in der Mittelschule. Englisch hätte sie gern unterrichtet, das sprach sie gut, mochte die Grammatik und die Literatur. Aber dafür hätte sie zur Ausbildung nach England gehen müssen. Also Deutsch und Musik. Fächer, die den meisten erstmal nicht so gefielen, die sie ihnen mit Leidenschaft zu vermitteln versuchte, mit zusammen singen und diskutieren über Geschichten und Gedichte. Manche der Schülerinnen aus den zahlreichen Jahren schrieben ihr bis zum Ende, andere besuchten sie regelmäßig, erzählten von Klassentreffen, was aus den anderen alles geworden ist. Viele starke Frauen sind darunter. Dass am Ende aus einer schwierigen, verworrenen Situation etwas Gutes geworden ist, das machte sie glücklich.

Und mich, dass sie mir ihre Geschichte einst beim Frühstück erzählte. Ich schrieb sie damals schon auf und teile ihre Erinnerungen nun, da sie bei dem ist, dem ihre größte Sehnsucht galt.

Vier Jahre Erinnerung

Vier Jahre lang. Woche für Woche für Woche. Vom 28. Juli 2014 bis zum 11. November 2018 gab es diese Rubrik im Gemeinde-Infoblatt von Kerlouan. „Commémoration du centenaire de la guerre 14-18“.

Vier lange Jahre erinnerte die Gemeinde Woche für Woche an den Krieg, den Verlauf der Frontlinien in der jeweiligen Woche vor 100 Jahren. Beschrieb wichtige politische Entscheidungen, relevante Truppenbewegungen, große und kleine Randnotizen von der Front und dem, was sie für die Menschen in Frankreich, in der Bretagne, im Finistère, in dem Dorf am Ende der Welt bedeuteten. Und sie gedachte der Toten aus Kerlouan. Erinnerte an die jungen und alten Männer, Fischer und Bauern, Handwerker und Arbeiter. An den Mittzwanziger aus der Straße an der Kirche, den Endvierziger, der in der Nähe der Metzgerei gewohnt hatte. An den Sohn der Witwe in der Avenue …, die nun nach Mann und Bruder schon den dritten Verlust zu betrauern hatte.

Sachlich wurde da berichtet. In weniger Sätzen zusammengefasst, was weltpolitisch passierte und wie es die Menschen am Ende der Welt betraf. Fast schon lakonisch stand da, wie der große Krieg in die kleine Welt am Ende des Endes der Welt einbrach. La Der des Ders –  la dernière des dernières (guerres) -, wurde der Krieg später genannt. Der letzte der letzten Kriege sollte es gewesen sein, der weite Teile Frankreichs vernichtete. Dass er nicht der letzte war, dieser Krieg, den die Franzosen aufgrund der Verwüstungen auf ihrem Territorium bis heute die „grande guerre“ nennen, dass da mehr und Schlimmeres bevorstand, das mochte sich damals niemand vorstellen.

Noch heute gibt es in Frankreich Zones rouges, die nicht betreten werden können. Der Krieg, der die Männer aus dem Finistère und aus allen anderen Regionen holte und auf dem Schlachtfeld vernichtete. Etwa 240.000 Männer aus der Bretagne sind gefallen, jeder vierte, der in den Krieg zog – überdurchschnittlich viele (im Durchschnitt starb jeder achte französische Soldat). Viele von ihnen konnten kaum oder kein Französisch, und seien es die Sprachprobleme, oder die Vorurteile oder noch viel komplexere Ursachen, die dafür sorgten, dass es die Fischer, die Bauern, die Handwerker und Arbeiter aus der Bretagne waren, die besonders oft in die ersten, aussichtslosen Reihen und Schützengräben geschickt wurden, es waren viele, die nicht zurückkamen und kaum eine Woche vergeht, in der das kleine Gemeindeblatt nicht vom Sterben eines Sohnes, eines Ehemanns, eines Vaters und Großvaters aus der Kommune zu berichten hat.

Vier lange Jahre stehen die kleinen Meldungen inmitten von Hinweisen zum Umgang mit der asiatischen Hornisse, zu Ausschreibungen von Flurstücken, zur Reparatur von Wasserleitungen, zu Sonnenbrillen und Autoschlüsseln, die im Fundbüro abgegeben wurden. Sie stehen neben den Anzeigen des Traiteur und der verschiedenen Coiffeurs, über den Hinweisen der Sportvereine und der Restos du coeur.

Der Krieg, auch er hat stattgefunden, während das Leben andernorts weiterging. Manchen brachte der Krieg sich auch vor 100 Jahren so in Erinnerung wie uns, wenn wir in den vergangenen Jahren als Touristen einige Wochen in der kleinen Gemeinde verbrachten und freitags das Infoblatt auf der Post mitnahmen, um ein wenig mitzubekommen, was die Menschen um uns herum bewegt (und wann es sich besonders lohnt, nicht selbst zu kochen, sondern beim Traiteur einzukaufen). Man hörte hin und wieder Nachrichten, erfuhr von Gräueln und dem Hin und Her der Front. Doch man lebte weiter.

Anderen rief der Krieg sich ganz anders in Erinnerung. Durch Gewalt und Schlachten, durch Flucht und Vertreibung, durch den Tod geliebter Menschen, durch Verletzung und Verstümmelung, durch …

Vier lange Jahre dauerte der Krieg. Und gab es zum 100. Geburtstag seines Anfangs unzählige Artikel, Buchveröffentlichungen und Veranstaltungen, geht sein Ende deutlich ruhiger vonstatten (natürlich gibt es das große Gedenken in Paris und … – und doch ist es ruhiger.

Dabei lohnt es sich, auch das Ende des Krieges zu betrachten. Innezuhalten und zu sehen, was es bedeutet, wenn die Waffen schweigen.

Clémenceau scheint davon geahnt zu haben, als er in der Stunde der Verkündung des Sieges nicht nur den Gefallenen dankte, sondern auch – im Voraus – den Überlebenden, die nun vor der Mammutaufgabe des Wiederaufbaus standen.

Was geschah nach dem Hissen der Trikolore und dem Läuten der Glocke. Das kleine Bulletin vermerkt:

Lundi 11 novembre : à 2h, du matin, les délégués allemands font savoir au maréchal Foch qu’ils sont à sa disposition. La séance s’ouvre aussitôt. La convention est relue et discutée article par article. A 5h, les signatures sont apposées sans qu’aucune modification importante ait été apportée. Il a été convenu que les hostilités cesseraient à 11h de la même matinée. Plus tard, il arrivera aux allemands de prétendre que seule la menace de révolution intérieure les a obligés à capituler et que leurs troupes ont été « poignardées dans le dos ». Ce ne furent pas les révolutionnaires de l’intérieur qui eurent finalement raison des armées du Reich,
ce fut le courage, l’opiniâtreté des soldats alliés ; ce fut aussi l’esprit de sacrifice des marins chargés d’assurer le blocus ; ce fut enfin le génie militaire du maréchal Foch.
[…]

… Später gaben die Deutschen vor, dass allein die Bedrohung einer Revolution von innen sie gezwungen habe zu kapitulieren und dass ihre Truppen ‚von hinten erdolcht worden seien‘. Doch es waren nicht Revolutionäre aus den eigenen Reihen, die die Armeen des Deutschen Reichs besiegten, es war der Mut, die Beharrlichkeit der alliierten Soldaten; es war auch der Opfergeist der Marinesoldaten, die die Seeblockade aufrecht erhalten haben; es war schließlich das militärische Genie des Marschall Foch.

Und auch das steht da:

L’ivresse légitime de la victoire empêche de distinguer combien cette victoire, toute glorieuse soit-elle eue été chèrement payée, chèrement par la France, chèrement par la civilisation dont la France était le sel.

Die legitime Siegestrunkenheit verdunkelt den Blick darauf, wie viel dieser Sieg, wie ruhmreich er auch gewesen sein mag, wie viel er gekostet hat, wie teuer er bezahlt wurde von Frankreich, von der Zivilisation, deren Salz Frankreich gewesen ist.

Ich habe nicht jede Woche online in die Gemeindemitteilungen geschaut. Aber ab und an habe ich nachgelesen, was geschah vor 100 Jahren. In der Welt, in Frankreich, in dem kleinen Ort am Atlantik, der uns so ans Herz gewachsen ist. Was mich dabei am meisten gefreut hat ist etwas, das nicht in Worten formuliert werden musste: Dass da jemand erzählt hat ohne Ressentiments. Sachlich und doch anteilnehmend. Mit Blick auf die historischen Fakten und die menschlichen Auswirkungen. Dass es möglich ist, dass aus Feinden – „Erbfeinden“ – Menschen werden, die sich in Frieden lassen, in Frieden leben, Freunde werden. Ich habe es gerade in Frankreich oft genug erlebt und es ließ sich auch zwischen den Zeilen der „commémoration“ finden. Dass Menschen, die es nicht schafften, miteinander zu sprechen, sich auf Wahrheiten zu einigen, Fakten anzuerkennen – dass es ihnen gelang, den Hass zu überwinden. Eine kleine Hoffnung. Aber eine Hoffnung.