Archiv für den Monat: April 2023

Von Worten und Menschen

Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, sagt eine der besten und sagt damit in diesem Moment genau das richtige. Du sollst wissen, dass du auch nein sagen kannst, schicke ich einer großen Frage voraus. Ich kann aber auch ja sagen, sagt der wunderbare Mensch, an den ich die Frage richte, und tut das dann auch. Melde dich, wenn du etwas brauchst, sagt eine andere und das ist doch selbstverständlich eine dritte und weiß gar nicht, wie besonders das für mich ist.

Mein Leben lang habe ich mich mit Worten beschäftigt, mit Wörtern und Sätzen, ihrer Bedeutung und Wirkung, ihren grammatikalischen Eigenschaften, ihrem Ursprung und ihrer Entwicklung; damit, wie man sie übersetzt oder zusammenfügt, wie man mit ihnen berichtet und erklärt, verdeutlich und vermittelt, verständlich macht oder begeistert. Ich habe gelernt, sie zu lesen, direkt und zwischen den Zeilen, in den Buchstaben und den Lücken dazwischen; im Literaturstudium und in den Vorlesungen über politische Philosophie, Vertragsverhandlungen und Gesetzgebungsverfahren. Ich habe gelernt, sie zu benutzen, mit ihnen zu überzeugen oder Emotionen zu wecken, sie regelkonform zu setzen und mit ihnen zu spielen; in der Ausbildung zur Journalistin und in meinem Berufsleben. Ich habe mit Wörtern gebetet, mit fremden und eigenen, gesagten, geschriebenen und geschwiegenen. Ich habe Worte gesungen, geweint und gelacht.

Nicht nur mein Kopf weiß also viel über die Bedeutung von Worten. Und doch ist mir in den vergangenen Wochen eine Erkenntnis noch einmal ganz neu unter die Haut gegangen: Wie gut es tut, wenn da eine ist, die das richtige sagt.

Das richtige muss nicht groß sein, nicht bis zum Ende durchdacht, nicht formvollendet. Ein kleines Wort auf einer Karte, eine liebevoll ausgesuchte Erkenntnis eines anderen, die die eigene Sprachlosigkeit überwindet, ein Ich denk an dich im Messenger, ein Wie geht es dir – wirklich bei einer ungeplanten Begegnung, ein Es tut mir so leid mit ausgebreiteten Armen. Da bringt ein Lass dir Zeit hinter einem Arbeitsauftrag mein Herz zum Schwingen und ein … wenn dir das gerade gut tut am Ende eines Rats aus eigener Erfahrung rührt mich tief.

Wie gut es tut, wenn da einer ist, der das richtige sagt. Der mit den Ohren und dem Herzen zuhört und dann Worte findet, die meine Trauer nicht wegreden, sie nicht übertünchen mit wohlfeilem Reden, sie wahr sein lassen und notwendig und wichtig. Worte, die so viel mehr sind als Wörter und Sätze, die Trost sind und Freundschaft und Liebe und Hoffnung.

Wie gut es ist, wenn da jemand das richtige sagt. Erinnerungen hervorkramt, schöne und schmerzhafte, herausfordernde und wunderbare, lange zurückliegende und ganz neue. Das Leben in den Mittelpunkt stellt, das aktuelle mit all seinen kleinen und großen Herausforderungen. Worte des Alltags, die Unterbrechungen zulassen, Raum für mehr – und für weniger.

Ich bin dankbar für die Worte, die gesagten, die geschriebenen, die gestammelten, die halben und die ganzen, und die, die mit den Augen direkt ins Herz gesprochen sind. Und für die Menschen hinter, vor und in diesen Worten. Es ist so schön, dass es euch gibt.

 

Aus der Zeit gefallen – mit Tränen im Auge und Sahne im Herzen

Seinen letzten Kaffee hat mein Vater mit Sahne getrunken. Sein Leben lang trank er Kaffee schwarz, bestellte keinen Cappucino, lächelte nur, wenn seine „drei Frauen“ (meine Mutter, meine Schwester und ich) Milchschaum schlugen. Und dann greift er beherzt nach der Sahne, reißt das kleine Töpfchen auf  und brummelt die Zeilen von Udo Jürgens: „Dass der Herrgott den Weg in den Himmel ihm bahne, aber bitte mit Sahne“ vor sich hin und ich singe mit.

Die Szene ist jetzt eine meiner Erinnerungen. Eine kostbare. Eine Familiengeschichte, die sich zu denen hinzufügt, die ich nur durch ihn kenne. Die sich zugesellt zu Hektor, dem Hund, der von meinem Großvater gelernt hatte, Kühe zu hüten. Derselbe Großvater, der meinen Vater als Kind auf Kühen hat reiten lassen. Diese Erinnerung aus seinen letzten Tagen stellt sich zu vielen anderen, in denen wir gemeinsam gesungen haben (beim Schlauchboot fahren, im Auto auf dem Weg in den Campingurlaub, im Gottesdienst – mein Vater immer knapp daneben, aber mit Inbrunst) und zu anderen, in denen wir gemeinsam gelacht haben. Sie passt zu den Momenten, in denen wir Neues ausprobiert haben und zu denen, in denen er Gedichte und Passagen aus Lieblingsbüchern auswendig aufsagen konnte. Und dann sind da noch so viele andere Momente, Erinnerungen. Manche, die ich sowieso immer schon mit mit trage und andere, die plötzlich wieder auftauchen, beim gemeinsamen Erzählen und Schweigen und Umarmen wieder lebendig werden, aus längst verschollen geglaubten Tiefen auftauchen. Manche lassen sich festhalten, andere sind kaum ganz zu erhaschen.

Nach Wochen der Trauer, der auch räumlichen Gemeinschaft mit anderen, die ihn vermissen, nach Tagen des Weinens und Lachens, des Wachliegens und Organisierens, des Loslassens und Festhaltens fühle ich mich aus der Zeit gefallen. Als wäre ich einmal hinausgepurzelt aus dem Lauf der Zeit und irgendwie damit durcheinandergekommen. Die Gezeitenuhr an der Wand fühlt sich deutlich realer an, sagt mir mehr und wesentlicheres als Kalender und Uhrzeit.

Das liegt sicher an den Umständen, den freien Tagen, den Ortswechseln und Begegnungen. Das liegt aber auch und besonders an den Erinnerungen aus meinen 46 Jahren und den geteilten Erinnerungen weit darüber hinaus, die jetzt so lebendig  sind und die ich lebendig halten will. Sie bringen Vergangenheit und Gegenwart durcheinander, vermischen sie zu einer großen Gleichzeitigkeit und lassen diese, wenn der übliche Einkaufen-Putzen-Arbeiten-Freunde treffen-Alltag sich Raum greift, wieder in viele kleine Einheiten zerfallen, nur um sich in der nächsten Ruhepause zu einer neuen großen Zeitblase zusammensetzen.

„Das ist heute“ heißt es in der Liturgie des Triduums am Gründonnerstag. Seit vielen Jahren mag ich diese kurz gefasste Vergegenwärtigung des Geschehens besonders. Erinnerungen halten Menschen, Gefühle, Geräusche und Musik, Gerüche und Gedanken lebendig oder werden von Gerüchen und Geräuschen oder anderen Auslösern neu zum Leben erweckt. Proust weiß davon ausgiebig zu erzählen. Ich trinke meinen Kaffee zwar immmer noch schwarz, aber wenn es irgendwo Kaffeesahne gibt, werde ich wohl in Zukunft still lächeln, mit einer Träne im Auge und ganz viel Liebe im Herzen. Auf dich, Papa.