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Erinnerungen an den Annaberg

Zehn Jahre war sie alt, als „die Russen“ ihre Großmutter erschossen. Auf einem Mäuerchen habe sie gesessen mit einer Freundin. da seien die Russen in den Hof gekommen. „Aber es waren gar nicht alle Russen“, sagt sie, „nur zwei.“ Sie wollten sich auf die Tante stürzen und die Großmutter habe gesagt, sie sollen die junge Frau in Ruhe lassen. „Und bumm, bevor man einmal atmen konnte, hatten sie sie zusammengeschossen. Einfach so. Weil sie gesagt hat, sie sollen die Tante nicht anfassen.“ Diese beiden jungen Soldaten, sagt sie, „die waren nicht nett. Schlechte Menschen. Böse. Gemein gegen Menschen. Und frumm waren sie auch nicht, denk ich.“

Danach waren sie lange traurig auf dem kleinen Hof. Sehr lange. Aber es gab genug Arbeit, die gemacht werden wollte, jeden Tag. Und es gab neue Russen, die kamen. „Dann kamen andere Russen, die waren nett. Eine Frau, die konnte gut kochen. Und ein netter Mann, der half meiner Mutter mit dem Zaun. Und Kinder, die waren nett, die konnten ja nichts für die gemeinen anderen.“

Weit über 80 Jahre ist sie heute. Im Nachbarbett in meinem Krankenhauszimmer erinnert sie sich an ihr Kindheit und Jugend in Oberschlesien. Die Familie ihre Bruders lebt heute noch dort. Einmal im Jahr bringen ihre Kinder und Enkelkinder sie dorthin, für einige frohe Sommerwochen. „Wissen Sie, dort ist es anders .Viel ärmer und einfacher. Aber wir sind eine große Familie und sind dann alle zusammen. Wir sitzen im Garten und das ist schön.“

Das Wallfahrtslied ihrer Kindheit kann sie noch immer auswendig. Man kann hören, wie schön ihre Stimme in ihrer Jugend gewesen sein mag. „Die Wallfahrten waren das schönste. Da kamen Prozessionen aus allen Richtungen. Mit Blaskapellen und Fahnen und Lachen und Beten. Aus allen Richtungen kamen sie.“

„Ich war eine Frau, aber ich habe immer eine Arbeit gehabt. Ich war auf einer Schule für Hausarbeit. Und dann bin ich mit dem Fahrrad jeden Tag 12 Kilometer hin und 12 Kilometer zurückgefahren zu meiner Arbeit. Auch im Regen. Oft im Regen. Jeden Tag.“ Das mit dem Fahrrad sei die Idee ihrer Mutter gewesen. „Sie hat für mich gespart. ‚Mit einem Fahrrad bist du unabhängig‘, hat sie immer gesagt und Geld zur Seite gelegt. ‚Mit einem Fahrrad kannst du ein eigenes Leben haben und musst nicht hoffen, dass der Nachbar oder der Onkel dir Geld gibt, wenn du für sie schuftest.‘ Denn wenn ich immer da gewesen wäre, dann hätten die gedacht, sie müssen mich nicht bezahlen.“ Sie zieht die Nase kraus. „Manche Menschen sind so, die denken nur an sich.“

„Du musst für einen guten Mann beten“, habe ihre Mutter ihr gesagt, da war sie noch nicht einmal ein Teenager. „Ich habe gedacht: Ich habe einen guten Vater, da können die Männer doch nicht schlecht sein.“ Aber gebetet habe sie trotzdem. Auch für einen guten Mann. Jeden Tag. Und dann habe sie einen bekommen, einen schlauen und guten Mann. Fotograf sei der gewesen, er habe sich nicht geschont. Und er habe ihr gezeigt, wie man gute Fotos macht. Sie hat ihm das Stativ aufgebaut, oder die Menschen für Gruppenbilder aufgestellt. Sie weiß, wie man im Gegenlicht fotografiert und wie man den Lichteinfall in einer Kirche nutzt, dass die Priester keine Schatten im Gesicht haben. Und dann ist ihr Mann gestorben – vermutlich vergiftet von den Dämpfen in der Dunkelkammer.

Nachmittags kommen die Kinder und Enkel zu Besuch. Jeden Nachmittag. Sogar Urenkel gibt es in großer Zahl. Jeden von ihnen ermahnt sie, für einen guten Mann oder eine gute Frau zu beten. Die jungen Leute kennen die Geschichten längst in- und auswendig. Aber genervt ist keiner. Lieber planen sie gemeinsam die Reise nach Schlesien im Sommer und lachen gemeinsam.

Heut‘ ist Nikolausabend da…

Wer mich seit einigen Jahren kennt und in räumlicher Nähe wohnt, ist sehr wahrscheinlich schon einmal Zeuge einer ganz besonderen Familientradition geworden. Zumindest hier im Rheinland sorgt sie immer wieder für Verwunderung, denn Weckmänner heißen hier Martinsmännchen und haben daher rund um den 11. November – Sankt Martin eben – Hochsaison.

Doch im Schwarzwald haben die „Dambedeis“ einen anderen Haupt-Feiertag: den Nikolaustag.

In meiner Familie wurde der immer am Vorabend begangen. Mein Vater zog sich vor den Augen von uns Kindern und einer Horde Nachbars- und Freundeskinder den Rauchmantel an, legte den Bart um, setzte sich eine Mitra auf und nahm den Holzstab in die Hand. Er ging aus dem Wohnzimmer, kam wieder herein und – eine Lieblingsgeschichte meiner Mutter – wir Kinder waren ganz aufgeregt und wollten unbedingt den Papa holen, damit er den Nikolaus nicht verpasst. Es hat wohl einige Jahre gedauert, bis wir alle das Spiel durchschauten.

Im Grundschulalter machten meine Schwester und ich dann irgendwann einen Kinderbackkurs mit und lernten einen einfachen Quark-Öl-Teig für Dambedeis, Stutenkerle, Weckmännchen – nennt sie, wie ihr wollt. Auf jeden Fall waren alle von den kleinen Gebäckstücken so begeistert, dass es sie von da an jedes Jahr gab. Der Teig ist schnell gemacht* und je nachdem, wie viel Zeit man hat, kann man einfache oder aufwändiger dekorierte Weckmänner herstellen.

Egal, wo ich lebte, wenn es irgendwie ging, habe ich seither an jedem 5. Dezember gebacken und die kleinen Weckmännchen am darauffolgenden Tag an Freunde oder Kolleginnen und Kollegen verschenkt.

Und nicht nur ich… Als ich vorhin in der Küche stand und gerade das erste Blech Dambeideis in den Ofen schob, da kamen Messenger-Nachrichten von meiner Schwester und meiner Mutter. Die beiden hatten auch gerade gebacken… Hach <3

Nikolause aus dem Schwarzwald …

 

 

 

 

 

… und aus der Pfalz

Habt einen schönen Nikolausabend!

* Rezept für den Quark-Öl-Teig:

1 Ei
250 g Magerquark
10 EL Öl
10 EL Milch
80 g Zucker
2 Pck. Vanillezucker
1 Prise Salz
500 g Mehl
1,5 Pck Backpulver

Alle Zutaten außer dem mit Backpulver gemischten Mehr verrühren, dann das Mehl nach und nach unterkneten. Weckmänner formen, mit Eigelb bepinseln und bei 200°C ca. 15 Minuten backen.

Großflächig anwenden

Ich erinnere mich an viele Gerüche meiner Kindheit. An den Geruch von Spinatpfannkuchen mit Käsesoße zum Beispiel (konnte ich damals üüüberhaupt nicht ausstehen, wie ich heute weiß, ein kolossaler Fehler). Oder den Hagebuttentee, den es auf einer Ferienfreizeit so lange als Standardgetränk gab, bis wir eine Meuterei anfingen inklusive Fußmarsch durch den Wald, um irgendwo Zitronenteepulver zu kaufen. Es gab dann Wasser. Himmlisch. Oder die Mischung aus mit Nelken gespickten Orangen und heißem Bienenwachs als adventlichen Grundton.

Und dann gab es die Gerüche, die zum Gesundwerden passten. Nummer eins war der Zwiebeltee – einer der gruseligsten Gerüche (und leider auch Geschmäcker), die ich kenne.

Stundenlang siedete das Gebräu in der Erkältungssaison vor sich hin und selbst, wenn wir Kinder wieder gesund waren, roch das Haus noch tagelang nach dieser undefinierbaren Mischung aus süßlich, bitter und ranzig. Allein der Hinweis, es werde nun Zwiebeltee aufgesetzt machte mich schon halbwegs gesund – zumindest behauptete ich das standhaft; und musste das Gebräu dann trotzdem trinken. Da halfen auch Kandiszucker und eine zugehaltene Nase nicht.

Das zweite Hausmittel, auf das meine Mutter schwor, roch ähnlich intensiv, beduftete das Haus mindestens ebenso langanhaltend, aber im Gegensatz zum Zwiebeltee mochte – und mag – ich den Duft immer sehr. Das geheime Hausmittel war Ringelblumensalbe. Selbstverständlich selbst gekocht.

Die Ringelblumen blühten vor ihrem Einsatz in der Küche gelb-orange im Garten und waren für uns Kinder kein besonderes Highlight. Ganz hübsch, aber nicht so wunderbar wie Gänseblümchen, mit denen man Kränze flechten, Hüpfkästchen markieren oder romantisch-philosophische Gedanken machen konnte (aber das ist eindeutig eine andere Geschichte). Sie zogen nicht so viele Bienen und Schmetterlinge an wie andere Blüten und probieren konnte man sie auch nicht, wie die Brunnenkresse, deren Blüten auch noch strahlender leuchteten.

Kaum gepflückt und in den Kochtopf gewandert, wurden die Ringelblumen aber Superstars.  Ihre Salbe hilft vor allem gegen Mückenstiche (und außer dem Lieblingsmenschen liebt mich vermutlich niemand so sehr wie Stechmücken; ich sehe den halben Sommer aus wie Streuselkuchen, die Viecher stechen durch Socken und Hosen, durch T-Shirts und dicke Leinenblusen, in Knöcheln, Zehen, Handgelenke, Arme, Beine, hinter die Ohren, in die Nase,… sie lassen nichts aus). Also die Ringelblumen halten die Viecher nicht fern, aber sie lindern den Juckreiz. Langanhaltend. Juhu.

Außerdem ist selbstgemachte Ringelblumensalbe schön fettig und hilft wunderbar gegen rissige Haut, aufgeplatzte Lippen, Hornhaut an den Füßen. Sie zieht angenehm schnell ein und hinterlässt nur diesen sanften Blumenduft, der auch einsame Winterabende und klebrig-warme Sommernächte erträglicher macht.

Da ich schon immer viel schwitze – vor allem im Gesicht – hilft Sonnencrème wenig. Gegen eine juckende rote Nase hilft… naja, ihr wisst schon. Gegen kleine Schürfwunden, zur Ermutigung nachwachsender Haut unter Blasen und gegen schwere, müde Beine nach einem langen Tag wirkt das Zeug natürlich auch. Es ist schließlich aufgetankt mit viel Sonne, mit Wasser, das in großen Kannen durch den Garten getragen wurde, mit Zeit zum Wachsen und Kochen – und mindestens ebenso viel Liebe.

Und so sitze ich nun hier, bin sehr dankbar und gerührt über das kleine Päckchen, das ich heute von meiner Mutter bekommen habe, habe den Mückenstichen den Kampf angesagt und rieche von Kopf bis Fuß nach Ringelblumensalbe. Hach.

Allerseelen und die Allée couverte de Lesconil

allee couverte in Lesconil bei Douarnenez

 

Allerseelen. Nach dem Fest der Heiligen gestern heute nun das Fest aller Verstorbenen, aller Seelen. Erinnerung an Menschen, die wir nicht nur geliebt haben, sondern immer noch lieben. An Menschen, die uns geprägt haben. An Menschen, die uns wichtig sind – ob wir sie nun gekannt haben, oder nicht. Ein Tag, um zum Friedhof zu gehen. An einen Ort, an dem wir uns besonders gut an unsere Verstorbenen erinnern.

Als ich klein war, fuhren wir zu Allerheiligen und Allerseelen oft in die Heimatdörfer meiner Eltern. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir durch die Reihen der Gräber gingen. Wir Kinder kannten nur die Gräber unserer Großeltern oder Urgroßeltern. Doch meine Eltern kannten viele der Namen auf den Grabsteinen. Und natürlich auch die Angehörigen, die um die Gräber standen. Es waren stille Begegnungen, mit geteilten Erinnerungen und Fragen nach dem Hier und Heute. Wir Kinder wurden mit dem Bild verglichen, das man sich ein Jahr zuvor gemacht und gemerkt hatte – was waren wir gewachsen, sahen fast schon wie junge Damen aus, glichen immer mehr dem einen oder der anderen. Was man eben so sagt.

Und doch erinnere ich mich nicht daran, dass mich diese immergleichen Floskeln auf dem Friedhof genervt haben. Bei Familienfeiern, zufälligen Begegnungen, allen möglichen anderen Anlässen waren solche Bemerkungen lästig und nervtötend. Aber auf dem Friedhof spürte ich etwas von der Geschichte, die mich mit diesen Menschen verband, und dort konnte ich mich besonders gut erinnern. Zum Beispiel an den Holzstuhl mit den runden Armlehnen, in dem mein Großvater uns nach dem Mittagessen Märchen erzählte – auf Eifler Platt, das wir nur teilweise verstanden, und dessen Klang wir so sehr liebten. Oder an das Klackern des Stockes, mit dem er die Treppe zum Hof hinunterging, um auf der Bank vor dem Haus in der Sonne zu sitzen.

Einen Ort der gemeinsamen Erinnerung zu schaffen, einen Ort, der nicht für jeden individuell ist, sondern der Menschen zusammenbringt, um gemeinsam zu trauern, um sich gemeinsam zu erinnern, um gemeinsam in die Zukunft zu schauen ist keine neue Idee. Ein solches Totengedenken – Menschengedenken – ist eine uralte Kulturtechnik. Die ersten markierten Gräber gab es schon vor über hunderttausend Jahren. In allen Zeiten seither schufen Menschen Orte, an denen sie sich erinnern können an geliebte Menschen, an Familienmitglieder, Freunde, Stammeshäuptlinge.zwischen den steinen des Galeriegrabes

Ganz verschieden waren die Grablegen; einfach und schlicht, mit einem Stein oder Naturmaterialien markiert oder prachtvoll wie die Pyramiden. Mit oder ohne Grabbeigaben, die den Status der Toten markieren oder ihnen einen guten Übergang in eine andere Welt ermöglichen sollten. Von berühmten Künstlern gestaltet wie die Gräber in der Kathedrale Saint Denis oder ihrem weltlichen Pendant, dem Pantheon in Paris.

Und dann war da noch das Neolithikum, die Jungsteinzeit. In der Bretagne brachte sie nicht nur eine starke Veränderung des Ackerbaus, sondern mit der Sesshaftigkeit auch ganz besondere Gräber. Die allées couvertes, oft an markanten Punkten, auf Hügeln oder auf dem höchsten Punkt einer Bucht gelegene Galeriegräber. Einige von ihnen sind bis heute erhalten. Und eigentlich hat mich jedes beeindruckt, das ich gesehen habe. In diesem Sommer war ich aber ganz besonders fasziniert. Nach einem langen Bummel durch das Hafenbecken und die Altstadt von Douarnenez machten wir einen Abstecher zur Allée couverte von Lesconil. Seit Jahrtausenden lehnen die Steine gegeneinander und erinnern daran, dass hier jemand begraben wurde, der besonders geschätzt, respektiert, geliebt – vielleicht auch gefürchtet – wurde.allée couverte de lesconil

Durch die alten Steine und das Licht, das durch die Baumwipfel fällt, wirkt die Szenerie romantisch, fast ein wenig mystisch. Man hört nichts außer dem Rascheln von Blättern, Knacken von Ästen, Summen von Bienen. Mit etwas Fantasie kann man vorwitzige Kobolde hinter den Farnbüscheln kichern hören. Und wie Geschichten von Fee entstanden sind, die in der Morgendämmerung an verwunschenen Orten verträumt miteinander tanzen, das versteht man hier auch.aneinander gelehnte steine

Auch wenn wir nicht wissen, für wen dieser Erinnerungsort gebaut wurde – etwas von diesen Menschen ist geblieben. Etwas von ihrer Kultur, ihrer Art, miteinander umzugehen, ihrem Sinn für Kunst und Architektur. Etwas ist geblieben. So verschieden wir sind, so unterschiedlich unser Wissen, unsere Weltsicht, unsere Lebensweise sein mag – an der Allée couverte de Lesconil stand ich, fasziniert, beeindruckt, angerührt. Voller Dankbarkeit für Erinnerungen über alle Grenzen hinweg. Voller Träume und Hoffnungen für die Zukunft. Und voller Leben.

 

Das Cap Sizun und die Bucht von Douarnenez sind reich an großen Naturschönheiten. Neben der bekannten Pointe du Raz – Grand site de France – und der Pointe du Van, die wir so sehr lieben, gibt es viele kleinere, kaum weniger spektakuläre Landspitzen. Die Pointe de Brézellec zum Beispiel oder die Pointe du Castelmeur, die Baie des Trépassés und so viele andere mehr. Die Allée couverte von Lesconil liegt hingegen etwas abseits des Weges. Vom kleinen Wanderparkplatz aus sieht man nur eine Wiese und ein kleines Wäldchen. Die ersten Meter sind mit einem hölzernen Geländer markiert, damit man nicht die Felder der Bauern platt tritt. Im Wäldchen angekommen gibt es einen kleinen Fußweg, auf dem nur eng umschlungene Liebespaare noch nebeneinander gehen können.

wäldhcen in der nähe der allée couverte de lesconil

Und dann ahnt man am Wechsel des Lichteinfalls plötzlich, dass hinter der nächsten Wegbiegung eine Lichtung liegen könnte. Und nur ein paar Schritte weiter steht man dann vor den gegeneinandergeschichteten Steinen. Daher ist dies nicht nur ein Beitrag zu Allerseelen, sondern auch zur Blogparade „Die kleinen Dinge am Wegesrand“ von Berg und Flachlandabenteuer.

Schaut dort vorbei und genießt die vielen schönen Kleinigkeiten, die so große Freude machen.