„Lassen Sie das lieber bleiben“ sagt die Frau am DB-Schalter. Ich habe vor, mit dem Zug vom rheinischen Vorgebirge ins Urola-Tal mitten in den baskischen Bergen zu fahren. Ein Interrail Ticket (ja, das gibt es auch für Erwachsene) habe ich bereits, aber beim Buchen der passenden Verbindungen stoße ich auf den Hinweis, dass zwischen Irún und San Sebastián Schienenersatzverkehr herrsche und man sich an die Bahngesellschaft des Ausgangspunkts wenden soll, um entsprechende Reservierungen über deren System buchen zu lassen.
Ich frage also bei der Deutschen Bahn und schaue in erstaunte Augen. Ja, tatsächlich, die Dame mit den zahlreichen grauen Haaren und dem bürgerlichen Aussehen will einmal mit dem Rucksack durch halb Europa fahren. Und das auch noch einigermaßen kurzfristig. Nur 6 Wochen Vorlauf habe ich – denn die Anfrage, ob ich nach Loyola kommen möchte, kam einigermaßen überraschend. „Da kriegen Sie doch jetzt sowieso keine Plätze mehr“, werde ich informiert. Außerdem findet die Software der Bahn meinen Zielort nicht (die DB-Navigator-App zeigt ihn mir aber an). Da sei ein sicheres Ankommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln doch mehr als fraglich, höre ich. Und: „Nehmen Sie doch ein Flugzeug. Das ist sicher einfacher.“ Vermutlich hat die DB-Mitarbeiterin recht, denke ich, auch wenn es Direktflüge nach Bilbao nur ab Orten gibt, wo ich aufwändig mit der Deutschen Bahn hinfahren müsste (das größte Risiko, auf der Reise stecken zu bleiben) oder ich fliege von quasi vor der Haustür erstmal 2 Stunden gen Norden, warte dort lange am Flughafen und dann weiter nach Spanien. Auch nicht sehr verlockend.
Je mehr die Bahn-Dame mir die Zugfahrt ausreden will, desto sturer werde ich. Jetzt erst recht, sagt mein Kopf und mein Herz nickt begeistert. In diesem Moment fühle ich mich abenteuerlich und ein wenig verrückt. Auch mal schön.
Ich lade mir also die Interrail-App herunter, suche passende Züge aus, mache die notwendigen Reservierungen für den Eurostar und den TGV für Hin- und Rückfahrt und vertraue auf meine Sprachkenntnisse, um mit dem spanischen Schienenersatzverkehr irgendwie klar zu kommen. Auf dem Papier (ok, auf dem digitalen Papier meiner App), sieht das alles ganz einfach aus: Mit der Regionalbahn nach Köln, mit dem Eurostar nach Paris, dort mit der Métro von der Gare du Nord zur Gare de Montparnasse, dann mit dem TGV nach Hendaye, von da nach San Sebastián und das letzte Stück mit dem Bus nach Loyola. Ich möchte gerne an Allerheiligen ankommen. An Feiertagen nimmt der Eurostar aber keine Interrail-Reisenden mit, also fahre ich am Vorabend und übernachte in Paris, ein paar Schritte von der Gare de Montparnasse entfernt. So weit, so gut.
Passend zu Halloween fängt die Fahrt gruselig an: Der Eurostar meldet, dass er nicht ab Köln, sondern erst ab Brüssel fährt. Um irgendwie nach Brüssel zu kommen, muss ich in dem Moment, in dem die Meldung bei mir ankommt, quasi direkt in die Schuhe schlüpfen, den Rucksack schultern (gut, dass er fertig gepackt bereit steht), die Handtasche mit Portemonnaie und Sonenbrllle schnappen und mit schnellen Schritten zum Bahnhof im Heimatdorf laufen. Ich bekomme zum Glück nach wenigen Minuten eine verspätete Regionalbahn nach Köln. Ich spurte auf Gleis 6 und springe in den ICE nach Brüssel – fast zwei Stunden vor der geplanten entspannten Abfahrt, aber immerhin im Zug.
Der ist erwartungsgemäß total überfüllt. Ich stehe also und lache gemeinsam mit den umstehenden Reisenden über die Durchsage, dass in den Wagen 21 bis 23 etwas mehr Platz in den Fluren sei als im Rest des Zuges. Vor Aachen halten wir außerplanmäßig. Personen im Gleis. Bundespolizei ist informiert. Ein paar Leute steigen aus zum Rauchen. Irgendwann pfeift jemand und es geht weiter. In Aachen geht dem Bordbistro das Wasser aus, für quengelnde Kinder gibt es aber Kinderfahrkarten und supergeduldige Mitarbeiter:innen – die sind an diesem Nachmittag wirklich großartig.
Irgendwann erreichen wir Brüssel. Ich sehe auf der Anzeige, dass ich dort tatsächlich einen früheren Eurostar nach Paris bekommen könnte – der kommt verspätet aus London. Ich frage beim Schalter nach. Der freundliche Herr wundert sich überhaupt nicht. Interrail-Passagiere habe er hier häufig. Er findet direkt die gewünschte Auskunft – dass im früheren Zug zwar Plätze frei seien, aber keine mehr für Interrail-Reisende. Umbuchen daher nicht möglich. Wenn ich trotzdem in den Zug hüpfen möchte, könnte ich den Aufpreis der Reservierung zum Preis der regulären Fahrt zahlen. Ein nettes Angebot, aber ich verzichte, setze mich in den Wartebereich, beobachte das bunte Bahnhofstreiben und freue mich am leckeren Duft der belgischen Pralinen aus dem Shop nebenan.
Der Eurostar steht überpünktlich am Gleis bereit. „Wir kommen ja nicht aus Deutschland“ witzelt die Zugbegleiterin, die beim Einsteigen unsere Tickets kontrolliert. Ich komme pünktlich in Paris an, kaufe mir ein Métro-Ticket und als ich zum Bahnsteig komme, fährt passend die Bahn ein. Darin gibt es viele aufwendig geschminkte Gespenster, Piratinnen und Hexen, die Herren, die dabei stehen, tragen Einheitslook: dunkle Jeans, helles Hemd, Lederjacke oder Teddymantel. Nur einer hat eine Narbe über die Wange geschminkt. Die große Halloweenparty scheint irgendwo bei Les Halles zu steigen, denn dort strömen die Gruselgestalten laut schnatternd aus der Bahn.
Im Hotel bekomme ich die Karte zu meinem Zimmer, die Dusche ist herrlich, ich stelle einen frühen Wecker und falle ins Bett. Am nächsten Morgen nutze ich die Kaffeemaschine im Zimmer, laufe zum Bahnhof, besteige den pünktlichen TGV nach Hendaye, trinke einen weiteren Kaffee an Bord, frühstücke ein Brioche und Äpfel von zu Hause, schlafe eine Runde und wache kurz vor Bordeaux wieder auf. „Reisen Sie schneller und verschmutzen Sie die Umwelt weniger“ zeigt der Bildschirm im Waggon freundlich an, bevor er auf Wickelräume, Defibrillator und das aktuelle Gericht des Monats im Bordbistro hinweist.
Der Nebel hat sich verzogen, die Sonne scheint und ich schaue die nächsten zwei Stunden einfach aus dem Fenster. Ab Biarritz wünscht die freundliche Zugchefin allen, die aussteigen, schöne Ferien und gute Erholung. Kurz vor Hendaye sagt sie an, wie Reisende nach Spanien den Schienenersatzverkehr und seine Tücken umgehen und schnell am Ziel ankommen können. Das Geheimnis heißt Straßenbahn und fährt nur wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt ab. Klar, hier gilt mein Interrail-Pass nicht, aber die zusätzlichen 2,75 Euro bis San Sebastián kann ich gut verschmerzen.
Google Maps bringt mich und meinen Rucksack sicher durch die spanische Hafenstadt, ich mache eine gemütliche Mittagspause im Schatten am Wasser, verspeise mein letztes Reisebrot und steige in den nächsten Bus nach Loyola. Beim Einsteigen treffe ich drei Teilnehmerinnen der Konferenz, zu der ich fahre. Sie kommen aus Brasilien, Chile und Argentinien und sind in etwa genauso lang unterwegs wie ich. Wir freuen uns über den Busfahrer, der baskische Rockmusik mitpfeift und irgendwann zu ABBA wechselt und laut mitsingt. Er erklärt uns den Weg von der Bushaltestelle zum Tagungshaus und hilft beim Ausladen des Gepäcks.
Tldr: Was sich unheimlich abenteuerlich anhörte, entpuppte sich – sobald die DB ihren Job getan hatte – als völlig durchschnittliche, dafür aber herrlich entspannte Reise. Ich freu mich jetzt schon auf die Rückfahrt.
Es ist schön, mal so etwas Positives zu lesen. Denn ja, das klang am Anfang wirklich abenteuerlich. Bis San Sebastián und von da aus zurück bin ich auch mal mit dem Zug gefahren, hin mit ein paar Tagen Pause in Paris (Direktverbindung ohne Umsteigen), zurück auf einmal.
Kleines Update von der Rückfahrt: Aufbruch in Loyola um 6 Uhr und problemlos mit ausschließlich pünktlichen Verbindungen bis Köln. Dort dann kein Weiterkommen – wegen Karneval und Brückenschäden. Ich bin wirklich begeistert; und schön zu hören, dass auch andere über 25 solche Touren machen.