Archiv für den Monat: September 2018

Bayern vor der Wahl

In Augsburg regnet es in Strömen und ich komme aufgrund von Sperrungen und Umwegen durch die Baustelle am Bahnhof irgendwo heraus, wo die Freundin, die mich abholt, nicht ist. Gelobt sei der Erfinder der Smartphones, denn bevor ich zum dritten Mal an diesem Tag völlig durchweiche, ist das Auto da. Zur gemeinsamen Planungs-Spätschicht gibt es Wasser und einen richtig guten Single-Malt-Whisky. Ein liebevoll gerichtetes Gästezimmer und richtig guten Kaffee und eine frische Brezel zum Frühstück.

In Neuburg begrüßen uns am nächsten Morgen drei gemütlich wiederkäuende Alpakas und viele strahlende Gesichter. Wir sprechen darüber, wie die Tiere den alten Menschen auf einer Pflegestation gut tun, was man tun kann, damit Menschen, die aufgrund ihres Alters und ihrer Krankheiten nur noch einen sehr begrenzten Lebens- und Erfahrungsraum haben, teilhaben können an unserer Welt, am Leben außerhalb ihres Krankenzimmers. Ich treffe Menschen, die ihren Alltag damit verbringen, sich für andere einzusetzen, die gemeinsam nach Lösungen für Probleme suchen – die die Probleme sehen und erkennen und nicht jammern und schimpfen, sondern an- und zupacken.

Im Nachbarraum sitzt eine Gruppe von Männern und Frauen zusammen. Die Nähmaschinen surren, es entstehen Patchworkarbeiten, Quilts und kleine Dekostücke, die sie beim Weihnachtsbasar für einen guten Zweck – für Menschen in Not – verkaufen werden.Blauer Hmmel mit zahlreichen weiße Wolken über einer grünen Wiese

Am Abend sitze ich in einer fröhlichen Frauenrunde in Passau. Es gibt Tee und Bier und gute Gespräche. Die Frauen haben im Sommer 2015 gesehen, was gebraucht wird und einen Teil ihres Anwesens, in dem sie vorher Gäste empfingen,  geöffnet; nun wohnen dort acht geflüchtete Frauen und sechs Kinder. Leicht gefallen ist ihnen das anfangs nicht und vom Zerrbild der romantisierenden Heldinnen, die die Probleme vor lauter rosaroter Billen nicht sehen wollen oder können, sind sie weit entfernt. Ganz offen und sehr aufrichtig erzählen sie von ihren Erfahrungen in den vergangenen Jahren. Den guten und den schweren. Den enttäuschten Hoffnungen und denen, die sich erfüllt haben. Von den Anstrengungen, die es bedeutet, wenn Menschen, die sich eigentlich auf einen ruhigeren Lebensabschnitt eingerichtet hatten, im Rentenalter noch einmal eine solche Herausforderung meistern. Von den Glücksmomenten, die entstehen, wenn man sich trotz fehlender gemeinsamer Sprache verständigen kann, wenn man gemeinsam kocht und isst, Weihnachtslieder singt oder eine junge Schwangere zur Entbindung begleitet.

Die jungen Frauen aus aller Herren Länder berichten in einem wilden Mischmasch aus Deutsch, Englisch und Arabisch das Gleiche. Von furchtbaren Erfahrungen auf der Flucht, von dem Moment, wo sie sich zu Hause, angekommen fühlen durften. Von der Hilfsbereitschaft der Nachbarinnen, wenn eines der Kinder sich die Knie aufschlägt oder ein Brief ankommt, den sie nicht verstehen. Von Kochrezepten aus der Heimat und solchen, die sie neu kennengelernt haben. Kinder klettern mir auf den Schoß und sind fasziniert von meiner Brille und dem Anhänger an meiner Halskette, so, als hätten sie nie Krieg und Gewalt erlebt.

Auf dem Rückweg dann ein Unwetter und stundenlange Verspätung in der Bahn. Menschen, die sich zu Fahrgemeinschaften verabreden, sich gegenseitig Kopfhörer zustecken, um die Wartezeit mit Musik zu verkürzen, Bücher, die hin und her gereicht werden, weil einer sie ausgelesen hat und die andere sie gerne anlesen würde. Geteilte Butterbrote und Wasserflaschen, da es im Bordbistro nichts mehr zu kaufen gibt.

In all dem: Kein Wort über die Wahl.

Aber am Ende des langen Wochenendes ein wenig mehr Hoffnung, dass da unter der lauten, krawalligen, menschenfeindlichen Oberfläche, hinter den Fassaden mit den immergleichen Politikerplakaten mit den austauschbaren Wahlversprechen, hinter den beängstigenden Umfragewerten und gebrüllten Parolen, dass da Menschen sind, denen komplexe Zusammenhänge nicht zu kompliziert sind. Menschen, die bereit sind, etwas von sich selbst einzusetzen für andere, egal wer sie sind, woher sie kommen und wie gesund oder krank sie sind. Menschen, die da sein werden, auch wenn das gesellschaftliche Klima noch rauer wird. Die es aushalten können und wollen, wenn andere anderer Meinung sind, weil sie die Grundhaltung sehen und suchen, die uns alle verbindet. Die Kritik äußern, dabei aber sachlich bleiben. Die sich dem Dialog nicht entziehen und immer wieder neu die Ärmel hochkrempeln. Die Hoffnung, dass diese Menschen, dass wir es sein werden, die den längeren Atem haben.

Wir sind viele

Als wir ankommen, ist der Roncalliplatz schon voll. Voller fröhlicher Menschen. Voller bunter Fahnen, Plakate und Seifenblasen. Menschen von jung bis alt, von klein bis groß, von alternativ bis bürgerlich.

Ein breites Bündnis gegen Hass und für Solidarität und Mitmenschlichkeit. Viele verschiedene Meinungen – eine gemeinsame Haltung.

Am Ende sind es rund 10.000 Menschen, die gemeinsam feiern, singen, und vor allem Gesicht zeigen #kölnstehtzusammen

Was so einfach und überzeugend klingt, ist es für mich nicht. Ich bin keine Freundin großer Menschenmengen. Eine solche Demo liegt außerhalb dessen, was man heute „Komfortzone“ nennt. Ich war nicht oft demonstrieren – in den 90ern gab es Lichterketten auch am Fuß des Schwarzwalds und als junge Journalistin habe ich über eine NPD-Demo in dem damals wie heute beschaulichen Kleinstädtchen berichtet. Und dann kam lange kaum etwas bis zur Demo für Meinungsfreiheit nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo.

Ich war keine von denen, die immer vorweg auf die Straße gingen. Der direkte Dialog, auch mit Kommilitonen, Kolleginnen und Kollegen, Bekannten und Freunden, die anderer Meinung waren (und sind), ist mehr meine Sache. Diesen Dialog führe ich noch immer. Und doch überwinde ich mich immer öfter, selbst auf die Straße zu gehen. Mit dem Pulse of Europe, der Seebrücke und eben jetzt mit #kölnstehtzusammen.

Denn mir machen die Bilder Mut, die zeigen, dass es wirklich eine Mehrheit für Menschlichkeit, Menschenwürde und Solidarität gibt. Dass wir viele sind, die nicht zulassen wollen, dass der Hass gewinnt, die Vernunft unter Aggression begraben wird, Menschen nicht mehr als Menschen anerkannt und respektiert werden. Und so waren der Lieblingsmensch und ich heute zwei von am Ende 12.000 Menschen in Köln, die gezeigt haben: #wirsindmehr

Sich sichtbar machen ist anstrengend, es kostet Kraft und Zeit, Geduld und Vertrauen. Aber wenn ich nicht bereit bin, das für eine offene und freie Gesellschaft einzusetzen, wird es die irgendwann vielleicht nicht mehr geben.