Archiv für den Monat: November 2020

Tauet Himmel…

Normalerweise gibt es in unserem Dorf einen lebendigen Adventskalender. Jeden Tag gestaltet eine Familie ein Fenster, Menschen  versammeln sich vor der Wohnung oder dem Haus. Während einer kleinen Adventsandacht wird das Fenster feierlich erleuchtet, danach gibt es Glühwein und Kinderpunsch und fröhliche Gespräche. In diesem Jahr ist alles anders, weil: Keine große Menschenansammlungen auf kleinem Raum undsoweiter. Aber sonntags treffen wir uns – draußen und mit Abstand und Masken, zu einem ökumenischen Gottesdienst. Ich durfte heute die Eröffnungsrede halten. Und schreibe sie auch hier hin:

Heute ist der erste Advent und er ist so ganz anders als sonst. Wir versammeln uns draußen, mit Abstand. Es gibt keinen gemeinsamen Glühwein, keinen Kinderpunsch, keine Plätzchen. Und der Text, über den ich heute sprechen soll, steht im 24. Psalm, Vers 7. Martin Luther hat ihn so übertragen: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“

Worte, die in diesem Jahr auf den ersten Blick so gar keinen Sinn ergeben. Denn was wir genau nicht tun können, ist, die Tore weit aufmachen, die Türen öffnen für Verwandte und Freunde, für Kolleg*innen und Bekannte. Keine Adventsfeiern, kein Weihnachtsessen in gemütlicher Runde, kein Beieinandersein, kein Kerzenschein, denn die Kerzen gehen beim Lüften so schnell aus. Machet die Tore weit… fällt also aus. Aber was dann?

Es gibt noch einen anderen Text für den Advent, den ich seit meiner Kindheit sehr schätze. Es ist der Text eines Adventsliedes und er geht zurück auf die uralten Worte eines lateinischen Hymnus: Rorate, caeli, desuper, et nubes pluant iustum! – Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, lasst den Gerechten regnen!

Im Liedtext wird daraus:

Tauet Himmel den Gerechten! Wolken, regnet ihn herab! Rief das Volk in bangen Nächten,
dem Gott die Verheißung gab, einst den Mittler selbst zu sehen und im Himmel einzugehen.
Denn verschlossen war das Tor, bis ein Heiland trat hervor.

Darin finde ich mich in diesem Jahr besonders wieder. Denn bange Nächte, die hatte ich, die hatten wir vermutlich alle, seit Mitte März zur Genüge. Wir haben gebangt und bangen noch um die eigene Gesundheit und die von lieben Menschen. Haben Sorge um den Arbeitsplatz, um die eigene Existenz. Sorge um Orte und Einrichtungen, die uns etwas bedeuten: Der Chor, das Fitnessstudio, Café, Restaurant, Künstler*innen, Museen, Theater, … Sorge darum, was die Einschränkungen mit uns und der Gesellschaft machen. Für viele die Sorge um die Mehrfachbelastung mit Homeoffice und Homeschooling, ums regelmäßige Lüften, um Desinfektionsmittel, und, und, und … Da kann einem schon einmal angst und bang werden.

Und dann eine zweite Welle genau in der Zeit, in der wir sonst so gerne zusammenrücken. Tauet Himmel, denke ich und wie schön es doch sein könnte, wenn mit einem kräftigen Landregen das Virus und die Sorgen einfach davongespült werden könnten. Wenn es Vernunft regnen würde und Langmut. Würde es doch Solidarität regnen mit denen, denen es nicht gut geht – wirtschaftlich, finanziell, gesundheitlich. Ein Regen aus Hilfsbereitschaft mit denen, die zu einer der Risikogruppen gehören und mit denen, die sich engagieren an Teststationen und Notaufnahmen, in Pflegeheimen und Laboren, in Supermärkten und Gesundheitsämtern.

Aber so funktioniert das eben nicht. Nicht einmal bei Gott. Denn der erfüllt zwar den Ruf des Volkes in bangen Nächten und schickt den Gerechten, seinen Sohn. Aber eben nicht als einer, der auftaucht und alle Ungerechtigkeiten beseitigt, alle Armut und Unfreiheit und Versklavung davonfegt. Kein Superheld mit schickem Umhang und magischen Fähigkeiten. Ein Heiland, der ganz anders Heil bringt und heil macht, als man sich das landläufig so vorstellen mag. Ein Kind in der Krippe. Armselig. Hilflos. Auf andere angewiesen.

Für mich liegt genau darin ein Schlüssel, wie wir diesen Advent feiern können – auch ohne gemeinsames Treffen vor den Fenstern, ohne Glühwein und Plätzchenteller, ohne Weihnachtsmarkt und Weihnachtsfeier.

Wir können uns an Gott wenden – ihn anflehen, ihm unsere Sorgen hinhalten, zu ihm bringen, was uns bange macht. Und wir können uns einander zuwenden. Einkaufen für die, die in Quarantäne sind oder zu einer Risikogruppe gehören. Anrufen, wenn wir von jemandem wissen, der einsam ist. Brieffreundschaften pflegen – per MessengerApp, per E-Mail oder ganz altmodisch mit der Post. Jemandem ein Glas Marmelade vor die Tür stellen oder Pesto oder einen kleinen Weihnachtsstern. Die, die technisch affin sind, können anderen helfen, mit den neuen Kontaktmöglichkeiten zurechtzukommen – auch und gerade dann, wenn es gilt, etwas immer und immer wieder zu erklären.

Wer freie Zeit hat, kann der Nachbarin, die auf der Intensivstation arbeitet, das Fensterputzen abnehmen. Wer ein Rezept hat, das nicht nur den Magen, sondern auch die Seele wärmt, kann es an seine Freunde weitergeben, alle kochen es am gleichen Abend und schicken sich die Fotos vom schön gedeckten Tisch via Signal oder WhatsApp. Man kann sich zur gleichen Zeit verabreden zum Gebet – jeder für sich oder gemeinsam via Videochat.

Wer die Möglichkeit hat, kann großzügig sein – dem Obdachlosen in der Fußgängerzone etwas geben, gerade jetzt ein Ehrenamt übernehmen, einer gemeinnützigen Organisation etwas spenden.

Es gibt unzählige Möglichkeiten, das umzusetzen, was im Advent – und darüber hinaus – wichtig ist: Gemeinschaft, Solidarität, Mitmenschlichkeit, Zusammenhalt. Menschwerdung. Sie regnen nicht von oben herab, wir müssen sie selbst finden und selbst tun.

Das wusste übrigens auch der Lieddichter im frühen 19. Jahrhundert. Denn „Tauet Himmel“ hat nicht nur die ersten, so bekannten Verse. In der letzten Strophe heißt es:

Laßt uns wie am Tage wandeln, [nicht in Fraß und Trunkenheit.]
Suchet, um gerecht zu handeln, Wahrheit, Fried und Einigkeit.
Jenem gänzlich nachzuarten, dessen Ankunft wir erwarten.
Dieses ist der Christen Pflicht, wie es der Apostel spricht.

Das biblische Weihnachten, auf das wir uns vorbereiten, ist kein Spektakel, es besteht aus kleinen Wundern. Aus einem Kind und aus Menschen, die pragmatisch das Beste daraus machen. Die – wie die Hirten – nichts haben, und eben sich selbst mitbringen an die Krippe. Die sich auf Neues einlassen und Wege gehen, die sie noch nie gegangen sind, wie die drei weisen Sterndeuter. Und aus den Worten des Engels, denen wir heute noch vertrauen dürfen. Fürchtet euch nicht. Denn euch ist heute der Heiland geboren.

Einen gesegneten Advent wünsche ich uns – trotz allem und gerade darum.

Sternstunde

Das Leben geht immer weiter. Wir haben uns sehr eingeigelt. Außer meinen drei Bürotagen und einem wöchentlichen Einkauf gibt es Live-Kontakte nur mit einem befreundetem Paar. Alles andere findet online oder am Telefon statt. In den vergangenen Wochen hieß das sehr oft, es findet nicht statt. Denn die Arbeitstage machen mich so müde wie lange nicht mehr. Es kostet mehr Kraft als sonst, alle Bälle in der Luft zu halten und pragmatisch damit umzugehen, wenn einer runterfällt.

Morgens ist es lange dunkel und nachmittags schon wieder früh. In der Zeit dazwischen tanke ich Licht und Herbstfarben so viel ich kann und hoffe, dass sie mich über den Winter bringen. Wie schön, dass wir nicht nur einen goldenen Oktober, sondern auch einen ziemlich goldenen November haben. Das ändert aber wenig an den immer gleichförmigen Tagen ohne Verabredungen, ohne Kino, Konzert, Museum. Ohne Übernachtungsgäste und ohne Wochenendtouren zu Freundinnen oder ans Meer. Ohne Käsefondue und Whisky mit den Besten. Ohne – ach, ihr kennt das ja alle.

Was mir am meisten zu schaffen macht, ist, wie schwer es mir fällt, an meinem positiven Menschenbild festzuhalten. Natürlich gibt es all die vielen kleinen (und auch gar nicht so kleinen) Hilfsangebote und Solidaritätsaktionen im näheren und weiteren Umfeld. Die Menschen, die aufeinander achtgeben und die, die das große Ganze im Blick haben und laut sind für Gerechtigkeit und all jene, die keine Stimme haben. Aber die anderen, die werfen lange Schatten auf meine Hoffnung. Die Populist*innen und Verschwörungsverbreiter*innen, die Menschenverachter*innen und – ach, sie sind Legion, die Bekloppten. Die in weiter Ferne und die überraschend nahen.

Und dann sind da plötzlich Gefährtinnen in diesem Internet. Nicht irgendwelche Gefährtinnen, sondern die Gefährtinnen Mary Wards, „meine“ Gefährtinnen. Lauter im wahrsten Sinne des Wortes wunderbare Frauen. Viele von ihnen sind bisher so gar nicht online-affin. Sind durch die vergangenen Monate gegangen ohne Videocalls, ohne digitale Meetings, ohne Skype, Zoom, Facetime und Co. Und doch schlägt eine vor, dass wir unser Jahrestreffen nicht einfach ausfallen lassen, sondern damit ins Internet umziehen. Und statt abzuwägen, ob das überhaupt geht, ob man das schaffen kann, welche Nachteile das hat undsoweiterundsofort, krempeln alle die Ärmel hoch. Diese großartigen Menschen lassen sich auf Neues ein, probieren Dinge aus, von denen sie vor einigen Tagen noch nicht wussten, dass sie sich die zutrauen. Die eine hat eine Idee für eine digitale Ankommrunde, andere kümmern sich um die Gestaltung unserer Vesper, ich kümmere mich um die Technik und darf mit ein paar Online-Neulingen unter der Woche „üben“. Eine organisiert ein virtuelles Dankeschön für die scheidenden Verantwortlichen und ein Willkommen. Und als wir uns treffen, strahlen mir viele Augenpaare entgegen. Wir teilen, was uns bewegt, hören, wie es bei den anderen in allen Himmelsrichtungen aussieht, was die Pandemie mit uns macht – organisatorisch und ganz persönlich. Wir zünden Kerzen an und feiern gemeinsam.

Mehr noch als die Sonne und die farbigen Blätter füllt diese kleine Feier mein Herz auf mit neuer Hoffnung, mit Wärme und Mut und Vertrauen. Hach, hach, hach.