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Erinnerungen an den Annaberg

Zehn Jahre war sie alt, als „die Russen“ ihre Großmutter erschossen. Auf einem Mäuerchen habe sie gesessen mit einer Freundin. da seien die Russen in den Hof gekommen. „Aber es waren gar nicht alle Russen“, sagt sie, „nur zwei.“ Sie wollten sich auf die Tante stürzen und die Großmutter habe gesagt, sie sollen die junge Frau in Ruhe lassen. „Und bumm, bevor man einmal atmen konnte, hatten sie sie zusammengeschossen. Einfach so. Weil sie gesagt hat, sie sollen die Tante nicht anfassen.“ Diese beiden jungen Soldaten, sagt sie, „die waren nicht nett. Schlechte Menschen. Böse. Gemein gegen Menschen. Und frumm waren sie auch nicht, denk ich.“

Danach waren sie lange traurig auf dem kleinen Hof. Sehr lange. Aber es gab genug Arbeit, die gemacht werden wollte, jeden Tag. Und es gab neue Russen, die kamen. „Dann kamen andere Russen, die waren nett. Eine Frau, die konnte gut kochen. Und ein netter Mann, der half meiner Mutter mit dem Zaun. Und Kinder, die waren nett, die konnten ja nichts für die gemeinen anderen.“

Weit über 80 Jahre ist sie heute. Im Nachbarbett in meinem Krankenhauszimmer erinnert sie sich an ihr Kindheit und Jugend in Oberschlesien. Die Familie ihre Bruders lebt heute noch dort. Einmal im Jahr bringen ihre Kinder und Enkelkinder sie dorthin, für einige frohe Sommerwochen. „Wissen Sie, dort ist es anders .Viel ärmer und einfacher. Aber wir sind eine große Familie und sind dann alle zusammen. Wir sitzen im Garten und das ist schön.“

Das Wallfahrtslied ihrer Kindheit kann sie noch immer auswendig. Man kann hören, wie schön ihre Stimme in ihrer Jugend gewesen sein mag. „Die Wallfahrten waren das schönste. Da kamen Prozessionen aus allen Richtungen. Mit Blaskapellen und Fahnen und Lachen und Beten. Aus allen Richtungen kamen sie.“

„Ich war eine Frau, aber ich habe immer eine Arbeit gehabt. Ich war auf einer Schule für Hausarbeit. Und dann bin ich mit dem Fahrrad jeden Tag 12 Kilometer hin und 12 Kilometer zurückgefahren zu meiner Arbeit. Auch im Regen. Oft im Regen. Jeden Tag.“ Das mit dem Fahrrad sei die Idee ihrer Mutter gewesen. „Sie hat für mich gespart. ‚Mit einem Fahrrad bist du unabhängig‘, hat sie immer gesagt und Geld zur Seite gelegt. ‚Mit einem Fahrrad kannst du ein eigenes Leben haben und musst nicht hoffen, dass der Nachbar oder der Onkel dir Geld gibt, wenn du für sie schuftest.‘ Denn wenn ich immer da gewesen wäre, dann hätten die gedacht, sie müssen mich nicht bezahlen.“ Sie zieht die Nase kraus. „Manche Menschen sind so, die denken nur an sich.“

„Du musst für einen guten Mann beten“, habe ihre Mutter ihr gesagt, da war sie noch nicht einmal ein Teenager. „Ich habe gedacht: Ich habe einen guten Vater, da können die Männer doch nicht schlecht sein.“ Aber gebetet habe sie trotzdem. Auch für einen guten Mann. Jeden Tag. Und dann habe sie einen bekommen, einen schlauen und guten Mann. Fotograf sei der gewesen, er habe sich nicht geschont. Und er habe ihr gezeigt, wie man gute Fotos macht. Sie hat ihm das Stativ aufgebaut, oder die Menschen für Gruppenbilder aufgestellt. Sie weiß, wie man im Gegenlicht fotografiert und wie man den Lichteinfall in einer Kirche nutzt, dass die Priester keine Schatten im Gesicht haben. Und dann ist ihr Mann gestorben – vermutlich vergiftet von den Dämpfen in der Dunkelkammer.

Nachmittags kommen die Kinder und Enkel zu Besuch. Jeden Nachmittag. Sogar Urenkel gibt es in großer Zahl. Jeden von ihnen ermahnt sie, für einen guten Mann oder eine gute Frau zu beten. Die jungen Leute kennen die Geschichten längst in- und auswendig. Aber genervt ist keiner. Lieber planen sie gemeinsam die Reise nach Schlesien im Sommer und lachen gemeinsam.

Aussterbende Traditionen

Vor kurzem waren wir auf einen Geburtstag eingeladen. Sogar zu zwei runden, zu denen die Gastgeber ein gemeinsames Fest veranstalteten und zu dem sie Menschen aus allen Himmelsrichtungen und allen Zeiten ihres Lebens eingeladen hatten. Ein schönes, ein rauschendes Fest mit liebevoller Dekoration, guten Gesprächen, leckerem Essen, fröhlichen Vorträgen und Reden – und mit Musik. Viel Musik.

Einer der Gäste war ein geübter (Vor-)Sänger und stimmte Lieder an, die alle mitsingen konnten. Oder doch zumindest fast alle. Alte Hits aus der „Mundorgel“, Lieder, die wir als Kinder auf langen Autofahrten mit unseren Eltern oder im Zeltlager am Lagerfeuer sangen, Volkslieder, Allzeit-Beliebt-Klassiker, die wir mit der Stadtkapelle ungezählte Male bei Volksfesten zum Besten gegeben haben. Wer sich nicht zu singen traute oder eine Melodie nicht kannte, der konnte bei einigen Liedern aufstehen oder winken, wenn ein bestimmtes Wort gesungen wurde.

Später setzte sich jemand ans Klavier, ein anderer hatte seine Gitarre mitgebracht und das eigens gestaltete Liederheft mit kölschen Klassikern (mit den abgedruckten Texten für die „Immis“) wurde herumgereicht.

Die Gastgeber hatten mit einer heiteren Vorstellungsrunde dafür gesorgt, dass ihre Gäste einen Überblick bekamen, wer von denen, die man noch nicht kannte (und auch von denen, die man bereits kannte) gemeinsame Interessen teilt und dabei hatte man schon sehen können, dass etwa ein Drittel der Anwesenden die Vorliebe der Geburtstagskinder für Chorgesang ebenfalls ihr eigen nennen. Doch mitsingen konnten noch viel mehr.

Auch bei einem Familienfest in der Eifel wurde vor einiger Zeit ganz selbstverständlich das ein oder andere Lied angestimmt. Alle Menschen meines Alters und darüber konnten mitsingen, die meisten auch ohne Textblatt.

Ich bin auf dem Land großgeworden, wo runde Geburtstage mit Spielen und Späßen gefeiert wurden. Ich habe in einem symphonischen Blasorchester gespielt, mit dem wir neben der „ernsten“ Musik auch Umzüge, Volksfeste, Frühschoppen und andere Veranstaltungen umrahmt haben. Dort kannten die Besucher natürlich die diversen Strophen des Badnerlieds, ‚Tief im Odenwald‘, ‚Hoch auf dem gelben Wagen‘, und wie sie alle hießen, waren Lieder aus der böhmischen Tradition und Oberkrainer Polkas allgemein bekannt, so dass sie fröhlich mitgesummt wurden, bei diversen – immer vorhersehbaren und daher immer im richtigen Moment aufgelegten – Märschen wurde mit dem Bierkrug der Takt mitgeklopft und der Kapelle dann von jemanden, der gerade nicht erst den ersten Krug leerte, eine Runde ausgegeben.

Dinge, die ich nicht vermisst habe und die in meinem Leben üblicherweise keine Rolle mehr spielen. Vor allem, wenn es um Liedtexte geht, die klassische Geschlechterrollen feiern, indem sie Männer als tollkühne Eroberer und Frauen als hübsche Heimchen am Herd besingen, bin ich froh, dass das vorbei ist. Die verschwanden allerdings vor mehr als 25 Jahren schon nach und nach aus den „Playlists“ – aber vermutlich sind sie noch immer irgendwo im Einsatz.

An dem Festabend neulich wurde mir bewusst, dass diese Art des Beisammenseins, diese Art von Gemütlichkeit und Gemeinschaft eine Tradition ist, die – zumindest in meinem Umfeld – nach und nach aussterben wird. Mein städtisch geprägter Freundeskreis kennt das alles nicht oder nicht mehr. Feste werden anders gefeiert, Gemeinschaft entsteht durch andere Riten. Wenn der Lieblingsmensch in einigen Jahren rundet, wird es kein Liederheft geben und niemanden, der spontan aufsteht und Rümcher und Verzällcher anstimmt. Es wird uns nicht fehlen. Aber bemerkenswert finde ich es doch.

 

Erinnerungen an Notre Dame

Gestern um diese Zeit haben wir davon erfahren: Notre Dame steht in Flammen. Noch bevor ich die Bilder vom Brand gesehen habe, waren da andere Bilder in meinem Kopf, in meinem Herzen. Erstaunlich viele Bilder. Und je länger ich darüber nachdachte, warum mich die Nachricht so traurig machte, umso mehr Erinnerungen kamen mir.

In Notre Dame habe ich Zuflucht gesucht als ich während eines Praktikums vom Tod eines guten Bekannten in der Heimat erfuhr.

In Notre Dame habe ich mit einer Freundin ein Orgelkonzert gehört, das mit „freiem Eintritt“ warb und bei dem man am Ausgang von den Wärtern mehr als unfreundlich gebeten wurde, etwas zu spenden – mit Angabe von Summen, die die Organisatoren sich dabei gedacht hatten. Etwas geben wollten wir gerne – aber so viel, das war für uns Studentinnen nicht möglich. Und so stellte ich fest, dass ich in der gar nicht mehr ganz so neuen Sprache durchaus erfolgreich Streitgespräche führen konnte.

An einem Palmsonntag wollte ich gerne den bekannten Kardinal Lustiger in Notre Dame erleben. Doch schon bei der Palmprozession auf dem Vorplatz sah ich, dass da noch ein Kardinal war. Von meinem Sitzplatz in der Kirche konnte ich dank einer Säule den Zelebranten nicht sehen, doch die Stimme und den Akzent erkannte ich direkt, auch ohne dass der Herr neben mir erfurchtsvoll in die Runde flüsterte, „oh, le cardinal Ratzinger“. Ich überlegte, ob ich wieder gehen sollte (ein Fan war ich noch nie), und dachte dann, dass er es ja ebenso mit mir unter diesem Dach aushalten müsse wie ich mit ihm.

Die kürzeste Eucharistiefeier meines Lebens habe ich in Notre Dame erlebt, 23 Minuten (mit Chor). Und während wir Gläubigen noch zur Kommunion gingen, hatte der Priester die Messe schon zu Ende gelesen und war im Eilschritt davongelaufen, die Messdiener ungeordnet hinterherstolpernd.

Während der Abendgottesdienste werden die Besichtigungen fortgesetzt. Ich habe mich in Notre Dame nicht nur einmal wie ein Tier im Zoo gefühlt. Katholikin, seltenes Exemplar, vom Aussterben bedroht, bitte nicht füttern.

Staunend habe ich den Blick erhoben zu den Rosetten und mich am wechselnden Farbspiel der Fenster erfreut. Ich konnte mich nicht satt sehen an den langen, eleganten Säulen und dem hohen Dach. Hand in Hand mit dem Lieblingsmenschen ging ich durch den Chorumgang und bewunderte die Strebepfeiler des Chores.

Wie oft fuhr ich mit der Metro von der Gare de l’Est und später von der Gare du Nord zur Gare de Montparnasse und wann immer ich genug Zeit zum Umsteigen hatte, stieg ich an der Haltestelle Cité aus, um einen Blick auf die Seine und die gotische Schönheit zu werfen.

Mit meiner besten Freundin saß ich stundenlang auf einem Mäuerchen mit Blick auf die Zwillingstürme und redete über Gott und die Welt. Mit einem guten Freund trank ich einige Tage später einen überraschend guten Wein in einem Bistro um die Ecke. Und natürlich hatte ich meinen zerlesenen Victor Hugo in der Handtasche, um darin zu lesen, falls er sich verspätete.

In einem kleinen Antiquitätenladen um die Ecke kauften der Lieblingsmensch und ich zwei Trinkgläser, die wir bis heute nicht nur, aber immer zu besonderen Anlässen nutzen.

Ich mochte das Abendlicht und das Licht der tief stehenden Novembersonne auf ihren Außenmauern – was war ich oft im November in Paris.

Ich schaute schnell zu ihr hinüber, wenn ich zur Sainte-Chapelle ging, die ich lange so sehr gerne hatte, und ich hatte ihr Bild vor Augen, als ich Stefan Zweigs Marie Antoinette vor einigen Jahren wieder las, liegt doch die Concièrgerie gleich um die Ecke.

Noch am Freitag gab ich einer Freundin, die bald zum ersten Mal nach Paris fährt, Tipps und natürlich durfte Notre Dame nicht fehlen.

Die große Kirche mit ihrer Wucht und ihrem Pomp, ihrer beeindruckenden Größe und ihrer wunderbaren Helligkeit war nie mein Lieblingsort in Paris. Und doch hat sie sich mit den Jahren in mein Herz geschlichen. Und dort wird sie bleiben, egal, wie lange der Wiederaufbau dauern wird.

Großflächig anwenden

Ich erinnere mich an viele Gerüche meiner Kindheit. An den Geruch von Spinatpfannkuchen mit Käsesoße zum Beispiel (konnte ich damals üüüberhaupt nicht ausstehen, wie ich heute weiß, ein kolossaler Fehler). Oder den Hagebuttentee, den es auf einer Ferienfreizeit so lange als Standardgetränk gab, bis wir eine Meuterei anfingen inklusive Fußmarsch durch den Wald, um irgendwo Zitronenteepulver zu kaufen. Es gab dann Wasser. Himmlisch. Oder die Mischung aus mit Nelken gespickten Orangen und heißem Bienenwachs als adventlichen Grundton.

Und dann gab es die Gerüche, die zum Gesundwerden passten. Nummer eins war der Zwiebeltee – einer der gruseligsten Gerüche (und leider auch Geschmäcker), die ich kenne.

Stundenlang siedete das Gebräu in der Erkältungssaison vor sich hin und selbst, wenn wir Kinder wieder gesund waren, roch das Haus noch tagelang nach dieser undefinierbaren Mischung aus süßlich, bitter und ranzig. Allein der Hinweis, es werde nun Zwiebeltee aufgesetzt machte mich schon halbwegs gesund – zumindest behauptete ich das standhaft; und musste das Gebräu dann trotzdem trinken. Da halfen auch Kandiszucker und eine zugehaltene Nase nicht.

Das zweite Hausmittel, auf das meine Mutter schwor, roch ähnlich intensiv, beduftete das Haus mindestens ebenso langanhaltend, aber im Gegensatz zum Zwiebeltee mochte – und mag – ich den Duft immer sehr. Das geheime Hausmittel war Ringelblumensalbe. Selbstverständlich selbst gekocht.

Die Ringelblumen blühten vor ihrem Einsatz in der Küche gelb-orange im Garten und waren für uns Kinder kein besonderes Highlight. Ganz hübsch, aber nicht so wunderbar wie Gänseblümchen, mit denen man Kränze flechten, Hüpfkästchen markieren oder romantisch-philosophische Gedanken machen konnte (aber das ist eindeutig eine andere Geschichte). Sie zogen nicht so viele Bienen und Schmetterlinge an wie andere Blüten und probieren konnte man sie auch nicht, wie die Brunnenkresse, deren Blüten auch noch strahlender leuchteten.

Kaum gepflückt und in den Kochtopf gewandert, wurden die Ringelblumen aber Superstars.  Ihre Salbe hilft vor allem gegen Mückenstiche (und außer dem Lieblingsmenschen liebt mich vermutlich niemand so sehr wie Stechmücken; ich sehe den halben Sommer aus wie Streuselkuchen, die Viecher stechen durch Socken und Hosen, durch T-Shirts und dicke Leinenblusen, in Knöcheln, Zehen, Handgelenke, Arme, Beine, hinter die Ohren, in die Nase,… sie lassen nichts aus). Also die Ringelblumen halten die Viecher nicht fern, aber sie lindern den Juckreiz. Langanhaltend. Juhu.

Außerdem ist selbstgemachte Ringelblumensalbe schön fettig und hilft wunderbar gegen rissige Haut, aufgeplatzte Lippen, Hornhaut an den Füßen. Sie zieht angenehm schnell ein und hinterlässt nur diesen sanften Blumenduft, der auch einsame Winterabende und klebrig-warme Sommernächte erträglicher macht.

Da ich schon immer viel schwitze – vor allem im Gesicht – hilft Sonnencrème wenig. Gegen eine juckende rote Nase hilft… naja, ihr wisst schon. Gegen kleine Schürfwunden, zur Ermutigung nachwachsender Haut unter Blasen und gegen schwere, müde Beine nach einem langen Tag wirkt das Zeug natürlich auch. Es ist schließlich aufgetankt mit viel Sonne, mit Wasser, das in großen Kannen durch den Garten getragen wurde, mit Zeit zum Wachsen und Kochen – und mindestens ebenso viel Liebe.

Und so sitze ich nun hier, bin sehr dankbar und gerührt über das kleine Päckchen, das ich heute von meiner Mutter bekommen habe, habe den Mückenstichen den Kampf angesagt und rieche von Kopf bis Fuß nach Ringelblumensalbe. Hach.

Sommerregen und Erinnerungen

Und dann regnet es plötzlich wirklich. Es fängt gerade an, als ich aus dem Zug steige. Die meisten Menschen eilen Richtung Bahnhofsvordach, aber einige – so wie ich – stellen sich mitten in den Regen und fangen an zu strahlen. Langsam gehe ich über die Straße, auf der die dicken Tropfen platzen und in kleineren Tröpfchen um meine Füße herumtanzen.

Ich atme tief ein und da ist er. Dieser ganz spezielle Geruch nach nassem, heißen Asphalt. Dieser wunderbare Sommergeruch nach Straße und Staub und Teer und Kindheit. Dieser Geruch ist eine meiner liebsten Kindheitserinnerungen. In der Sackgasse spielten wir Fangen oder Verstecken oder Schnitzeljagd oder lieferten uns Wettkämpfe in Hüpfgummihüpfen oder Langsam-Fahrradfahren. Und dann regnete es plötzlich diese langsamen, schweren, großen Landregentropfen. Und in der Luft liegt in Sekundenbruchteilen dieser ganz besondere, spezielle, wunderbare Geruch einer staubigen, wenig befahrenen Straße im Sommer. Kein Gedanke daran, mit dem Spielen aufzuhören und ins Haus zu laufen. Der Regen kühlt die Luft nicht ab, wenigstens nicht sofort. Und meistens hört er genauso schnell wieder auf, wie er gekommen ist.  Vorher drehen wir uns im Kreis und versuchen, einen Regenbogen zu entdecken, weit kann die Sonne schließlich noch nicht sein.

So ist es noch heute. Ich gehe langsam, mit erhobenem Kopf durch den prasselnden Regen, ich lächle vor mich hin und atme besonders tief ein und aus und genieße das, was mein Sommergeruch ist, mehr noch als sonnengecremte Haut oder windgetrocknete Bettwäsche.

Nach dem Duft nach Staub, Teer und nassem Asphalt kommt der nach nassem Gras. Durch die lange Trockenheit riecht es mehr wie feuchtes, staubiges Heu. Auch einer meiner Sommer-Lieblinge.

Von irgendwoher treibt der Wind schweren, süßen Blütenduft herbei und ich überlege, ob ich einen Umweg mache. Ich spüre die Tropfen auf den bloßen Armen, die ersten Tropfen laufen mir aus den zu langen Ponyfransen ins Gesicht. Die näher kommenden Blitz und Donner bringen mich von der Idee ab, den Spaziergangs durch das kleine Waldstück um die Ecke zu verlängern.

Als ich ein paar Minuten später die Haustür aufschließe, lässt der Regen schon wieder nach. Noch einmal atme ich tief ein, schon ist er wieder weg, der Sommer-Erinnerungs-Lieblings-Duft und von irgendwoher höre ich die erste Hummel, die sich unter einer großen Blüte verborgen hatte und nun wieder Richtung Lavendelbusch brummelt.

Allerseelen und die Allée couverte de Lesconil

allee couverte in Lesconil bei Douarnenez

 

Allerseelen. Nach dem Fest der Heiligen gestern heute nun das Fest aller Verstorbenen, aller Seelen. Erinnerung an Menschen, die wir nicht nur geliebt haben, sondern immer noch lieben. An Menschen, die uns geprägt haben. An Menschen, die uns wichtig sind – ob wir sie nun gekannt haben, oder nicht. Ein Tag, um zum Friedhof zu gehen. An einen Ort, an dem wir uns besonders gut an unsere Verstorbenen erinnern.

Als ich klein war, fuhren wir zu Allerheiligen und Allerseelen oft in die Heimatdörfer meiner Eltern. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir durch die Reihen der Gräber gingen. Wir Kinder kannten nur die Gräber unserer Großeltern oder Urgroßeltern. Doch meine Eltern kannten viele der Namen auf den Grabsteinen. Und natürlich auch die Angehörigen, die um die Gräber standen. Es waren stille Begegnungen, mit geteilten Erinnerungen und Fragen nach dem Hier und Heute. Wir Kinder wurden mit dem Bild verglichen, das man sich ein Jahr zuvor gemacht und gemerkt hatte – was waren wir gewachsen, sahen fast schon wie junge Damen aus, glichen immer mehr dem einen oder der anderen. Was man eben so sagt.

Und doch erinnere ich mich nicht daran, dass mich diese immergleichen Floskeln auf dem Friedhof genervt haben. Bei Familienfeiern, zufälligen Begegnungen, allen möglichen anderen Anlässen waren solche Bemerkungen lästig und nervtötend. Aber auf dem Friedhof spürte ich etwas von der Geschichte, die mich mit diesen Menschen verband, und dort konnte ich mich besonders gut erinnern. Zum Beispiel an den Holzstuhl mit den runden Armlehnen, in dem mein Großvater uns nach dem Mittagessen Märchen erzählte – auf Eifler Platt, das wir nur teilweise verstanden, und dessen Klang wir so sehr liebten. Oder an das Klackern des Stockes, mit dem er die Treppe zum Hof hinunterging, um auf der Bank vor dem Haus in der Sonne zu sitzen.

Einen Ort der gemeinsamen Erinnerung zu schaffen, einen Ort, der nicht für jeden individuell ist, sondern der Menschen zusammenbringt, um gemeinsam zu trauern, um sich gemeinsam zu erinnern, um gemeinsam in die Zukunft zu schauen ist keine neue Idee. Ein solches Totengedenken – Menschengedenken – ist eine uralte Kulturtechnik. Die ersten markierten Gräber gab es schon vor über hunderttausend Jahren. In allen Zeiten seither schufen Menschen Orte, an denen sie sich erinnern können an geliebte Menschen, an Familienmitglieder, Freunde, Stammeshäuptlinge.zwischen den steinen des Galeriegrabes

Ganz verschieden waren die Grablegen; einfach und schlicht, mit einem Stein oder Naturmaterialien markiert oder prachtvoll wie die Pyramiden. Mit oder ohne Grabbeigaben, die den Status der Toten markieren oder ihnen einen guten Übergang in eine andere Welt ermöglichen sollten. Von berühmten Künstlern gestaltet wie die Gräber in der Kathedrale Saint Denis oder ihrem weltlichen Pendant, dem Pantheon in Paris.

Und dann war da noch das Neolithikum, die Jungsteinzeit. In der Bretagne brachte sie nicht nur eine starke Veränderung des Ackerbaus, sondern mit der Sesshaftigkeit auch ganz besondere Gräber. Die allées couvertes, oft an markanten Punkten, auf Hügeln oder auf dem höchsten Punkt einer Bucht gelegene Galeriegräber. Einige von ihnen sind bis heute erhalten. Und eigentlich hat mich jedes beeindruckt, das ich gesehen habe. In diesem Sommer war ich aber ganz besonders fasziniert. Nach einem langen Bummel durch das Hafenbecken und die Altstadt von Douarnenez machten wir einen Abstecher zur Allée couverte von Lesconil. Seit Jahrtausenden lehnen die Steine gegeneinander und erinnern daran, dass hier jemand begraben wurde, der besonders geschätzt, respektiert, geliebt – vielleicht auch gefürchtet – wurde.allée couverte de lesconil

Durch die alten Steine und das Licht, das durch die Baumwipfel fällt, wirkt die Szenerie romantisch, fast ein wenig mystisch. Man hört nichts außer dem Rascheln von Blättern, Knacken von Ästen, Summen von Bienen. Mit etwas Fantasie kann man vorwitzige Kobolde hinter den Farnbüscheln kichern hören. Und wie Geschichten von Fee entstanden sind, die in der Morgendämmerung an verwunschenen Orten verträumt miteinander tanzen, das versteht man hier auch.aneinander gelehnte steine

Auch wenn wir nicht wissen, für wen dieser Erinnerungsort gebaut wurde – etwas von diesen Menschen ist geblieben. Etwas von ihrer Kultur, ihrer Art, miteinander umzugehen, ihrem Sinn für Kunst und Architektur. Etwas ist geblieben. So verschieden wir sind, so unterschiedlich unser Wissen, unsere Weltsicht, unsere Lebensweise sein mag – an der Allée couverte de Lesconil stand ich, fasziniert, beeindruckt, angerührt. Voller Dankbarkeit für Erinnerungen über alle Grenzen hinweg. Voller Träume und Hoffnungen für die Zukunft. Und voller Leben.

 

Das Cap Sizun und die Bucht von Douarnenez sind reich an großen Naturschönheiten. Neben der bekannten Pointe du Raz – Grand site de France – und der Pointe du Van, die wir so sehr lieben, gibt es viele kleinere, kaum weniger spektakuläre Landspitzen. Die Pointe de Brézellec zum Beispiel oder die Pointe du Castelmeur, die Baie des Trépassés und so viele andere mehr. Die Allée couverte von Lesconil liegt hingegen etwas abseits des Weges. Vom kleinen Wanderparkplatz aus sieht man nur eine Wiese und ein kleines Wäldchen. Die ersten Meter sind mit einem hölzernen Geländer markiert, damit man nicht die Felder der Bauern platt tritt. Im Wäldchen angekommen gibt es einen kleinen Fußweg, auf dem nur eng umschlungene Liebespaare noch nebeneinander gehen können.

wäldhcen in der nähe der allée couverte de lesconil

Und dann ahnt man am Wechsel des Lichteinfalls plötzlich, dass hinter der nächsten Wegbiegung eine Lichtung liegen könnte. Und nur ein paar Schritte weiter steht man dann vor den gegeneinandergeschichteten Steinen. Daher ist dies nicht nur ein Beitrag zu Allerseelen, sondern auch zur Blogparade „Die kleinen Dinge am Wegesrand“ von Berg und Flachlandabenteuer.

Schaut dort vorbei und genießt die vielen schönen Kleinigkeiten, die so große Freude machen.

 

Familiengeschichten: Deutsch-französischer Grenzverkehr

Bei Proust ist es eine Madeleine, die die Erinnerungen an die Kindheit des Erzählers der Suche nach der verlorenen Zeit zurückbringt. Bei mir sind es zum Beispiel Orangen, die Erinnerungen auslösen, Erinnerungen an meine Großeltern im Saarland. Ganz besonders an meinen Großvater. Opa Paul, wie wir Kinder ihn nannten, war Bergmann. Solange ich denken kann, hing seine Bergmannsmütze an einem Nagel. Es muss noch eine Mütze gegeben haben, eine blaue mit französischen Aufdruck: Denn vor dem Bergbau war Opa zuerst einmal französischer Grenzpolizist. Nach dem Krieg, von dem er uns Enkeln nie erzählt hat, und von dem er auch seinen Kindern kaum etwas erzählt hatte.

Meine Mutter erinnert sich, dass er einmal davon erzählte, wie sie auf der Flucht in Polen durch einen Fluss schwimmen mussten, neben ihm wurden Soldaten erschossen. Irgendwie hat er überlebt. Und wurde nach dem Krieg Grenzer bei den Franzosen. Das Saarland gehörte bis 1956 als Protektorat zu Frankreich. Und er tat Dienst an der Grenze. Kontrollierte Grenzgänger, suchte nach Schmuggelware. Eines Tages musste er Orangen beschlagnahmen. Eine ganze Schale voll. Waren sie nicht verzollt? Gab es Hinweise darauf, dass sie gestohlen waren? Ich weiß nicht, warum er sie beschlagnahmen musste. Aber da stand nun diese Schale Orangen. Was tun, mit den süßen, in seinem Dorf so seltenen Früchten? Eigentlich hätte er sie wegwerfen müssen. Natürlich. Schließlich war er ein Mann des Staates, ein Ordnungshüter. Ich erinnere mich daran, dass wie dieses Wort beim Erzählen jedes Mal besonders betont aussprach.

Ich erinnere mich auch an seinen Hut, den er abnahm, um ihn in den Händen zu drehen und ihn dann, jetzt aber ganz gerade, wieder aufzusetzen. Ich erinnere mich an die Kreuzworträtsel, die er so gerne löste – von oben links nach unten rechts. Bloß nicht wild durcheinander. Auf die Weiße-Rabe-Zigarillos, die er rauchte und deren Schachteln immer genau übereinander gestapelt im Schrank lagen, neben einer Packung Salzstangen, aus der für uns Kinder manchmal eine Handvoll entnommen und in ein nur dafür benutztes Glas mit blau-goldenem Muster gestellt wurde. Das Glas wurde nach dem Kinderansturm wieder genau in die Mitte des Spitzendeckchens auf dem Büffet zurückgestellt. Ordnung eben.

Aber dieses eine Mal hütete Opa Paul nicht die Ordnung. Sondern einen Schatz. An diesem einen Tag ließ er die Vorschriften Vorschriften sein. Und freute sich auch Jahre danach diebisch über seine Traute. Wenn er erzählte, wie er die Orangen still und heimlich und vor allem schnell in seiner Tasche verschwinden ließ, wie er sich vorstellte, wie seine Frau – meine Oma – sie zu Hause schälen würde. Wie sich alle an der exotischen Süßigkeit freuen würden. Wenn er das erzählte, war er ein Held, mein Held. Warum ich euch das erzähle? Ich habe heute Orangen gekauft…

Erinnerungen an Harry Rowohlt

Als ich den Lieblingemenschen kennenlernte, entdeckte ich ziemlich schnell in seinem Bücherregal ein Buch, dass vorher irgendwie an mir vorbeigegangen war, dass ich aber unbedingt und sofort ausleihen musste. Und so verliebte ich mich nicht nur in meinen Mann, sondern auch in einen Bären von sehr geringem Verstand.

Pu der Bär war gleichzeitig meine erste Begegnung mit Harry Rowohlt. Mit den Jahren wurde ich eine begeisterte Leserin von Pooh’s Corner in der Zeit und las irische Bücher, die ich sicher nie entdeckt hätte, einzig und allein, weil sie von Rowohlt übersetzt waren.

Vor einigen Jahren haben wir ihn in Köln lesen hören. Wobei eine Lesung mit ihm ja immer eine Art Erlebnis, ein Event für alle Sinne war. Als wir durch die Fußgängerzone Richtung Buchhandlung bummelten, überholten wir einen sehr langsam vor sich hinschlurfenden Menschen mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und gesenktem Kopf. Erst als wir schon fast vorbei waren, wurde uns klar, wer das ist. Fast unsichtbar hatte er sich gemacht. Umso sichtbarer wurde er während des Abends, der für uns unvergesslich blieb.

Natürlich wollten wir am Ende auch ein Autogramm auf unser Hörbuch. Die beiden Damen vor uns unterhielten sich lange mit ihm und wir warteten geduldig, aber auch nicht eben kurz. Was uns in den Genuss brachte, dass Harry Rowohlt auch mit uns etwas ausführlicher plauderte. Die beiden Damen vor uns waren wohl aus der Kantine vom Lindenstraßen-Set und da er einige Folgen lang nicht vorgekommen war, hatte man Erzähl-Nachholbedarf. Ob wir gewusst hätten, dass er sich selbst für die Rolle vorgeschlagen hätte? Habe er. Und das, obwohl er dafür regelmäßig von Hamburg nach Köln kommen müsse.

Es gibt viele lange Nachrufe, aber Isabel Bogdan sagt es mit wenigen Worten besonders treffend. Er wird uns fehlen.

 

Begegnung in der Buchhandlung

Ich werde immer wieder gefragt, warum ich die Bretagne so liebe. Da könnte ich natürlich tausend und eine Geschichten erzählen von der Schönheit der Natur, dem Meer (immer das Meer), den Felsen und dem wirklich außergewöhnlich schönen Wechsel der Gezeiten. Ich könnte schwärmen von architektonischen Highlights, von Granitspitze und Fachwerk, von Leuchttürmen und Inseln, von Kormoranen und Papageientauchern, Seehunden und Delphinen. Ich könnte erzählen von Legenden und Märchen, von Traditionen und modernen Brüchen derselben. Und das tue ich ja in der Regel auch.

Vier gebrauchte Bücher von Henri QuéffelecAber solche naturgegebenen und menschengemachten Schönheiten gibt es ja auch andernorts. Und natürlich gibt es auch andere Orte, an denen ich dieses „schockverliebt“-Gefühl schon gespürt habe, das ich hatte, als ich zum ersten Mal das Schild „Bienvenue en Bretagne“ am Straßenrand gesehen habe. Was die Bretagne für mich so besonders macht, sind die Menschen, denen ich dort begegnet bin. Menschen, die einem nicht nur offen begegenen, weil man als Touristin Geld mitbringt. Sondern Menschen, mit denen sich echte Gespräche ergeben haben. Die von ihrem Leben erzählen und mir einen Einblick gegeben haben, in das, was es heißt, am „Ende der Welt“ zu leben. Im Laufe der Jahr habe ich zahlreiche solche Begegnungen gehabt. Eine davon war in einer Buchhandlung in Bécherel.

Ich habe meine Magisterarbeit über Henri Queffélec geschrieben und habe dafür einige Wochen in der Bretagne recherchiert. Da es nicht alle Bücher, die ich gerne gelesen hätte, in der Unibibliothek in Rennes und auch nicht mehr im Buchhandel zu kaufen gab, habe ich versucht, sie antiquarisch zu bekommen. Und wo geht das wohl besser als eben in der Bücherstadt Bécherel. Dort reiht sich Buchhandlung an Buchhandlung, Antiquariat an Antiquariat. Und überall stehen die größten und nettesten Bücherwürmer der Welt hinter den Verkaufstresen, servieren den stöbernden Gästen Kaffee oder Tee, empfehlen das zum jeweiligen Literaturgeschmack passende Teilchen vom nahegelegenen Bäcker und sind auch ansonsten gerne zum Plaudern aufgelegt.

In einem der Läden fing der Besitzer von innen heraus zu strahlen an, als ich ihn nach Büchern vom „Grand Keff“ fragte. Und wollte sofort mehr darüber wissen, warum ich danach auf der Suche war. Also erzählte ich ein wenig von der geplanten Arbeit, davon, was ich schon gelesen hatte und wir kamen ins Diskutieren, welcher von Queffélecs Romanen der beste sei und welche ich unbedingt noch lesen müsste. Schließlich kletterte der ältere Herr auf eine Leiter, stieg in den Keller hinab und stöberte auch sonst noch eine Weile herum, um schließlich mit drei Büchern zurückzukommen. Zwei wollte er mir auch gerne verkaufen, das dritte war aber eines aus seiner privaten Sammlung und unverkäuflich. Henri Queffélec hatte es nach einer Lesung in der Buchhandlung ausführlich und sehr persönlich signiert. Und als ich endlich verstanden hatte, dass der nette Herr „meinen“ Autor persönlich kennengelernt hatte, brühte er noch einen Kaffee auf, ich packte meinen Block aus und machte mir eifrig Notizen für das Biografie-Kapitel meiner Arbeit.

Irgendwann musste ich dann aber zusammenpacken, um den letzten Bus zurück nach Rennes nicht zu verpassen. Und da fragt doch der freundliche Ladenbesitzer, an welcher Uni ich eigentlich studiere. Meine Antwort – Freiburg im Breisgau – konnte er kaum glauben. Wie ich das denn mache, wenn ich täglich aus Frankreich dorthin fahren müsse. Oder ob ich während des Semesters eine Wohung dort hätte? Ich verstand ihn erst gar nicht, aber schließlich kam doch bei mir an, dass er nicht mitbekommen hatte, dass ich gar keine Französin, sondern Deutsche bin. Meinen Akzent hatte er für elsässisch und meine Grammatikfehler für das übliche mangelnde Sprachgefühl der „Jugend von heute“ gehalten.

Ich erinnere mich noch genau an die plötzliche Stille, die das fröhliche Geplauder der vergangenen Stunden so jäh unterbrach. An das tiefe Luftholen meines Gegenübers, an sein Zögern, bevor er mir sagte, dass er gar nicht mit mir gesprochen hätte, wenn er gewusst hätte, dass ich Deutsche bin. Im Krieg hatte er viele Familienmitglieder verloren und bewusst hatte er noch nie ein Gespräch mit jemandem aus Deutschland geführt und eigentlich hatte er das auch nicht mehr ändern wollen.

Ich weiß nicht, wer von uns beiden überraschter war, dass es diesen Nachmittag mit intensiven Gesprächen, geteilten Erinnerungen und Hoffnungen, die Stunden mit intellektuellem Streit über die Qualität von Büchern, mit Lachen und Kaffeetrinken unter diesen Umständen gegeben hatte. Gerade als ich mich wortreich entschuldigen wollte, dafür, dass ich ihn unbewusst zu etwas gebracht hatte, was er so sehr ablehnte und was schmerzhafte Erinnerungen in ihm weckte, nahm er mich am Ellbogen, gab mir ein Küsschen rechts und links und noch eines rechts und wieder links und wünschte mir viel Glück für meine Arbeit. Ich solle mir keine Gedanken machen, er habe in seinem Alter ganz überraschend noch etwas dazugelernt. Und ich solle auf keinen Fall den Bus verpassen. Ich habe ihm am Ende ein Exemplar meiner Arbeit geschickt – in der er natürlich dankend zitiert wurde – und eine kleine Postkarte mit nur einem Satz zurückbekommen: Danke für den Nachmittag.

Es sind solche Momente und Begegnungen, solche Menschen, die mir das Gefühl geben, in der Bretagne immer auch ein Stück meines Herzens zurückzulassen wenn ich wegfahre und es bei jedem neuen Besuch wiederzufinden.

Familiengeschichten: Kriegsende in der Eifel

Mein Vater stammt aus der Eifel. Er ist dort auf einem Bauernhof groß geworden. Im letzten Jahr habe ich ihm und seiner älteren Schwester – meiner Patentante – Löcher in den Bauch gefragt, wie es früher war. Natürlich kannte ich schon vorher ich viele Geschichten von früher, habe über die Jahre hinweg viele Erinnerungen gehört, viele Anekdoten immer wieder erzählt bekommen. Aber durch die vielen Jahrestage und vermutlich auch, weil wir alle nicht jünger werden, wollte ich mehr wissen, Geschichten, an die ich mich nur halb erinnerte, Erzählfetzen, die irgendwo angerissen herumlagen, zu echten Erzählungen zusammenzufügen. Einige der Geschichten, die ich gehört habe, berühren mich besonders. Darunter das, was am Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Hof meiner Großeltern in der Eifel geschah. Dieser Tage jähren sich diese Ereignisse zum 70. Mal. Daher erzähle ich sie euch weiter.

Mein Großvater hatte im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft und ein steifes Bein zurückbehalten. Er wurde daher nicht eingezogen und war zu Hause. Als die Front immer näher kam, hatte er einen seiner Cousins und dessen Familie bei sich aufgenommen. Die drei ältesten Söhne des Cousins waren an der Front, doch seine Frau, die 20-jährige Tochter und die beiden kleinsten Kinder lebten einige Wochen zusammen mit meinem Großvater, meiner Großmutter, meinem Vater und seinen beiden älteren Geschwistern auf dem Hof. Bei Bombenalarm versammelten sich alle Familienmitglieder im Keller. Auch der russische Kriegsgefangene, der  bei einem Angriff auf dem  Feld schwer verletzt worden war und den mein Großvater unter Einsatz seines Lebens mit dem Pferdewagen zum Arzt gefahren hatte, wurde in den Keller getragen. Vor die Kellerfenster hatte mein Opa schwere Holzbretter gestellt.

Nicht nur die Menschen flüchteten dorthin, auch der Hofhund rannte beim Klang der Sirenen in den Keller so schnell er konnte. Eines Tages hatte sich auch ein Soldat in den Keller gerettet. Mein Vater, der damals knapp drei Jahre alt war, habe auf den zitternden Soldaten gezeigt und seiner Schwester zugeflüstert: Guck mal, der Mann hat genauso viel Angst wie unser Hund.

Allerdings bot der Keller nicht so viel Schutz, wie die Familie gehofft hatte. Am letzten Tag, an dem in dem kleinen Dorf gekämpft wurde, schlug eine Granate im Hof ein. Ein schwerer Splitter drang zwischen zwei Brettern hindurch, durchschlug das Fenster und traf die Tochter der Gastfamilie ins Herz. Meine Tante sieht bis heute vor sich, wie die junge Frau direkt vor ihr tot zusammenbrach. Auch die Schreie der Eltern kann sie nicht vergessen. Es war der letzte Schuss, der in dem Dorf fiel. Wenige Stunden später kamen die Amerikaner in das Haus meiner Großeltern.

Meine Tante erzählt, dass die Soldaten mit vorgehaltener Waffe von Raum zu Raum gingen. Wie im Krimi seien sie durch die Tür gesprungen und hätten sich hektisch umgesehen. Ein Dolmetscher übersetzte den Befehl, sie sollten sofort das Haus verlassen. Doch mein Großvater legte Widerspruch ein. Wie sollte das gehen, mit einem Schwerverletzten und einer Leiche. Die Amerikaner befragten also den verletzten Russen. Gespannt warteten alle hinter der Tür. Dort hörten sie, wie der ehemalige Gefangene den Amerikanern erklärte: Chef gut, alles gut.

Sicher ein Grund dafür, dass die Familie beim Schreiner des Dorfes einen einfachen Sarg holen durfte, um die tote junge Frau darin in die Kirche zu stellen, damit sie eine ordentliche Beerdigung bekommen konnte.

Der nächsten Wochen verbrachte meine Familie zusammen mit vielen anderen in der Dorfschule, in jedem Klassenzimmer eine oder zwei Familien. Die Kinder durften manchmal auf dem Schulhof spielen. Mein Großvater hatte eine Ausnahmegenehmigung bekommen, er durfte jeden Morgen und jeden Abend zu seinem Hof gehen, das Vieh füttern und die Kühe melken.

Mehr über diese Zeit, konkret über die Befreiung Triers, könnt ihr zum Beispiel hier lesen. In Monschau war der Krieg schon einige Wochen vorher zu Ende, darüber hat im vergangenen Jahr die FAZ berichtet.

Ganz persönliche Familienerinnerungen, in diesem Fall allerdings an den Ersten Weltkrieg, hat Friederike v.C. im Projekt Fürchten lernen – Ein Weltkriegsblog gesammelt. Das Nachlesen der Tagebucheinträge, Briefe und Erinnerungen geht unter die Haut.