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Was schön war: Kleine Wanderung am Cap d’Alprech

Als wir sagten: Wir fahren nach Nordfrankreich, an die Ärmelkanalküste, hörten wir am häufigsten; Oh, ans Cap Griz Nez und Cap Blanc Nez. Die beiden Landspitzen sind weit über die Opalküste hinaus bekannt und beliebt. Und was ist es schön dort. Die Klippen selbst sind atemberaubend schön, die englischen Kreidefelsen tun so, als könnte man sie greifen, wenn man sich nur lang genug machte, hunderte Vögel umschwirren einen auf den langen Spazierwegen und schön gestaltete Hinweistafeln sorgen dafür, dass man alles über die Region, ihre Flora und Fauna und ihre Geschichte erfährt.

Einige Kilometer weiter westlich liegt ein weiteres Cap – so etwas wie der kleine Cousin der beiden großen. Das Cap d’Alprech. Den Leuchtturm konnten wir abends vom Balkon unserer Ferienwohnung in der Ferne leuchten sehen. Und was liegt näher, als das Cap zu umwandern, wo es doch fast vor der Haustür liegt.

Beim ersten Versuch kamen wir allerdings nicht besonders weit. Rund um das Fort d’Alprech fand eine Erinnerungsveranstaltung zum 75. Jahrestag der Befreiung der Gegend von deutscher Besatzung statt. Das Fort war zu diesem Zweck von einer Reenactement-Gruppe zu einem deutschen Feldlager umfunktioniert worden, umlagert von amerikanischen und britischen Armee-Zelten, Oldtimer-Militärfahrzeugen und Soldatendarstellern in improvisierten Schützengräben. Das Fort konnte aus diesem Anlass besichtigt werden – inklusive grimmig dreinschauenden Kontrollbeamten, der gespielt schlecht gelaunt das vorher einzusteckende Soldbuch beäugte und uns in fast akzentfreiem Deutsch zu seinem Kollegen mit dem obligatorischen Stempel weiterschickte.

Die Stimmung in den Bunkern, deren Grundanlage deutlich älter ist als der Zweite Weltkrieg, war trotz des schönen Wetters eher gruselig. Dass von draußen der Duft von frischer Zuckerwatte hereinwehte und fröhliche Klänge eines Elvis-Imitators herüberschallten, gab dem Ganzen eine ganz besondere Atmosphäre.

Beim zweiten Versuch war das historische Event vorbei und wir waren am späten Vormittag fast allein am Cap – zumindest, sobald wir den Leuchtturm mit seiner signifikanten Außentreppe hinter uns gelassen hatten. Schon nach weniger Schritten geht es zum ersten Mal steil die Dünen hinunter und wieder hinauf. Und so gestaltet sich der gesamte Weg bis in den Nachbarort Equihen.

Klippauf, klippab wandern wir um das Cap herum, an besonders steilen Stellen gibt es kleine, ausgewaschene Treppenstufen, hin und wieder führen kleine Holzbrücken über Bäche und Wasserläufe, die einige Meter tiefer plätschernd ins Meer münden.

Das Gekreische der Möwen begleitet uns wie das Rauschen von Wind und Wellen. Immer wieder eröffnen sich Blicke auf kleine Buchten, steile Klippen, mehr oder weniger hohe Dünen. Kleine Blüten am Wegesrand locken einige kleine Bienen und überraschend riesige Hummeln (<3) an.

Nach knapp eineinhalb Stunden (zum einen lässt meine Kondition wirklich noch zu wünschen übrig, zum anderen mussten wir immer wieder stehen bleiben, um den Ausblick zu genießen – beim Gehen ist das aufgrund des unebenen Untergrunds und der vielen steilen Abstiege und Steigungen nicht immer möglich) erreichen wir den Ortsrand von Equihen und einen schönen Aussichtspunkt mit Bänken für unser kleines Picknick.

Zurück gehen wir – ein Tipp unserer Vermieterin – quer über das Cap. Nicht direkt am Meer, die Ausblicke auf den Leuchtturm, das Wasser und die Felsen Englands sind aber auch hier wunderschön.

Zum Schluss legen wir noch einen kleinen Umweg ein, um die Start- und Landebahn der örtlichen Motorgleitschirmschule und das Radarmuseum wenigstens von außen zu betrachten.

Diese kleine Wanderung können wir nur empfehlen.

Was schön war: Unter (und über) dem Balkon

Zu unserer kleinen, schnuckeligen Ferienwohnung an der Kanalküste gehört auch ein kleiner Balkon. Ein Sitzsack und ein Korbstuhl, zwei Gläser und zwei Lieblingsmenschen, mehr passt nicht darauf. Das reicht ja aber auch völlig zum glücklich sein. Über dem Balkon schweben Möwen vorbei – einzeln oder in großen Schwärmen, laut kreischend oder still im Wind segelnd. Ihr könnt mir sagen, was ihr wollt, sie sehen dabei glücklich und manche sogar verwegen aus. Das sind dann die, die vom Wind durchaus wild hin und her geworfen werden, bevor sie am Ende doch ein Bein ausfahren, zum Gegensteuern.

Vormittags weckt uns mal das Geschrei der Möwen, mal das von Kindern, die hier Sportunterricht am Strand haben. Beachbasketball, Kanufahren oder Stehbrettpaddeln stehen auf dem Stundenplan. Und genervtes Trillerpfeifen-Schrillen der Lehrer*innen, die Mühe haben, die Rasselbande wieder aus dem Wasser zu bekommen.

Nachmittags sind es vor allem Großeltern, die mit ihren Enkeln am Strand spielen. Ein Kind ist so klein, dass es gerade erst Laufen gelernt hat. Im lockeren Sand plumpst es immer wieder um, fällt weich, steht wieder auf, tappst weiter und stößt viele kleine Freudenschreie aus, bevor es sich mit Schwung in Omas weit ausgebreitete Arme wirft.

Weit vor dem Balkon ziehen Schiffe vorbei, schwer beladen, das lässt sich auch ohne Fernglas erkennen. Das kleine Fort, oder das, was die ununterbrochen anstürmenden Wellen von ihm übrig gelassen haben, trotzt tapfer Ebbe und Flut. Der alte Betonsteg hat schon glamourösere Zeiten gesehen, wie die alten Fotos an der Strandpromenade zeigen. Wenn der Wasserstand es zulässt, ist er jetzt abends Treffpunkt einiger Angler.

Weniger schweigsam geht es ab dem späten Nachmittag auf der Bank unter dem Balkon zu. Wenn es nicht gerade in Strömen regnet, treffen sich hier einige mehr oder weniger rüstige Rentner*innen. Es gibt einige „habitués“, die immer dabei sind, andere stoßen später dazu, kommen mit Einkaufstaschen beladen vorbei oder mit dem Vierbeiner auf der Hunderunde. Ein älterer Hund rollt sich im Schatten der Kaimauer zusammen und wartet  geduldig, bis Herrchen genug geplaudert hat. Ein jüngerer Mischling, in dem sicher auch ein wenig Gummiball drin ist, hüpft fröhlich auf und ab und hin und her, sein Frauchen bleibt nie besonders lange.

Die Damen sitzen auf der Bank mit Blick aufs Meer, die Herren lehnen oder sitzen auf der Mauer mit Blick auf die Damen oder vervollständigen den Kreis stehend. Sie sprechen den starken einheimischen Akzent und auch mit den Händen. Immer wieder wird wild durcheinander geredet, aus Redeschlachten entwickeln sich ruhigere Gespräche zu zweit oder dritt, dann wieder gibt es eine oder einen, der längere Ausführungen macht, die die anderen mit Nicken oder Kopfschütteln kommentieren, aber nicht unterbrechen. Die einen duzen sich, die anderen siezen sich respektvoll – das hört man ganz leicht, denn die Herrschaften reden laut, um sich gegen das Rauschen der Wellen und die Schwerhörigkeit der anderen durchzusetzen.

Wenn wir uns mit Buch oder auch einfach nur zum Tagesabschluss und Aufs-Meer-schauen auf den Balkon setzen, werden wir anfangs freundlich ignoriert. Als sich herausstellt, dass wir nicht nur eine Woche bleiben, fängt man an, uns zuzunicken. 

Ganz leicht ist zu erkennen, ob die Passanten Einheimische sind oder Touristen. Fremde werden ignoriert, Bekannten nickt man mehr oder weniger begeistert zu. Besonders vertraute Menschen bleiben kurz stehen, um sich zumindest die obligatorischen „bises“ zu geben – wobei hier durchaus auch Handschläge üblich sind, auch zwischen Männern und Frauen. Der Gesprächsstoff geht der kleinen Seniorenrunde nicht aus. Da wird erzählt, diskutiert, gestritten und vor allem viel gelacht.

Die Herren von der Stadtreinigung wissen, wie Sisyphos sich gefühlt hat. Mit großen Besen, kehren sie den Sand, den der Wind über die Dünen und die Kaimauer geblasen hat, zurück. Tag für Tag aufs Neue.

An einem Sonntag Morgen klingen harsche Befehle über den Strand: Die Armee hat ein Bootcamp für Soldat*innen und ambitionierte Freizeitsportler*innen organisiert. Das Ganze endet mit Tauziehen im Wasser und die Sportbegeisterten sind genauso schwer aus dem Wasser zu kriegen wie die Kinder.

Beton und Ratlosigkeit

Tom lächelt uns grimmig entgegen. Nein, nicht irgend so ein Schauspieler, der Kater aus Tom und Jerry. Ein paar Meter weiter zeigt uns ein großer Krebs sein Hinterteil und um die Ecke hat jemand ein Vier-Gewinnt-Raster an der Wand ausgefüllt.

Die Bomben der Alliierten konnten sie nicht zerstören und so liegen die Bunker, die an der französischen Nordküste die Dünen und Klippen säumen, mancherorts am Strand herum. Bunt besprayt oder einfach grau, mit Muscheln bewachsen und von Algenresten gesäumt.

Mal ist es Kunst, mal nur Tags und oft die üblichen „I was here“-Schmierereien. Aber die meisten sind einfach nur grau. Es gibt so viele, dass die Sprayer nicht nachkommen und das Interesse verloren haben.

Wo man hochklettern kann, nutzt die örtliche Jugend die Dächer der Bunker zum Sonnenbaden, am Cap Blanc Nez sitzt eine Touristengruppe, die flämisch, englisch und französisch durcheinanderredet, auf einem Bunkerdach zum Picknicken, auf dem Schornstein, der aus dem Koloss herausragt, balanciert eine Dose mit Käsewürfeln im Wind.

„Chasse interdite“ steht unbeholfen aufgemalt auf dem Betonkoloss in der Nähe unserer Ferienwohnung, an dem wir so oft vorbeikommen. Dutzende Kaninchenlöcher um ihn herum zeigen an, dass die aktuellen Bewohner dort friedlicher leben, als die, für die er ursprünglich gebaut worden war.

Wie großartig es ist, dass wir heute so friedlich hier vorbeigehen können, dass sich hier Menschen aus aller Herren und Damen Länder treffen können. Dass in dieser seit Menschengedenken so umkämpften Gegend Frieden herrscht.

Die Menschen hier leben vor allem vom Fischfang (Boulogne-sur-mer ist der größte französische Hafen und nach eigenen Aussagen der mit den meisten jährlichen Besucher*innen weltweit) und vom Tourismus. Von und mit Menschen von anderswo.

Natürlich ist alles komplexer und komplizierter. Natürlich ist das hier auch eine ehemalige Bergbauregion mitten im Strukturwandel. Natürlich gibt es tausend große und kleine Probleme. Und trotzdem geht mir das Ergebnis der Europawahlen hier (gerade hier, zwischen den Forts und Befestigungsanlagen und Wachtürmen und Bunkern aus mehr als zwei Jahrtausenden) nicht in den Kopf. 42,55 % für die Rechtsnationalisten, bei einer mehr als unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung von 45,55 %.

Ich sitze auf einem von Bomben abgesprengten Bunkerstück, schaue auf Jerry und verstehe es einfach nicht.

Freitag, der 13.

Katzenrelief auf einem ZaunWann wenn nicht heute, einem Freitag, dem 13., könnte ich über eine Outdoor-Ausstellung schreiben, die wir im Urlaub gesehen haben? Da ging es nämlich – ganz genau – um Aberglaube. Darum, welche Aberglauben es gibt, wo sie herkommen und wie man sie möglichst plakativ darstellen kann. Mitten in Boulogne-sur-mer, zwischen Belfried und Rathaus, ist die kleine Aktion aufgebaut. Malerisch drapiert zwischen bunt blühenden Blumen.

Das gibt es jedes Jahr – einen improvisierten Garten mitten in der Stadt. Dieses Jahr schon zum – genau, 13. Mal.

Das mit der schwarzen Katze von links kennen wir ja alle. Dass aber auch Eulen gefährlich werden können, und dass es den armen Uhus und Käutzchen, die zu nah an Häuser herankamen, oft schlecht erging und man sie zur Abwehr der von ihnen angeblich angekündigten Unglücke mit ausgebreiteten Flügeln an das Hoftor nagelte, das wusste ich bisher nicht.Künstliche Eule an einer Gartenhütte

Natürlich gibt es auch die Glücksbringer und Schutzpflanzen: vierblättrigen Klee, Haselsträucher, Maiglöckchen, Knoblauch. Und Bommeln, die roten von den Matrosenmützen. Die zu streicheln oder – noch besser – als Trophäe zu erbeuten, bringt Glück, Reichtum und Gesundheit.Maiglöckchen aus Email

In Frankreich gibt es natürlich bergeweise Aberglauben rund ums Essen: 13 Menschen am Tisch, das soll nicht sein, auch gekreuzte Messer bringen Unglück. Brot darf nicht aufrecht auf dem Tisch liegen (weil so früher das Brot für den Henker gekennzeichnet wurde), man darf kein Salz verstreuen, …

Babywiegen dürfen nicht mit dem Kopf nach Norden stehen, Spiegel dürfen nicht zerbrechen und Regenschirme darf man nicht im Haus öffnen. Wobei letzteres durchaus einen ernsten Hintergrund hat, denn die ersten Schirme waren so schwer und sperrig und ihr Gestänge so spitz, dass es regelmäßig zu schweren Unfällen kam, wenn man sie in der Nähe anderer Menschen aufspannte, und in Häusern sind natürlich häufiger Menschen in der Nähe, denen man ganz ungeplant ein Auge ausstechen kann…

 

Natürlich haben wir den kleinen Ausstellungsgarten am Ende durch eines der Tore verlassen, an denen die Hufeisen richtig herum (mit der Öffnung  nach oben, um das Glück aufzufangen) hingen, man kann ja nie wissen… 🙂

 

Erinnerungen an Notre Dame

Gestern um diese Zeit haben wir davon erfahren: Notre Dame steht in Flammen. Noch bevor ich die Bilder vom Brand gesehen habe, waren da andere Bilder in meinem Kopf, in meinem Herzen. Erstaunlich viele Bilder. Und je länger ich darüber nachdachte, warum mich die Nachricht so traurig machte, umso mehr Erinnerungen kamen mir.

In Notre Dame habe ich Zuflucht gesucht als ich während eines Praktikums vom Tod eines guten Bekannten in der Heimat erfuhr.

In Notre Dame habe ich mit einer Freundin ein Orgelkonzert gehört, das mit „freiem Eintritt“ warb und bei dem man am Ausgang von den Wärtern mehr als unfreundlich gebeten wurde, etwas zu spenden – mit Angabe von Summen, die die Organisatoren sich dabei gedacht hatten. Etwas geben wollten wir gerne – aber so viel, das war für uns Studentinnen nicht möglich. Und so stellte ich fest, dass ich in der gar nicht mehr ganz so neuen Sprache durchaus erfolgreich Streitgespräche führen konnte.

An einem Palmsonntag wollte ich gerne den bekannten Kardinal Lustiger in Notre Dame erleben. Doch schon bei der Palmprozession auf dem Vorplatz sah ich, dass da noch ein Kardinal war. Von meinem Sitzplatz in der Kirche konnte ich dank einer Säule den Zelebranten nicht sehen, doch die Stimme und den Akzent erkannte ich direkt, auch ohne dass der Herr neben mir erfurchtsvoll in die Runde flüsterte, „oh, le cardinal Ratzinger“. Ich überlegte, ob ich wieder gehen sollte (ein Fan war ich noch nie), und dachte dann, dass er es ja ebenso mit mir unter diesem Dach aushalten müsse wie ich mit ihm.

Die kürzeste Eucharistiefeier meines Lebens habe ich in Notre Dame erlebt, 23 Minuten (mit Chor). Und während wir Gläubigen noch zur Kommunion gingen, hatte der Priester die Messe schon zu Ende gelesen und war im Eilschritt davongelaufen, die Messdiener ungeordnet hinterherstolpernd.

Während der Abendgottesdienste werden die Besichtigungen fortgesetzt. Ich habe mich in Notre Dame nicht nur einmal wie ein Tier im Zoo gefühlt. Katholikin, seltenes Exemplar, vom Aussterben bedroht, bitte nicht füttern.

Staunend habe ich den Blick erhoben zu den Rosetten und mich am wechselnden Farbspiel der Fenster erfreut. Ich konnte mich nicht satt sehen an den langen, eleganten Säulen und dem hohen Dach. Hand in Hand mit dem Lieblingsmenschen ging ich durch den Chorumgang und bewunderte die Strebepfeiler des Chores.

Wie oft fuhr ich mit der Metro von der Gare de l’Est und später von der Gare du Nord zur Gare de Montparnasse und wann immer ich genug Zeit zum Umsteigen hatte, stieg ich an der Haltestelle Cité aus, um einen Blick auf die Seine und die gotische Schönheit zu werfen.

Mit meiner besten Freundin saß ich stundenlang auf einem Mäuerchen mit Blick auf die Zwillingstürme und redete über Gott und die Welt. Mit einem guten Freund trank ich einige Tage später einen überraschend guten Wein in einem Bistro um die Ecke. Und natürlich hatte ich meinen zerlesenen Victor Hugo in der Handtasche, um darin zu lesen, falls er sich verspätete.

In einem kleinen Antiquitätenladen um die Ecke kauften der Lieblingsmensch und ich zwei Trinkgläser, die wir bis heute nicht nur, aber immer zu besonderen Anlässen nutzen.

Ich mochte das Abendlicht und das Licht der tief stehenden Novembersonne auf ihren Außenmauern – was war ich oft im November in Paris.

Ich schaute schnell zu ihr hinüber, wenn ich zur Sainte-Chapelle ging, die ich lange so sehr gerne hatte, und ich hatte ihr Bild vor Augen, als ich Stefan Zweigs Marie Antoinette vor einigen Jahren wieder las, liegt doch die Concièrgerie gleich um die Ecke.

Noch am Freitag gab ich einer Freundin, die bald zum ersten Mal nach Paris fährt, Tipps und natürlich durfte Notre Dame nicht fehlen.

Die große Kirche mit ihrer Wucht und ihrem Pomp, ihrer beeindruckenden Größe und ihrer wunderbaren Helligkeit war nie mein Lieblingsort in Paris. Und doch hat sie sich mit den Jahren in mein Herz geschlichen. Und dort wird sie bleiben, egal, wie lange der Wiederaufbau dauern wird.

Was schön war: Mit einem Taxi durch Paris

Neulich kam ich in die Verlegenheit glückliche Lage, endlich einmal mit einem Taxi zwar nicht nach, aber immerhin durch Paris zu fahren. An einem sonnigen, warmen Hochsommertag und mit einem Fahrer, wie ich ihn mir besser nicht hätte wünschen können.

Erste Überraschung: Taxifahren ist in Paris gar nicht so teuer, wie gedacht.
Zweite Überraschung: Taxifahrer sind in Paris gar nicht so unhöflich wie allgemein behauptet („Ist es OK, wenn ich die Fenster aufmache, oder hätten Sie lieber Erfrischung durch die Klimaanlage?“ <3) .
Dritte Überraschung: Ich habe meinen Zug bekommen und zwar sogar noch 3 Minuten schneller als das Taxifahrer-Navi vorhergesagt hatte.

Dabei fing alles gar nicht so großartig an. Nur ein paar Meter von der Gare du Nord entfernt, wurde das Taxi um ein Haar in einen Unfall verwickelt. Ein anderer Fahrer bremste völlig unvermittelt, weil ein LKW auf die Straße gefahren kam. Das Taxi scherte nach links und mein Fahrer schaute zu dem Bremser hinüber – ein junger Fahrer einer privaten Limousine, trotz der sommerlichen Temperaturen in dunklem Anzug mit Krawatte. „Diese jungen Privatchauffeure – haben kaum Fahrpraxis und vor allem keine Erfahrung im Stadtverkehr. Sie sehen immer so erschreckt aus, als sei das ein furchtbarer Job“, erklärte mir der Mann aus dem Fahrersitz. Er selbst trug leichte Hosen, ein kurzärmliges Hemd und eine durchaus vergnügte Miene. „Fahren Sie denn schon lange“ – „Ach, schon ewig. Zwischendurch habe ich zwar etwas anderes gemacht, aber ich komme immer wieder zum Taxifahren zurück. Ein wunderbarer Beruf.“

Als ob er mich für eine Expertin hielte, fragt er mich, ob es OK ist, wenn er diesen Weg nehme, er könne natürlich auch über den Boulevard sowieso oder die Avenue irgendwas fahren. Als ich sage: „Nein, machen Sie nur. Sie kennen die Stadt und den Verkehr“, nickt er kurz und erklärt mir in den folgenden Minuten seine Art von Sehenswürdigkeiten.

„Sehen Sie dort“, sagt er in der Nähe des Louvre, „vor diesem großen Stadthaus mit der etwas schmutzigen Fassade, da standen früher immer Wachleute. Manchmal zwei, meistens aber vier oder sechs. Da wohnte Jacques Chirac.“

Blick auf die Tuillerien in Paris

Ein paar Straßen weiter: „Hier, merken Sie sich dieses Café. Da gibt es die besten Tartelettes aux fruits in ganz Paris. Ich weiß wovon ich rede, ich habe fast alle probiert.“

„Dort drüben, sehen Sie die bunten Fensterläden? Da gibt es Käse. Es steht zwar noch ‚Coiffeur‘ außen dran, aber seit ein paar Monaten ist da ein Käseladen. Ganz ausgezeichnete Auswahl.“

„Wenn Sie selbst einmal mit dem Auto hier unterwegs sind, fahren Sie hier keinesfalls zu schnell. Hier wird immer kontrolliert. Und wenn Sie nur einen Kilometer zu schnell sind, kostet es schon gehörig.“

Kurz vor dem Ziel schimpft eine Dame in ihren Fünfzigern durchs offene Fenster: „Was sollte das denn? Sie haben mich fast umgefahren.“ Murmelnd rekonstruiert der Fahrer, was passiert ist: Dass die Dame die Hand rausgestreckt hatte, um rechts abzubiegen, sich dann aber wohl entschlossen haben musste, geradeaus zu fahren und um die Autos herum auf deren linke Seite zu kurven. Dass ihn keine Schuld treffe außer der, dieses für Pariser Fahrradfahrer durchaus häufiger Verhalten nicht zu antizipieren. Als die Dame uns bei der nächsten Ampel einholt und nun links neben dem Fahrerfenster zum Stehen kommt, beugt er sich trotzdem freundlich zu ihr hinaus und entschuldigt sich für die Situation an der letzten Kreuzung. Die Fahrradfahrerin – mit einem der Leihfahrräder unterwegs , die man überall für wenig Geld mieten kann – brummelt zwar noch immer unwirsch, lächelt aber angesichts der freundlichen Worte irgendwann dann doch vor sich hin.

Tour Montparnasse in Paris mit Werbung für die Olympischen Spiele

Angesichts der Tour Montparnasse und der dort prangenden Werbung für die olympischen Spiele bekomme ich noch einen kurzen Einblick in die Seele eines Sportfans, der auf den Erfolg der Bewerbung für die Spiele 2024 hofft, und dann noch ein paar gute Ratschläge, wie ich Taschendiebe im Bahnhof erkennen und mich vor ihnen schützen könne (kurz: Trau keinem unter 30; vor allem keinem, der betont harmlos tut und die Arme hinter dem Rücken verschränkt 🙂 ).

Mit dem Duft der sommerlichen Stadt in der Nase und angefüllt mit sonnendurchfluteten Blicken auf Boulevards, den Louvre, die Tuillerien, den Eifelturm und kleine Pariser Parks schlendere ich überraschend pünktlich und überraschend ungenervt vom wilden Pariser Verkehr um die Mittagszeit in Richtung Gleis. Vier Stunden später bin ich in Quimper. Hach <3

Schwer auszuhalten: Frankreich vor der Wahl

In Frankreich geht der Wahlkampf in die letzte, entscheidende Runde. Abseits der offiziellen Veranstaltungen und Verlautbarungen beschäftigt mich, was durch Freunde und Bekannte in meine Timeline gespült wird: Offene, wütende, kämpferische Unterstützung für Marine Le Pen und den Front National.

Die, die da posten, sind keine Dummköpfe, keine sozial isolierten Wutbürger, keine Dauermeckerer. Es sind Menschen, die ich als engagierte, weltoffene, hoffnungsvolle Menschen voller Lebensfreude kennengelernt habe. Menschen, mit denen ich während meines Studiums nächtelang diskutiert, gefeiert, getanzt habe. Die ich in den vergangenen Jahren etwas weiter aus den Augen verloren habe, zu denen der Kontakt aber nie ganz abriss. Und die jetzt Dinge posten, die mich erschrecken. Die mich traurig machen. Die ich nicht verstehe.

Das geht zurzeit nicht nur mir so. Und weil es für mich so schwer zu verstehen ist, was da passiert, habe ich nachgefragt. Gefragt, warum diese Menschen den FN wählen werden. Warum sie einer Partei und einer Kandidatin den Sieg wünschen, die so Vieles grundsätzlich ablehnt, was für mich so wichtig ist.

Die Antworten haben mich nachdenklich gemacht. Ein Bekannter, der kein Politiker ist, aber in seinem Berufsleben viel mit der EU-Politik und -Bürokratie zu tun hatte, beschreibt voller Enttäuschung, wie sehr Lobbyisten die Politik in Brüssel und Strasbourg prägen und wie stark ihn das abstößt. Wie wenig er sich repräsentiert fühlt, wenn rund 80% aller französischen EU-Parlamentarier – über alle Parteigrenzen hinweg – gegen ein wichtiges Abkommen stimmen und dieses trotzdem in Frankreich gültg wird.

Eine andere Bekannte erzählt, wie wenig sie den Medien vertraut. Weil diese von einigen wenigen Superreichen nicht nur besessen, sondern auch gesteuert würden. Diese Grafik habe ich in den vergangenen Tagen mehrfach in meiner Timeline gefunden. Ein dritter sagt, er sei immer wieder enttäuscht worden von den Menschen, die als Politiker seit Jahren und Jahrzehnten die französische Politik prägen. Die großen Probleme seien doch seit einer gefühlten Ewigkeit bekannt: Die Vernachlässigung der Jugendlichen in den Vorstädten, die ungerechte Verteilung von Ressourcen, die Abschottung der Eliten an den Grands Écoles, die Unfähigkeit von Politik und Wirtschaft, ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen, von denen Menschen leben können.

Und immer wieder der Hinweis, dass die Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel den Franzosen viele Entscheidungen aufgedrängt habe, die das Land in seiner Freiheit beschneiden, die seinen Aufstieg verhindern und seinen Abstieg beschleunigen. Immer und immer wieder höre und lese ich in diesen Gesprächen, dass die EU nur auf dem Papier demokratisch sei. Das ablehende Referendum und die trotzdem erfolgte Zustimmung der französischen Regierung zu den Lissabon-Verträgen wird als Sündenfall empfunden. Oder auch: Was nütze denn die EU und der Euro? Papiere, Ausbildung, Studium – all das werde, trotz vieler Zusagen, wenn es darauf ankommt, ja doch nicht in anderen EU-Ländern anerkannt.

Die Argumente sind verschieden, doch was alle eint, mit denen ich geredet oder geschrieben habe, ist die Tatsache, dass sie sich in der öffentliche Debatte stigmatisiert fühlen. Dass sie als schwarze Schafe in Familie und Freudeskreis und vor allem in der medialen Debatte sehen. Die Wahlempfehlungen gegen Le Pen – wofür auch immmer – machen sie wütend. Sie erkennen darin eine Hexenjagd, einen Lagerwahlkampf, der vor allem eines bewirke: Dass die Verantwortlichen sich nicht inhaltlich mit den brennenden Fragen unserer Zeit auseinander setzen müssen.

Für die, die Französisch können, ein Blick in eine ganz andere Filterblase:

Ich verstehe die Haltung meiner Bekannten jetzt ein wenig besser. Ich kann erkennen, dass wir in der Beschreibung der politischen Notwendigkeiten, in der Wahrnehmung der sozialen Ungerechtigkeiten, in der Einschätzung von gerecht und ungerecht ganz ähnlich denken. Es sind die Schlussfolgerungen, die wir aus diesen Beobachtungen ziehen, die uns grundlegend unterscheiden.

Ich verstehe nun einiges besser. Doch es bleibt dabei: Die Differenz bei der Bewertung der Lage, der Wunsch nach Abschottung anstelle eines gemeinsamen Einsatzes für mehr Menshclichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit, die massive Wut auf „das Establishment“ (das natürlich immer die anderen sind) – sie bleiben für mich schwer auszuhalten.

Ich werde nächsten Sonntag wieder für den #PulsofEurope demonstrieren. Denn ich bin und bleibe fest davon überzeugt, dass es sich lohnt, sich für ein solches Europa der Menschen und der Menschenrechte einzusetzen. Ich habe durch die Diskussionen der vergangenen Tage aber auch erlebt, dass es (mir) wichtig ist, die Kommunikationskanäle offenzuhalten, in Verbindung zu beiben, nicht loszulassen – auch wenn es wehtut.

#Vivel’Europe

Frankreichliebe – Europaliebe

Am Sonntag wählen die Franzosen einen neuen Präsidenten. Beziehungsweise bestimmen sie, wer es in den zweiten Wahlgang schafft und dann Präsidentin oder Präsident werden kann. Und je mehr ich von Freunden und Bekannten höre und in deutschen und französischen Medien lese, desto mehr habe ich das Gefühl, dass das Land, das ich liebe, sich grundlegender verändert hat, als ich es bisher wahrhaben wollte.

Meine Liebe zu Frankreich ist irgendwie einfach so entstanden. Ich bin in der Nähe der Grenze groß geworden und habe schon in der Grundschule die ersten französischen Vokabeln gelernt. Ganz selbstverständlich wollte ich unbedingt Französisch als erste Fremdsprache lernen. Und selbst wenn der erste Schüleraustausch in der sechsten Klasse ein kompletter Reinfall war (meine einige Jahre ältere Austauschpartnerin war zum ersten Mal verliebt und verbrachte ihre gesamte Freizeit mit ihrem Freund, während ich allein auf einem kleinen Dorf ohne andere Jugendliche festsaß und mit „bébé“ spielen konnte, dem dreijährigen Nachzüglerkind der Familie, das von allen so babyhaft behandelt wurde, dass es weder sprechen noch sicher laufen konnte oder wollte), habe ich mich unmerklich nach und nach unsterblich in dieses Land, seine Menschen, seine Sprache verliebt.

Außerhalb der Ferien radelten wir mit Freundinnen ins Elsass, kauften Baguette und Käse, und picknickten am Rheinufer – stilecht auf der französischen Seite.

Im Sommer nach dem ersten Austauschversuch war ich wieder in Frankreich. Diesmal bei einer Familie mit einem gleichaltrigen Mädchen, einem kleinen Häuschen mit Garten in einer wundervollen Kleinstadt. In den folgenden Jahren trafen wir uns immer wieder, mal in Deutschland, mal in Frankreich, wir plauderten in unseren beiden Sprachen, spielten mit den Haushühnern in Frankreich und fuhren begeistert mit der Wildwasserbahn im benachbarten Freizeitpark, wenn wir in Deutschland waren. Meine französische Freundin verdrehte den Jungs in meiner Clique reihenweise den Kopf. Ich lernte flirten, und verknallte mich in Diderot und französische Popmusik.

Und dann war da diese Begegnung in meinem ersten Langres-Sommer. An einem langen Wochenendtag besuchten wir die Großeltern der Familie. Gegen Ende des unenedlich langen und unendlich gemütlichen Familienessens, stand der Großvater auf, ging in ein Nachbarzimmer und kam mit einem Buch und einer Dose in der Hand zurück. Er drückte mir lächelnd beides in die Hand und die kleine, frankreichliebende, familiendynamik beobachtende Austauschschülerin, die ich war, saß plötzlich sprach- und ratlos inmitten der Großfamilie. Ich wusste gar nicht mehr, was ich sagen und wie ich die Situation einordnen sollte. Das Buch war „Mein Kampf“ und in der Dose steckten ein paar Reichsmarkscheine.

An die gespannten Blicke und die plötzliche, neugierige Stille am Tisch kann ich mich noch heute lebhaft erinnern. Und auch daran, dass es der Großvater war, der die Stille brach. Er war – neben meinem Vater – der erste Mensch, der mir von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Davon, dass er in Deutschland in Kriegsgefangenschaft geraten war. Dass er als Knecht auf einem süddeutschen Bauernhof arbeiten musste. Und dass die Bauernfamilie sehr nett zu ihm gewesen sei. Er habe genug zu essen gehabt und mit viel Geduld habe der Familienvater ihm ein wenig Deutsch beigebracht. Er durfte die Bücher in der guten Stube lesen – oder versuchen, etwas daraus zu verstehen – und er durfte mit der Familie gemeinsam am Tisch sitzen.

Buch und Geldscheine bewahre er auf, um sich immer an diese Menschlichkeit mitten im Krieg zu erinnern. Er konnte sogar noch immer einige Sätze auf deutsch sagen. Eine seiner Töchter hatte seine Liebe zur deutschen Sprache inhaliert und war Deutschlehrerin geworden. Europa war in allen weiteren Gesprächen an diesem Nachmittag und Abend der einzige logische Weg für die Zukunft.

Egal, wie viel ich später lernte und las über deutsch-französische Geschichte: Eindrücklicher habe ich nur sehr selten gespürt, was diese so junge Freundschaft zwischen zwei Völkern bedeutet. Zum ersten Mal habe ich mich an diesem Tag nicht nur als Deutsche gefühlt, sondern als Europäerin. Ich habe es in diesen Stunden als Dreizehn- oder Vierzehnjährige nicht bewusst wahrgenommen, nicht begreifen können, aber ich habe es wohl damals schon gefühlt: Dass wir alle, jede und jeder einzelne von uns, etwas zu einer friedvollen, menschlichen, hoffnungsvollen Wirklichkeit beitragen können.

Wenn viele Franzosen jetzt ernsthaft über einen „Frexit“ nachdenken; wenn Menschen, die ich seit Jahren kenne und schätze, davon sprechen, wie sehr Europa die Freiheit Frankreichs bedrohe; wenn die allgegenwärtige Angst vor dem Terror dazu führt, dass der Wunsch nach der Einschränkung von Freiheiten auch bei Menschen, die ich als weltoffen und kreativ kennengelernt habe, zu Forderungen führt, die auch Gleichheit und Brüderlichkeit einschränken würden, so dass diese nur noch für einige bestimmte Gruppen der Gesellschaft gelten sollen; dann blicke ich über die Grenze, die für mich lange nur noch auf dem Papier bestand, und verstehe die Welt nicht mehr.

Ich weiß, dass man für Liebe nicht immer Verständnis braucht. Dass man jemanden auch dann lieben kann, wenn man ihn gerade gar nicht versteht. Und doch hoffe ich, dass sich am Sonntag, und beim zweiten Wahlgang in vierzehn Tagen, viele Franzosen einlassen auf dieses Experiment, das Europa heißt. Auch wenn – und gerade weil – es keine einfachen Antworten verspricht. Dafür aber Begegnungen, ohne die wir alle so viel ärmer wären.

Vive la France. Vive l’Europe. Vive l’amitié.

Kneipenschild mit der Aufscrift: Heute empfehlen wir: Politisch sein!

Straßenschilder kreativ

Dass die Franzosen Schilder im Straßenverkehr nicht besonders ernst nehmen – geschenkt. Sie ignorieren die Schilder jedoch nur beim Fahren. Denn als Kunstraum werden Straßenschilder durchaus genutzt. Häufig genutzt. Anbei eine kleine Auswahl aus dem Finistère.

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Kreativ gestaltete Straßenschilder in der Bretagne

 
La voilà la blanche hermine…

Straßenschild mit Verschönerung

In Landerneau gibt es nicht nur kreative Schilder, sondern auch kreative Wandmalereien.kreativ verändertes Straßenschild in Landerneau

 

Und eine Zugabe aus Paris.Verändertes Durchfahrt-Verboten-Schild in Paris

Gegensätze und Unverständnis: Zäune in Calais

Holzzaun am Strand von CalaisRomantisch sehen sie aus. Ein wenig nach Frühling am Meer. Von der Sonne beschienen. Eine Verheißung für warme Badetage. Die Zäune am Strand von Calais. Aufhalten sollen sie höchstens das Verwehen des Sandes. Vielleicht stoppen sie ein Handtuch oder eine Strandmuschel vom endgültigen Davonfliegen. Vor allem aber sehen sie malerisch aus.

Strand von Calais mit Holzzaun und Fußgängern im Sonnenschein

Detail eines Holzzauns am Strand von Calais

Holzzaun in der Sonne am Strand vor Calais

Nur wenige hundert Meter entfernt sehen die Zäune ganz anders aus. Meterhoch. Aus stabilem Stahl. Mit Abschlüssen aus Natodraht. Ich war nicht geistesgegenwärtig genug, die Zäune am Fähranleger zu fotografieren. Zu beeindruckend, zu beklemmend, zu sehr zu leidenschaftlichem Widerspruch herausfordernd waren die Zäune für mich. Immer noch. Immer wieder. Daher gibt es nur einige Eindrücke aus dem Busfenster von der Schnellstraße, einige Kilometer entfernt.  Die Zäune verändern die Landschaft. Und unser Bild von Europa. Unsere Idee von Menschlichkeit. Und dann haben wir vom „Dschungel“ von Calais noch gar nicht geredet.

Grenzzäune an der Schnellstraße nach Calais

Grenzzäune rund um Calais

Meterhohe Grenzzäune bei Calais in Nordfrankreich

Wieder etwas weiter, einige Kilometer gen Westen an der Küste entlang, am Cap Gris-Nez schon wieder Zäune. Auch diese sollen Menschen abhalten. Davon, auf die Wiesen am Rande der Klippe zu gehen. Sie verhindern, dass die Besucher die Grasnarbe zerstören und die Erosion der von Wind und Wellen angegriffenen Küste befördern. Die Zäune sind hüfthoch, manche nur knöchelhoch. Draht, ja. Aber natürlich kein Natodraht, wo kämen wir denn da hin. Wo es mannshohe Holzzäune gibt, sollen sie vor allem gut in die Landschaft passen.

kleiner Zaun am Cap Gris-Nez

knöchelhoher Draht, um Touristen von der Wiese am Cap Gris-Nez fernzuhalten

Malerischer Holzzaun als Fußwegbegrenzung am Cap Gris-Nez

Am Cap Gris-Nez gibt es zahlreiche Bunker und Überreste der deutschen Belagerung zu sehen. Sie haben die Landschaft langfristig verändert. In Calais sind die Zäune zwar leichter abbaubar, doch fürchte ich, dass diese Art der Abschottung die Landschaft ebenfalls nachhaltig verändert. Und diesmal nicht nur die natürliche, sondern auch die politische und gesellschaftliche Landschaft.

Diese Art der Abschottung zeigt, wie sehr sich unsere Gesellschaft verändert. Wie sehr uns die Angst – vor „dem Fremden“ und „den Fremden“, vor verunsicherten Wählern und überhaupt vor Veränderungen – vor sich hertreibt.

Ich habe in den vergangenen Monaten vor einigen verschlossenen Grenzen gestanden. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, Geflüchteten, Helfern, politisch Verantwortlichen. Ich habe mit dem Kopf gedacht und mit dem Herzen gefühlt. Ich habe es wirklich versucht. Aber am Ende des Tages stehe ich wieder vor einem Zaun und verstehe es einfach nicht.