Ausschau halten

Es ist kühl geworden, in der Nacht. Und hell. Nachdem die Straßenlaternen tagelang ausgefallen waren, wurden sie pünktlich zum Sichtbarwerden des Kometen Neowise wieder repariert. Und meine Güte, gibt es hier viele davon. Im Garten sorgen sie für helles Licht. Auf der Straße natürlich auch. Auf den Wegen hinaus aus dem Dorf. Bis hinaus auf den Feldweg leuchten sie.

Vom Nachbarort scheinen die Lichter der Industrieanlagen herüber. Scheinwerfer von der Bundesstraße, die nachts so nah zu sein scheint.

Es riecht nach verfaulenden Äpfeln – einige sind auf die Straße gefallen, als diese noch warm war. Und nach Kräutern aus der nahen Gärtnerei. Minze. Melisse. Vielleicht auch Tymian.

Eine Katze streicht vorbei und maunzt anklagend. Wir gehören hier nicht hin, nicht um diese Zeit, in ihrem Revier.

Die Sonnenblumen auf dem Feld neigen die Köpfe und nicken uns im sanften Nachtwind Grüße zu. Tournesol heißen sie im Französischen. In der Nacht scheinen sie unentschlossen, wohin sie ihre fröhlichen Gesichter drehen und wenden sollen. Ein wenig verblüht sind sie schon. Und einsam; das benachbarte Getreide ist längst geerntet. Gelb die Stoppelfelder und die nächtlichen Sonnenblumen.

Immerhin werfen sie kein aufdringliches Licht auf unseren Weg. Wir recken die Hälse, suchen mit einer App und mit dem Fernglas. Da, ist er das? Wir machen Fotos – mit dem Handy aus der Hand. Gut sind sie nicht, aber später sehen wir: Ja, das war er. Während wir so da draußen stehen, sind wir nicht sicher. Enttäuscht? fragt der Lieblingsmensch.

Ich kuschle mich an ihn und stelle fest: Nein. In diesem seltsamen Sommer ist es das Ausschau halten, das mich glücklich macht. Das Suchen. Das gemeinsame Ausharren und Aushalten. Das Wachsein in der Nacht und das Müdesein am Tag.

Natürlich wäre es schön gewesen, den Kometen so zu sehen, wie die Bilder ihn zeigen. Klar, hell und leuchtend. Sicher. Eindeutig. Wir sehen aber nur wage Umrisse. Blasse Andeutungen. Eine unsichere Ahnung. Wir finden nicht das, was wir uns erhofft hatten, aber wir finden etwas. Einen Schatz, der ganz anders ist als erwartet. Weniger glänzend, weniger aufsehenerregend. Aber ganz eindeutig ein Schatz. Ein Schatz des Zusammenseins. Des gemeinsamen Erinnerns. Des schweigenden Einverständnisses. Des Durchhaltens. Des Miteinander-Reden-Könnens. Des Streitens und Versöhnens. Des Tröstens. Des unausgesprochenen Einverständnisses.

Und vielleicht zieht dieser Komet, den wir nur so halb beobachtet haben, dessen Licht sich rar gemacht hat, dann doch einen leuchtenden Schweif hinter sich her. Leuchtende Freude über einen unerwarteten Besuch. Leuchtende Ideen für ein lange schwelendes Problem. Leuchtende Augen, weil wir zusammen sind und gehören.

Luft holen

In dieser Woche hatte ich einige Tage frei und meine Güte, was habe ich diese Zeit zum Luftholen genossen.In anderen Jahren hätten wir versucht, für ein verlängertes Wochenende ans Meer zu fahren. In diesem Jahr blieben wir zu Hause, kämpften mit Unkraut und Schnecken, gönnten uns einen Café auf einer Terasse in der Stadt, genossen es, zusammen zu sein, lagen faul auf dem Sofa, hörten Musik. Also vor allem ich, da der Lieblingsmensch ja die Corona-Zeit genutzt hat, um seine Flötisten-Liebe wiederzubeleben. Was hat er ein Glück, dass meine Flöte aktuell beim Überholen ist und ich ihn daher nicht niederduettieren kann 🙂 Querflöten for the win!

So aber komme ich in den Genuss von barocker Blockflötenmusik und von Diskussionen über die barocke Stimmung des Kammertons, über den Bau von Karottenflöten (ja, sowas gibt es auf Youtube) und erfahre eine Menge über moderne Blockflöten. Was es da alles gibt – spannend.

Der Schmetterlingsflieder blüht und erledigt ganz hervorragend seinen Job – Schmetterlinge anlocken. Die Rosen gehen in die nächste Blüh-Runde (die Heckenrose hat nie aufgehört) und mei, was ist das schön, einfach nur zu schauen und die Sonnenstrahlen zu genießen oder auf den Regen zu lauschen. Nichts tun müssen; okay, okay, Keller aufräumen, Fenster putzen, Sachen aussortieren, Küche grundaufräumen und und und steht alles immer noch auf der to do-Liste, aber wir tun in diesen Tagen so, als gebe es diese Liste nicht. Nichts tun müssen also, ein bisschen rumpusseln, backen und Gebäck essen, nicht kochen, sondern Essen kommen lassen und den Abend mit einem Bierchen ausklingen lassen.

Und zum Wochenende gibt es Schwesternbesuch und Spieleabend – hach, was schön.

 

Empört euch?

Sie war schon vor der Corona-Pandemie weit verbreitet, aber in den letzten Wochen scheint es mir, als sickere sie durch alle Ritzen und Poren: die Empörung.

Ich kann das nachvollziehen. Mein Nervenkostüm ist immer noch dünn und ich rege mich über Dinge auf, denen ich Anfang März noch mit einem Lächeln oder einem Achelszucken begegnen konnte. Oder ich regte mich auf, dann war es raus und wieder gut. Jetzt bin ich da nachtragender. Ich kann das also aus eigener Erfahrung bestätigen: Aus Frust und Genervtsein wächst sie schnell, die Empörung. Verbrauchte Kraft, geänderte Routinen, Einsamkeit, Unsicherheit, Sorgen und Angst sind ein idealer Nährboden für sie. Da reicht ein kleiner Auslöser und zack, bin ich EMPÖRT!!!1!!11!!!!

Wobei, eigentlich bin ich vor allem müde, so müde ob der ständigen Empörungserregung. Eine Zeitung empört sich über Werbung, die nicht dünne Frauen im Bikini, sondern normalgewichtige Menschen mit Kopftuch zeigt. Menschen empören sich über Maskenpflicht, weil – ach, was weiß denn ich. Ein Mann sagt etwas völlig Selbstverständliches über die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das empörte Geschrei klingt in verschiedene Kommentarspalten nach. In der Diskussion um Rassismus bei der Polizei war das Empörungsgeschehen ob einer satirischen Veröffentlichung so groß, dass die eigentliche Diskussion komplett in den Hintergrund trat. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen.

Was bei all dem Getöse untergeht, sind die Menschen in Krankenhäuser, an den Kassen der Supermärkte, in der Pflege und allen anderen Bereichen, für die vor einigen Wochen noch ob ihrer „Systemrelevanz“ geklatscht wurde. Ist das Klima, das sich durch ein paar Wochen weniger Fliegen nicht dauerhaft erholt. Sind Kinder, die nicht wählen und nicht reich sind und daher bei vielen politischen Debatten einfach hintenrunterfallen. Sind all die, die aufgrund von finanziellen Einschränkungen nicht teilhaben können an den Segnungen der Digitalisierung. Auch diese Liste lässt sich leicht fortschreiben.

Früher war ich durchaus der Meinung, dass es Empörung braucht, um Menschen auf Dinge aufmerksam zu machen, um sie, um uns zum Handeln zu bringen, zum Einsatz für andere zu motivieren. Empörung ist ja ein Gefühl und Gefühle sind wichtig, um einen Anstoß zum Helfen, zum Weltverbessern oder auch nur zum Einem-Problem-aus-dem-Weg-Gehen-ohne-zwei-neue-zu-schaffen zu finden. Ich erinnere mich an Telefonate in meiner Familie, wo Menschen sich – durchaus lange und ausgiebig – mit lauter Stimme unterhalten konnten, Empörungen austauschten, in denen sie nicht nur Anlässe für diese Entrüstung, sondern auch Strategien, damit umzugehen, miteinander teilten, daran durchaus auch Spaß hatten und vor allem Kraft schöpften für den Alltag. Eine Empörung war in der Sprache meiner Großeltern noch ein Aufruhr, ein Widerstand. Sich empören und handeln gehörte in dieser Denkweise zusammen. Dazu passt die Wortherkunft: Enboeren, erheben, ist die mittelhochdeutsche Grundlage.

Wie so viele Menschen meiner Generation habe ich Stéphane Hessels Empört euch! gelesen und geschätzt. Ich erinnere mich an eine Rezension – war es in Le Monde oder in Libération? – in der diskutiert wurde, ob Empörung nicht am Ende folgenlos bleibe, weil Indignation nicht ausreiche und als Triebfeder nicht stark genug sei. Als theoretisch abgetan habe ich das damals. Doch heute, wo die Stürme der Entrüstung so schnell heraufzubeschwören sind und oft genug auch da wehen, wo niemand sie gerufen hat, da denke ich mehr und mehr, die Empörung verstellt uns den Blick auf das Wesentliche. Sie bleibt an der Oberfläche. Mehr noch: Sie drängelt sich vor und verdunkelt die Szene. Empörung wird zum Ersatz für das Tun.

Ich habe mich empört – das fühlt sich so an, als hätte ich bereits etwas getan. Empörung ist anstrengend, sie erschöpft. So manches Mal mehr als wirkliches Tun. Und sie fühlt sich dabei gut an, nicht umsonst heißt es ja ‚rechtschaffene Empörung‘. Empörung vermittelt uns das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Verändern tut sie aber nichts.

Bei denen, die sich nicht über Zustände, Missstände empören, sondern über „die anderen“, die nicht ihrer Meinung sind, über die, die eine positivere Haltung haben, die anders aussehen oder irgendwie von der von ihnen selbst festgelegten Norm abweichen, bei denen, die sich über Menschen empören, deren einziger Fehler ist, dass sie anders sind, schlägt die Empörung oft um in Ablehnung, in Verurteilung, in Geschrei und Hass. Worüber ich mich dann wieder empören kann und schon ist der Anlass, der Ursprung, über den es sich nachzudenken lohnt, die Schwierigkeit, für die wir nur gemeinsam Lösungen finden können, wieder in den Hintergrund gerückt.

Empörungswürdige Zustände wahrnehmen, mich berühren und aufwühlen lassen, aber mich nicht empören. Mich von den Vordergründen nicht ablenken lassen, sondern tiefer, weiter, schärfer hinsehen, Handlungsspielräume ausloten und nutzen. Nicht müde werden. Oder zumindest wachsam bleiben, immer wieder die Augen öffnen und das Herz. Immer und immer wieder. Es klingt so einfach, aber es ist eine Sysiphosaufgabe. Wozu auch gehört, sich Sysiphos als glücklichen Menschen vorzustellen – ohne mich zu entrüsten. Repeat…

 

 

Juli, wann ist das denn passiert?

Zwischendurch hatte ich gedacht, dass das mit dem verschobenen Zeitempfinden sich wieder einpendelt. Auf irgendwie sowas wie „normal“, oder wenigstens ein neues Normal. Irgendwas, was wieder eine Orientierung ermöglicht. An manchen Tagen fühlt es sich auch so an. Aber dann ist es plötzlich Juli und ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist.

Der Berg mit Arbeit liegt noch immer auf dem Schreibtisch (mittlerweile sind es wieder zwei, zu Hause und im Büro), er hat sich verändert, aber seine Höhe ist ziemlich gleich geblieben. Eine neue Aufgabe ist mir da zugewachsen und ich wage die ersten Schritte hinein in das Neue, das sich geichzeitig schon vertraut anfühlt. Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit allerorten. Vielleicht ist es diese ständige Doppeldeutigkeit, die dazu führt, dass ich aus der Zeit gefallen bin – oder die Zeit aus mir.

Die Liste der Menschen, die ich gerne mal wieder in den Arm nehmen würde, ist lang und länger, auch wenn ich den einen oder die andere mittlerweile wiedergesehen habe.

Morgen nehme ich erstmals seit einer halben Ewigkeit März an einer Veranstaltung teil – mit deutlich weniger Menschen als urspünglich geplant, mit viel Abstand und Hygieneregeln. Mit mehreren Masken im Gepäck, da ich vermutlich eine oder zwei durchschwitzen werde, weil: Luftfeuchtigkeitsvorhersage. Die Unsicherheit bleibt, vor allem aber Vorfreude. Freude, diesen Festtag mit den beiden Hauptpersonen verbringen zu dürfen. Freude, liebe Menschen wiederzusehen. Bekanntschaften zu vertiefen und andere Menschen kennenzulernen. Dinge, die mir vorher so selbstverständlich vorkamen und die nun als besondere Highlights erscheinen.

Auch neu: Verbundheit mit Menschen per Livestream, während ich selbst nicht am Rechner sondern live vor Ort bin. Nicht das erste Mal, aber das erste Mal unter den Bedingungen einer Pandemie, die dafür sorgt, dass die einzelnen nicht selbst entscheiden können, ob sie dabei sein wollen oder nicht. Und die gleichzeitig dafür sorgt, dass Menschen digital dabei sind, die diese Chance sonst nicht gehabt hätten. Schon wieder ein Fall von Gleichzeitigkeit und Doppeldeutigkeit. Aber vor allem einer von Herzlichkeit und Freude.

Heute ist Freitag und seit dem 20. März ist das der Tag des #freitagsritual.s Was es damit auf sich hat, hat Claudia aufgeschrieben. Und ich stelle Woche für Woche fest, dass diese Weggefährt*innen mir Kraft geben. Und ein Blick ins Bilderalbum mit den freitäglichen Bildern von Wasser und Brot oder Kaffee und Knäcke oder Wasser und Rosen hilft mir dabei, zumindest rückblickend ein wenig Struktur in diesen stetig fließenden Zeitfluss zu bringen. Das Foto vom 13. März zeigt das Meer auf Norderney. Und die Fähre bei der Überfahrt. Windig war es und ganz schön schaukelig. Der Kapitän forderte uns auf, sitzen zu bleiben und uns gut festzuhalten.

Irgendwie fühlt es sich so an, als sei ich noch immer auf hoher See. Und während ich das schreibe, merke ich, dass ich das normalerweise liebe: Am Meer, auf dem Meer zu sein.

Neue Aufgabe also: Ausschau halten nach den Leuchttürmen in dieser unbekannten See. Damit die Riffe und Untiefen, die Strudel und Seeungeheuer uns auch weiterhin nicht verschlingen. Auf eine neue Woche. Ahoi.

 

Peter und sein Kamerad

Der 29. Juni ist einer der Heiligentage, deren Datum ich auswendig weiß. Ein paar sind es geworden in den vergangenen Jahren: Mary Wards Todestag am 30. Januar und natürlich ihr Geburtstag am 23. Januar und dann der 23. eines jeden Monats, an dem ihre Freund*innen ihrer besonders gedenken. Der Ignatiustag am 31.7., Dominikus am 8.8., Katharina von Siena am 29. April. Die verschiedenen Marienfeiertage. Und dann Peter und Paul am 29. Juni.

Wobei dieser Tag bei uns in der Familie nicht „Peter und Paul“ heißt, sondern „Peter und sein Kamerad“. Es ist eine dieser Familiengeschichten, die immer mal wieder erzählt wurde und die mir schon sehr früh im Gedächtnis geblieben ist. Sie handelt von Menschen mitten im Krieg. Von meinem Großvater in der Eifel, auf dessen Schoß ich die Märchen der Brüder Grimm und Eifler Sagen gehört habe. Auf dessen Knien ich saß und lauschte, wenn er von früher erzählte. Der die besten „Pädscher“ machte – Brotstücke mit Butter und ein wenig Salz, mit denen wir Enkel flüssiges Eigelb aus dem Frühstücksei auftunken konnten. Der immer ein wenig nach Heu roch und der die Arme so auf den Lehnen seines Stuhl ablegen konnte, dass es aussah, als sei er damit verwachsen.

Von diesem Großvater also, der mit seinem kaputten Bein nicht in den zweiten Krieg ziehen musste. Der auf seinem Bauernhof schuftete und dazu einen Kriegsgefangenen zugeteilt bekam. Der diesem später das Leben rettete, unter Einsatz seines eigenen, ohne dass je ein Aufhebens darum gemacht worden wäre. Dieser Opa Christoph wunderte sich also an einem 29. Juni, dass sein Knecht, Stallbursche, Hofhelfer – wie mag er ihn genannt haben? – morgens nicht zum Melken erschien. War er krank? Hatte er sich verletzt? Als man ihn suchte und fand und um Auskunft bat, erklärte der junge Mann in seinem zusammengeklaubten Deutsch: Nix arbeiten Maria flieg in die Luft, nix arbeiten Peter und sein Kamerad. Im Vorjahr hatte er also an Mariä Himmelfahrt freigehabt. Und da für ihn Peter und Paul ein mindestens ebenso bedeutsamer Feiertag war, ging er davon aus, dass er nun ebenfalls frei habe.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob und wie die Geschichte weiterging. Habe ich je nachgefragt, ob der junge Mann aus Russland dann doch noch arbeiten musste? Oder ob er den Tag wirklich als Feiertag verbringen konnte?

Was sich mir aber eingeprägt hat, neben dem lustigen Namen für den Tag, ist das Gefühl, dass es noch eine andere Wirklichkeit gibt. Dass Menschen ganz verschieden sein können. Dass es dadurch zu Missverständnissen kommen kann. Und dass diese sich mit einem Lachen auflösen lassen, auch wenn der ursprüngliche Anlass für das Problem in keinster Weise beseitigt oder geklärt ist.

Mein Vater, der die Geschichte auch nur vom Hörensagen kannte – 1941 geboren war er zu klein, um sich selbst daran zu erinnern -, erzählte die Geschichte immer mit einem Lächeln in Augen und Mundwinkeln. Mit Grübchen und Lachfalten. Ein wenig verschmitzt. Er hätte sie auch empört erzählen können. Mit deutlich sichtbarem Unverständnis über diesen Faulpelz, dem jede Gelegenheit recht war, sich vor der Arbeit zu drücken. Mit Häme. Mit schlecht verborgener Abneigung gegen Menschen, die Dinge anders kennen und anders machen.

In diesem Jahr, wo meine Nerven nach mehr als 3 Monaten Pandemie ein wenig dünn geworden sind, ruft mir dieser 29. Juni also das gemeinsame Lachen ins Gedächtnis. Wir können die Ursache für die Probleme, über die wir täglich stolpern, für die Sorgen und Nöte, nicht mal eben im Handstreich erledigen. Aber anstelle von Empörung und Unwillen können wir Fragen stellen. Gemeinsam lachen. Ab und an einen Tag Auszeit nehmen. Und dann zusammen weitermachen. Bis Maria flieg in die Luft am 15. August. Und auch darüber hinaus.

Kleine Highlights

Schon wieder eine Woche, die vorbei ist, bevor ich richtig gemerkt habe, dass sie angefangen hat. Und das lag nicht nur am Feiertag am Montag. Aber ein paar Highlights sind mir im Gedächtnis geblieben. Und wenn ich so zurückschaue frage ich mich mal wieder, wie das alles in diese paar Tage gepasst haben kann.

Ich bin zur Wahlhelferin für die Kommunalwahl im September berufen worden. Es wird sicher spannend, wie viele Menschen dann wirklich wählen kommen, oder ob Briefwahl der neue Trend wird. Das ist ein Dienst, das ich total gerne tue. Es fühlt sich ein bisschen an wie ein Dienst an der Demokratie. Das klingt pathetisch, aber ein bisschen demokratisches Pathos kann in Zeiten wie diesen ja nicht schaden.

Durchaus auch im Gedächtnis bleiben wird mir mein sprachloses Unverständnis über die Lage in den USA. Entsetzen. Empörung. Und eine Gefühl von sehr großer Rat- und Hilflosigkeit. Auch an den ‚Brennpunkt‘ zum Thema Rassismus in der Sendung von Carolin Kebekus werde ich mich erinnern. Und an das gespaltene Gefühl, dass ich mich über die Bilder der großen Solidaitätsdemos freue und gleichzeitig hoffe, dass diese nicht zu Coronavirus-Superspreader-Events werden.

Igor Levit wurde auf Twitter zum Musikwesir in Hasnain Kazims Kalifat ernannt und hat das Kazoo zum Nationalinstrument erklärt. Und jetzt ratet mal, was der Lieblingsmensch gerade gekauft hat. Einmal voll im Trend. Hammer.

Der Lieblingsmensch hat sich übrigens ein Corona-Hobby zugelegt und spielt jetzt Altblockflöte. Wenn er übt, arbeite ich meistens noch und machmal singe ich dann beim Website-Bauen Beatles-Songs oder irische Folk-Songs mit. Beides nicht vorführreif, aber sehr beglückend. Ungeahnt Vorteile des Homeoffice.

Zum ersten Mal Frisör seit Februar – und zum ersten Mal nicht mit dem Vorsatz, eine Frisur zum Glätten zu bekommen, sondern mit Lust auf Locken. Denn seit einigen Monaten ringeln sich die Haare fröhlich vor sich hin und jetzt sind sie zwar ein ganzes Stück kürzer, aber ich freue mich an den Wellen.

Regen. So richtig ausreichend Regen. Landregen am Tag und beruhigendes Tröpfeln zum Einschlafen am Abend. Hagel und Regenbogen. Ich kann mich gar nicht genug freuen. Regen. Hachz.

Spaziergänge mit dem Lieblingsmenschen, bei denen es so wunderbar nach Sommer roch und nach Holunderblüten und Rosen.

Kaffeetrinken mit Fraisier und Schneekuchen auf der Terasse. Zum ersten Mal seit Wochen Freunde gesehen, die nicht so online-affin sind und auch nicht so gerne telefonieren. Mit Abstand und allem drum und dran, aber trotzdem großartig.

Vexations: Gedanken zu einem musikalischen Marathon

Ein politisches Statement war es, das Igor Levit geben wollte mit der Aufführung der Vexations von Satie. Bis zu 20 Stunden könnte es dauern, sagte er im Vorfeld. Stunden, die darauf aufmerksam machen sollen, dass mitten in der Pandemie die Kultur, die Kunst und alles, was sie uns geben und wohin sie uns mitnehmen und was sie mit und aus uns machen, in der politischen Aufmerksamkeit einfach hintenrunter fallen. Ein Protest für das, was uns als Menschen, als Gesellschaft so sehr ausmacht. Ein „stiller Schrei“ hatte Igor es vorher genannt.

Es beginnt auch ganz still. Ruhig. Innig. Nachdenklich. Die ersten Noten, das erste Thema, die erste und die zweite Variation. Und wieder von vorn. Und noch einmal. Und nochmal. Und nochmal. 840 Mal.

Igor kommt herein, setzt sich ans Klavier, sammelt sich kurz und beginnt. Und spielt. Und spielt. Und spielt. Und ich lausche. Lasse mich hineinziehen in diesen immer wiederkehrenden Rhythmus, in die Wiederholung und die nächste und wieder die nächste. 840 Seiten Papier liegen vor und neben dem Pianisten. Nach jedem Durchgang lässt er eine davon zu Boden gleiten.

Für mich wird diese Szene ein Sinnbild für die vergangenen Tage, Wochen, Monate. Sie begannen für mich einfach so. Ohne Vorrede. Ohne Einführung. Hinsetzen und machen, was zu machen ist. Ab und zu eine neue Seite aufschlagen. Ein neues technisches Tool nutzen, eine neue Gruppe Menschen in die Nutzung von Dingen einführen. Eine neue Rubrik auf der Website, jeden Tag ein Update. Eine Videokonferenz und noch eine und noch eine. Als Variation eine Telefonkonferenz und ein Chat. Und dann wieder von vorn. Und nochmal. Und nochmal.

Sorgen um Menschen, die mir lieb sind. Auch um die eigene Gesundheit. Sorgen mit Menschen, deren Arbeitsplatz in Gefahr ist. Um das, was aus unserer Gesellschaft werden könnte. Um Menschen, die von vernünftigen Argumenten nicht mehr zu erreichen sind. Um die kleinen Läden in der Nähe und Lieblingsorte in der Ferne. Zwischendurch Trauer. Und dann wieder von vorn.

Sehnsucht danach, Freundinnen zu umarmen. Nach einem Glas Wein unter einem Sonnenschirm und Zeit zum Reden und zum gemeinsamen Schweigen. Nach Spieleabenden in der großen Runde am großen Tisch, Schulter an Schulter. Nach einem spontanen Ausflug zu Freunden im Nachbarland. Nach der großen Konferenz im Sommer, die nun verschoben ist. Nach dem Meer und nach „mehr“. Sehnsucht. Immer und immer wieder.

Fast zwei Stunden lausche ich Igor am Nachmittag. Dann mache ich Erledigungen, wühle im Garten. Unkraut jäten ist auch so eine ewige Wiederholung mit Variationen, mal mit mehr Löwenzahn, mal mit mehr Giersch oder Brennessseln. Zwischendurch höre ich wieder hinein. Bin sofort wieder mittendrin. Immer noch Satie. Natürlich. So geht es mir auch in meinem Alltag. Ich denke nicht ununterbrochen daran. Aber wenn ich zum Hofladen gehe und die Maske aufsetze, wenn ich Schulungen zu Webinaren umkonzipiere, wenn wir den Familienkaffeeklatsch auf Skype verlegen, ist es sofort wieder da. Immer noch Pandemie. Natürlich.

Am Abend schaue ich wieder hinein, in Igors Klaviermarathon. Ein wenig auch in sein Herz, denke ich. Der Satie klingt nicht mehr ruhig und nachdenklich. Energisch ist er. Wütend. Angestrengt. Igors Gesichtsausdruck ist es auch. Er steht auf und spielt dabei weiter. Es ist ein körperlicher Kraftakt. Eine fast unmenschliche Anstrengung. Der Papierstapel neben ihm ist noch immer riesig. Der um ihn herum, der mit den bereits gespielten Seiten, aber auch.

Ich fühle mich gerührt und verstanden. So ging und geht es mir zwischendurch auch. Die Kraft reicht nicht mehr für langsam und ruhig und innig. Ich werde ungeduldiger, schneller. Spiele nicht mehr sauber mit allen Fingern, sondern hämmere das, was zu erledigen ist, mit dem Zeigefinger in die Tastatur, ins Leben. In solchen Momenten ist in mir wenig Verbindendes, mehr Stakkato. Da versuche ich nur, irgendwie weiterzumachen. Mit schmerzendem Rücken und wehen Gliedern. Da bin ich wütend auf dieses Virus, das mir einfach keine Wahl lässt. Auf die Verschwörungsdemonstranten. Auf die Nachbarn um die Ecke, die ein großes Gartenfest feiern und den Lärm der Gäste, der über die Hecken zu uns hinüberweht. Auf den Neid, den ich dabei verspüre.

Nach Protest klingen die Vexations am späten Abend. Nach Leidenschaft und Aufmüpfigkeit. Nicht mehr nach sachlicher Argumentation und intellektueller Überzeugungskraft, sondern nach einem lauten Verstehmichdoch. Nach mit dem Fuß aufstampfen und nach Empörung. Nach Frust, dass die eigene Haltung nicht verstanden wird, nach laut hinausgerufener Hoffnung, dass der gesunde Menschenverstand doch bitte wieder Einzug halten möge.

Später liegt Igors Kopf in den kurzen Momenten, in denen er nur eine Hand zum Spielen braucht, auf seinem anderen Arm. Oder auf dem Knie, das er angezogen hat. Diese Müdigkeit, sie ist eine vertraute Begleiterin in dieser Pandemie geworden. Ich habe Strategien entwickelt, mit ihr fertig zu werden. Durch sie hindurchzuschreiten. Mit ihr zu leben und zu arbeiten. Aber müde bin ich doch.

Schikanen, Demütigungen. So kann man Vexations übersetzen. Être vexé(e), stelle ich fest, benutze ich nur selten. Beleidigt sein, eingeschnappt, verärgert – in meinem französischen Sprachgebrauch gehört das nicht zum Standardrepertoire. Und während ich in der Nacht wachliege und Igor lausche – mehr als zwölf Stunden spielt er da schon – da denke ich, dass die Pandemie mir auch das gebracht hat. Ungeduldig und quengelig zu sein, eingeschnappt und genervt – und bewusst wieder herauszufinden aus diesen Phasen. Was sonst im Alltag untergeht, passiert in diesen Wochen im Fokus meiner Aufmerksamkeit. Eine zusätzliche Runde beim zum Ritual gewordenen Feierabendspaziergang, eine halbe Stunde im Garten mit den Rosen und den Vögeln und den Bienen. Aufbleiben, bis die ISS über uns hinweggeflogen ist und meinen Blick auf etwas Größeres geweitet hat.

Im ewig Gleichen neue Akzente setzen. Auch, wenn ich mich mal verspiele, Fehler mache, unachtsam bin. Beim nächsten Mal eine kleine Nuance anders machen und schon funktioniert es wieder. Mitten im Kraftakt kleine Momente des Luftholens finden. Kleine Trostmomente, kleine Stützen. Auch zu Igor kommt immer mal wieder ein Helfer, bringt frisches Wasser, Snacks. Als ein soclher Helfer sich nachts in einer der kurzen Pausen ins Bild schleicht, freue ich mich sehr über die Menschen, die es in meinem Leben gibt.

Die letzte Wiederholung habe ich nicht live gesehen. Ich habe noch geschlafen und sie mir später angeschaut. Ganz langsam. Innig. Bewusst. Ein Abschied. Eine Liebeserklärung. Und dann: Klappe zu beim Flügel. Wie es wohl sein wird, wenn ich die Pandemieklappe in meinem Leben zuklappen kann. Wohin gehe ich, wenn ich dann aufstehe. Wie wird es sein?

So wie Saties Musik in mir noch lange nachklingt, wird auch die Pandemie in meinem, in unseren Leben nachklingen. Etwas wird sich verändert haben. Aber manches auch nicht. Das verdanken wir dann auch Menschen wie Igor Levit. Merci.

Rekordverdächtig

Diese Woche versucht, einen Rekord aufzustellen. Zum einen ist sie so schnell vergangen, dass ich es kaum bemerkt habe. Und das will schon etwas heißen bei all den anderen beschleunigten Wochen hier. Schon ist sie vorbei und gerade erst war Montag.

Doch auch beim Kaugummi-Zeit-Phänomen kann diese Woche Top-Platzierungen aufweisen – denn obwohl sie so rasend vergangen ist, fühlt sich ihr Anfang so weit weg an wie ein anderes Jahrzehnt. Was war nochmal am Montag? Ich weiß es noch, aber in der Erinnerung fühlt es sich an, als wäre alles ganz weit entfernt, quasi schwarz-weiß. Vielleicht ein bisschen sepia, auf jeden Fall schon ziemlich ausgebleicht.

Und noch ein Rekord: Den für die freundlichste Kundenhotline. Denn mitten in einer Videkonferenz verschwand das Internet. Nachdem ich erstmal an einen Fehler bei uns im Homeoffice dachte, tat ich, was man eben so tut: Ausschalten, einschalten. Router neu starten. Alle Leitungen überprüfen. Alle Kabel überprüfen. Nochmal aus- und anschalten. Aber immer noch: Nichts. Das Handy ersatzweise als Hotspot einzusetzen, half nichts, denn in fast allen Winkeln, in denen man arbeiten könnte, zeigte es nur Edge an. Und wie der Lieblingemensch so richtig feststellte: Edge ist kein ernstzunehmendes Netz.

Zurück zum Hotline-Rekord: Denn Überraschung, das Problem lag nicht bei uns oder auch nur an mir, sondern an einer Flächenstörung. Nach rekordverdächtigen eineinhalb Stunden in der Warteschleife hatte ich dann einen rekordverdächtig netten Mitarbeiter an der Strippe. Der mir zwar nicht sofort helfen konnte, aber immerhin Ideen für Workarounds unterbreitete und kleine Schritte in diese Richtung einleitete. Auch beim zweiten und dritten Gespräch mit der Hotline traf ich nur auf freundliche, hilfsbereite Menschen, die nicht nur fanden, dass das gar nicht geht: auf unbekannte Zeit kein Internet im Homeffice, wenn da ein Softwareingenieur und eine Onlinerin sitzen, sondern die auch mit dafür sorgten, dass wir hier jetzt zumindest einen mobilen Hotspot haben und nicht ganz von der digitalen Welt abgeschnitten sind. Ein dickes Lob an Netcologne! (Ja, versteht das ruhig als Werbung, völlig unbezahlt, aber auch völlig verdient.)

Noch ein Rekord? In einer größeren Videokonferenz flogen mehrere Teilnehmer*innen aus der Leitung und da ich die Technikfee dieser Veranstaltung war, sorgte ich mehr oder weniger gleichzeitig per Telefon, Chat in verschiedenen Messengern und E-Mail dafür, sie wieder online zu bringen. So K.O. (und so zufrieden) war ich nach einer Konferenz schon lange nicht mehr 🙂

Außerdem wäre da noch ein Erdbeer-Verzehr-Rekord zu vermelden. Ein Leserekord (ich habe diese Woche tatsächlich ein ganzes Buch gelesen. Und ein halbes noch dazu.). Ein Frisurenrekord (hooray für die neu gewachsenen Haare, die sich so nett ringeln und für Lockenschampoos). Ein Gartenrekord: Es gab jeden Tag eine neue Rosenblüte. Und dabei hat das kleine buschige Röschen mit den vielen Knospen noch gar nicht richtig mit dem Blühen angefangen.

Und dann noch Igor Levit, der Saties Vexations spielt. 840 Wiederholungen. Ich habe nicht die ganzen knapp 16 Stunden zugehört, aber anfangs anderthalb und dann zwischendruch nochmal ein wenig und ein wenig länger und dann bis tief in die Nacht hinein. Hingerissen, nachdenklich, berührt. Wow.

Distanzkaffee (juhuuu)

Diese Woche ist die erste seit dem 14. März, die in meiner Wahrnehmung nicht komplett verschwimmt. Das liegt mit Sicherheit an den Highlights, die sie mitbrachte. Vielleicht auch an den Rosen im Garten, an denen ich mich nicht sattsehen kann. Am Regen (Regen!!!1!!11!!! <3)

Eine Skype-Kneipe am Whisky-Tag, bei der ich Wein trank (ja, sowas merke ich mir dann und ihr könnt gerne den Kopf schütteln, taten die anderen auch). Ein virtuelles Wiedersehen mit einer Kollegin von ganz früher und hach, was war das schön.

Sommerschnitt der Ligusterhecke und Kampf dem Mehltau am Kirschlorbeer. Ungehandschuter Engtanz mit einer Brennnessel, die sich dreist unter den Rosenblättern versteckt hatte.

Gespräche über die Pandemie und ihre Folgen in Großbritannien und Italien und Uganda am Rande von Arbeitsmeetings. Über den dortigen Fortschritt von Tracing-Apps und ihre Wahrnehmung diskutiert. Erfahren, wie der Blick der Kolleg*innen auf Deutschland ist (Anerkennung für die guten Zahlen und die hohe Testfrequenz, aber auch besorgte Fragen: Gibt es wirklich diese Demos mit den Judensternen?)

Mein erster Fraisier und meine erste Crème patissière (ist es zu glauben?). Und das erste Mal googeln: Wie rette ich eine viel zu flüssige crème pat?

Ein Telefonat mit einer lieben Freundin und ganz viel Nähe aus der Ferne.

Und der Haupthöhepunkt am Feiertag: Distanzkaffeetrinken mit einer der Besten auf der Terrasse. Echter Besuch. Für einen ganzen Nachmittag. Live und in Farbe. Mit Abstand und allem, was dazugehört. Aber zusammensitzen und klönen und keine Eile haben und überhaupt. Hach, hach hach. Hatte ich schon hach gesagt? Hachz!!!!

Ohne Happy End

Mittlerweile war sie größer als ich. Und breiter. Und das will wirklich etwas heißen. Sie hatte mehr als ein Dutzend Knospen. Und ließ sich deutlich mehr Zeit mit dem Blühen, als ich vor mehr als 2 Wochen vermutet hatte. Da hatte ich die Größe ihrer Knospen erstmals wahrgenommen.

In unserem kleinen Garten habe ich ihre Artgenossen konsequent ausgemacht. So wie die Brennesseln und den Löwenzahn. Aber hier, am Wegesrand in dem kleinen Wäldchen am fast ausgetrockneten Bach, da durfte sie wachsen. Groß werden und größer. Immer noch einen Trieb und noch einen.

Sie war nicht die einzige, aber doch die erhabenste. Seit Wochen spazierten wir immer und immer wieder an ihr vorbei. Sie wurde unsere Feierabendspaziergangsvertraute. Wir freuten uns, als sie unsere Kniehöhe überschritt, dann die Hüfte, dann die damals kaputte Schulter. Der Lieblingsmensch hielt uns zusammen im Bild fest, als wir gleich groß waren. Noch gestern versuchte ich, auf Zehenspitzen einen Blick auf die höchste Knospe zu erhaschen. Wir schätzten, wie lange sie wohl brauchen würde, um die ersten violetten Strahlen herauszulassen auf dem hüschen Knubbel, der eine Blüte werden sollte. Und wunderten uns, dass das viel länger dauerte, als wir zunächst gedacht hatten.

Wir hatten sie ins Herz geschlossen. Selbst wenn wir sonst schweigend und einträchtig nebeneinander gingen, kamen wir unserer neuen Freundin näher, tauschten wir Vermutungen aus, wie sie jetzt wohl aussehen mochte.

Und heute – heute ist fast nichts mehr von ihr übrig. Jemand hat sie mutwillig zerschlagen. Ihr festen Stängel abgebrochen, ihre Blütenansätze zertreten. Da war niemand pflegend am Werk und wollte die Ausbreitung des „Unkrauts“ verhindern. Niemand, der den Spazierweg auch für Menschen mit Beinträchtigung und Rollator besser begehbar machen wollte. Niemand, hinter dessen Tun irgend ein Sinn erkennbar wäre. Rohe Kraft, sinnlose Zerstörung. Im besten Fall gedankenloses Auslassen von Übermut oder Wut. Aber da muss jemand schon eine ganz schöne Wucht angewandt haben.

Jetzt ist sie weg, die größte Distel, die ich je bewusst gesehen habe. Und an jedem Feierabendspaziergang werden die abgeknickten Stängel, die zertretenen Stiele, Blätter und Knospen mich an diese unnütze, überflüssige Idiotie erinnern.

Ich habe einen Moment lang überlegt, ob ich daraus eine Parabel auf die aktuelle gesellschaftliche Situation machen soll. Aber dieser Quatsch bleibt einfach so für sich stehen. Meine Enttäuschung auch.