Ein Jahr

Heute ist es genau ein Jahr her. Vor einem Jahr kam ich zurück von den Schreibexerzitien auf Norderney. Im Zug verfolgte ich online die Pressekonferenz des Ministerpräsidenten, bei der die Schulschließungen verkündet wurden. Eine Woche zuvor war ich ausgebrochen, schon befasst mit Kommunikation zur Pandemie. Aber nach diesen Tagen auf der Insel, weit weg vom Alltag und aufgefüllt mit Kreativität und Ruhe und Meeresrauschen, mit neuen Bekanntschaften und überraschen Persepktiven, nach dieser Auszeit fühlte es sich an, als käme ich in eine andere Wirklichkeit zurück.

Samstags begann die Arbeit mit Absagen von Veranstaltungen, montags war der Lieblingsmensch nochmal im Büro, um seine Unterlagen zu holen, dienstags ich. Und seither gibt es hier eine neue Realität. Die sich immer wieder verändert hat, aber im Grunde ist heute Jahrestag.

Wir haben uns eingelebt in diesem Alltag – noch immer glücklich, dass wir keine Existenzsorgen haben müssen. Uns sehr bewusst, dass wir als Kinderlose keine Homeschooling-Homebetreuungs- Homeallessonstiges-Mehrfachbelastung haben. Dass wir mit einer stabilen Internetleitung und den passenden Geräten ausgestattet sind. Dass wir verständnisvolle und flexible Arbeitgeber*innen haben. Wir sind zu zweit und grundsätzlich glücklich miteinander, auch das ein Luxus, den wir Tag für Tag sehen und schätzen. Wir haben Freunde, die das Digitale nicht für einen Gegensatz zur Realität halten und andere, die sich auf diese neue Variante von Realität eingelassen haben. Ich erlebe Verbundenheit auch über die Distanz hinweg und bin sehr dankbar dafür.

Die Zeit verschwimmt noch immer, ohne die Ankerpunkte von außerhalb. Die Sorge um Freund*innen, die die Krankheit überstanden haben, ist noch immer und leider auch manchmal neu präsent. Auch ein Trauerjahrestag rückt näher. Die Sorge um ältere Familienmitglieder kann absehbar kleiner werden – Impftermine sind in Sicht, auch wenn man manche noch mit dem Fernglas suchen muss.

Die Spazierwege in der Umgebung sind begangen, in allen Varianten und Richtungen, in allen Tempi, zu allen Tages- und sogar Nacht- und nun auch allen Jahreszeiten. Der Lieblingsbaum ist noch immer der Lieblingsbaum und die Referenzmagnolie trägt wieder dicke lila Knospen. Die Rosen im Garten fangen an, neue Blätter zu treiben und im Hochbeet beginnt die nächste Saison. Die Freude am Fahrradfahren (beste Anschaffung des vergangenen Jahres) ist geblieben. Die Freude am Musikhören auch, alleine oder mit dem Lieblingsmenschen. Nur so nebenher, aber viel häufiger ganz bewusst und manchmal mit Tränen in den Augen. (Sonst weine ich im Kino, nun eben bei Morton Feldmann, Bach, Tschaikowsky oder Debussy.) Nahezu täglich bekomme ich barocke Blockflötenmusik live gespielt – in die letzte Stunde meines Homeofficealltags hinein, die Freude daran und die Metafreude an der Freude des Lieblingsmenschen sind geblieben.

Was auch geblieben ist, ist das Unverständnis. Für die politische Situation im Allgemeinen und im Speziellen. Ich bin enttäuscht und genervt von all den vielen Mutlosigkeiten und Ratlosigkeiten, von all den Zögerlichkeiten, die noch immer keine gangbaren Auswege und Alternativen sichtbar machen. Von allem Schwarz-Weiß und der Polarisierung und … ach …

Little did we know, lese ich allenthalben. Wie gut, dass ich nicht vorher wusste, was kommt. So nehme ich einen Tag nach dem anderen, verändere mich mit der Situation (beruflich vor allem, aber eben nicht nur) und wundere mich über meine absurden Träume, von denen mir morgens oft nicht mehr bleibt als das bestimmte Gefühl, extremen Unfug durchlebt zu haben.

Ich glaube, ich habe Spaceman Spiff hier schon einmal zitiert – eine Hymne als Mitbringsel von der Insel-Auszeit. Ich spiele sie heute wieder: „Wir sind lange schon auf Reisen und kommen immer nur so weit, wie die Ideen uns tragen, wie der Mangel uns treibt.“ Wie sehr ich mir wünsche, dass ich das im nächsten Jahr wieder auf andere Umstände beziehen kann…

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