Archiv des Autors: Frau ArGueveur

Ein Jahr

Heute ist es genau ein Jahr her. Vor einem Jahr kam ich zurück von den Schreibexerzitien auf Norderney. Im Zug verfolgte ich online die Pressekonferenz des Ministerpräsidenten, bei der die Schulschließungen verkündet wurden. Eine Woche zuvor war ich ausgebrochen, schon befasst mit Kommunikation zur Pandemie. Aber nach diesen Tagen auf der Insel, weit weg vom Alltag und aufgefüllt mit Kreativität und Ruhe und Meeresrauschen, mit neuen Bekanntschaften und überraschen Persepktiven, nach dieser Auszeit fühlte es sich an, als käme ich in eine andere Wirklichkeit zurück.

Samstags begann die Arbeit mit Absagen von Veranstaltungen, montags war der Lieblingsmensch nochmal im Büro, um seine Unterlagen zu holen, dienstags ich. Und seither gibt es hier eine neue Realität. Die sich immer wieder verändert hat, aber im Grunde ist heute Jahrestag.

Wir haben uns eingelebt in diesem Alltag – noch immer glücklich, dass wir keine Existenzsorgen haben müssen. Uns sehr bewusst, dass wir als Kinderlose keine Homeschooling-Homebetreuungs- Homeallessonstiges-Mehrfachbelastung haben. Dass wir mit einer stabilen Internetleitung und den passenden Geräten ausgestattet sind. Dass wir verständnisvolle und flexible Arbeitgeber*innen haben. Wir sind zu zweit und grundsätzlich glücklich miteinander, auch das ein Luxus, den wir Tag für Tag sehen und schätzen. Wir haben Freunde, die das Digitale nicht für einen Gegensatz zur Realität halten und andere, die sich auf diese neue Variante von Realität eingelassen haben. Ich erlebe Verbundenheit auch über die Distanz hinweg und bin sehr dankbar dafür.

Die Zeit verschwimmt noch immer, ohne die Ankerpunkte von außerhalb. Die Sorge um Freund*innen, die die Krankheit überstanden haben, ist noch immer und leider auch manchmal neu präsent. Auch ein Trauerjahrestag rückt näher. Die Sorge um ältere Familienmitglieder kann absehbar kleiner werden – Impftermine sind in Sicht, auch wenn man manche noch mit dem Fernglas suchen muss.

Die Spazierwege in der Umgebung sind begangen, in allen Varianten und Richtungen, in allen Tempi, zu allen Tages- und sogar Nacht- und nun auch allen Jahreszeiten. Der Lieblingsbaum ist noch immer der Lieblingsbaum und die Referenzmagnolie trägt wieder dicke lila Knospen. Die Rosen im Garten fangen an, neue Blätter zu treiben und im Hochbeet beginnt die nächste Saison. Die Freude am Fahrradfahren (beste Anschaffung des vergangenen Jahres) ist geblieben. Die Freude am Musikhören auch, alleine oder mit dem Lieblingsmenschen. Nur so nebenher, aber viel häufiger ganz bewusst und manchmal mit Tränen in den Augen. (Sonst weine ich im Kino, nun eben bei Morton Feldmann, Bach, Tschaikowsky oder Debussy.) Nahezu täglich bekomme ich barocke Blockflötenmusik live gespielt – in die letzte Stunde meines Homeofficealltags hinein, die Freude daran und die Metafreude an der Freude des Lieblingsmenschen sind geblieben.

Was auch geblieben ist, ist das Unverständnis. Für die politische Situation im Allgemeinen und im Speziellen. Ich bin enttäuscht und genervt von all den vielen Mutlosigkeiten und Ratlosigkeiten, von all den Zögerlichkeiten, die noch immer keine gangbaren Auswege und Alternativen sichtbar machen. Von allem Schwarz-Weiß und der Polarisierung und … ach …

Little did we know, lese ich allenthalben. Wie gut, dass ich nicht vorher wusste, was kommt. So nehme ich einen Tag nach dem anderen, verändere mich mit der Situation (beruflich vor allem, aber eben nicht nur) und wundere mich über meine absurden Träume, von denen mir morgens oft nicht mehr bleibt als das bestimmte Gefühl, extremen Unfug durchlebt zu haben.

Ich glaube, ich habe Spaceman Spiff hier schon einmal zitiert – eine Hymne als Mitbringsel von der Insel-Auszeit. Ich spiele sie heute wieder: „Wir sind lange schon auf Reisen und kommen immer nur so weit, wie die Ideen uns tragen, wie der Mangel uns treibt.“ Wie sehr ich mir wünsche, dass ich das im nächsten Jahr wieder auf andere Umstände beziehen kann…

Weiße Weite

Wir trinken Whisky mit den Freunden in unserer kleinen Skype-Kneipe und es schneit. Erst nur ein wenig, dann immer mehr. Irgendwann verabschieden wir uns, denn es zieht uns in den Schnee. Der Lieblingsmensch und ich ziehen uns warm an, ich setze meinen Pussyhat auf (Danke LittleB, er ist einfach jedes Mal wunderbar) und los geht es in die verschneite Nacht.

Nachbars Steinteddy trägt eine schicke weiße Mütze, wir bauen einen kleinen Schneemann und setzen ihn unserer Haustür gegenüber auf eine kleine Verkehrsinsel. Viel Verkehr muss er nicht überwachen.

Still ist es. Man hört nichts außer dem Knirschen unserer Schritte auf dem Schnee. Ich hatte fast vergessen, wie sehr ich dieses Geräusch liebe. Schnee hat einen ganz eigenen Klang, der mich immer schon glücklich macht. Am Bachlauf fallen größere Schneestückchen leise platschend ins Wasser. Dicke Flocken treffen meine Nasenspitze und tauen fröhlich vor sich hin. In den Büschen raschelt es – welche Tiere sich da wohl ein warmes Plätzchen suchen?

Überraschend hell ist es. Der Schnee reflektiert die Lichter der Dörfer in der Umgebung. Das Licht im Gewächshaus der Kräutergärtnerei verzaubert die umliegenden Beete in ein Schattenspieleparadies. Wir spazieren eine große Runde über die Felder. Kohl und Wintergetreide und Rollrasen haben sich zudecken lassen und leuchten uns den Weg.

Die Stille um uns breitet sich aus, mäandert in mich hinein, füllt mich aus. Gehen, atmen, den Schnee hören und riechen und schmecken. Die Weite macht Raum für tiefe Gespräche und einvernehmliches Schweigen.

Wir sind nicht die ersten hier, aber immer wieder stoßen wir auf unberührte Wege, auf denen noch keine Füße und keine Pfoten gelaufen sind. Zeit zum Albern sein. Auf einer großen, unberührten Schneefläche hopse ich wie ein Pinguin, als wäre ich 3 und nicht 43 Jahre alt. Und mache lachend ein Erinnerungsfoto.

Je näher wir auf dem Rückweg dem Dorf kommen, desto mehr Menschen begegnen uns. Hundebesitzer*innen, Spaziergänger, einzeln oder zu zweit. Wir nicken uns zu, lächeln, sind verbunden in der Freude über die unerwartete Pracht. Verzückte Komplizinnen in diesem nächtlichen Genuss.

Wenn wir in diesem Jahr nicht zum Schnee kommen können, kommt er schließlich und endlich doch noch zu uns. Hach, was schön.

Ein quasi französischer Vorsatz

Schon ist das neue Jahr beinahe zwei Wochen alt und ich stolpere so herum. Ich habe all die euphorischen „Jetzt ist der Mist endlich vorbei“-Jahreswechsel-Elogen nicht verstanden. Wobei: Verstanden, wie das kommt, habe ich irgendwie schon. Aber Verständnis dafür war keines in mir übrig. Aber mir ist ja im vergangenen Jahr sowieso das Verständnis für das Konzept Mensch in weiten Teilen verloren gegangen. Mein Verständnis für Menschen so ganz allgemein (was glücklicherwiese ganz gegenläufig war zum Verständnis für und Vertrauen in die konkreten Menschen um mich herum). Der Mittwoch mit dem Sturm auf das Kapitol und sowieso die allgemeine Nachrichtenlage helfen nicht akut beim Zurückgewinnen.

Was ist feststelle ist, dass ich, ohne es bewusst zu wollen und zu überdenken, anscheinend einen Neujahrsvorsatz gefasst habe. Und der heißt Zuversicht. Ich will zuversichlich sein – da ist ja die Impfung am Horizont und der Frühling. Da ist ein virtuelles Gefährtinnentreffen in ganz naher Zukunft, das in diesem meinem Arbeits- und Lebensinternet ein Licht anzündet. Da sind Gespräche, die mich berühren und anrühren und Bücher, auf die ich mich freue. Da ist der Artikel, der besagt, dass das, was der Lieblingsmensch und ich seit dem vergangenen März exzessiv betreiben – nämlich Spazierengehen – jetzt eine Trendsportart sei und das bringt mich tatsächlich zum Schmunzeln. Ich betreibe eine Trendsportart, wenn das kein Grund zur Zuversicht ist.

Ich will zuversichtlich sein. Der Weihnachtsbaum ist abgeschmückt und entsorgt, aber die Weihnachtspost, die von liebevollen und dauerhaften Verbindungen zeugt, die darf bleiben. Auch, weil sie mir Zuversicht spendet für Tage, an denen ich abends mit niemandem mehr reden mag und von Verbindung über alle Einschränkungen hinweg kündet.

Ich will zuversichtlich sein. Nicht diese Art von Zuversicht, dass ich in diesem Jahr alles schaffe, was seit Ewigkeiten liegengeblieben ist und die mich nur unter Druck setzt, weil ich meinen eigenen hohen Ansprüchen dann doch wieder nicht gerecht werde. Nicht diese naive Art von Vorstellung, dass Dinge sich plötzlich auf wundersame Weise ändern und alles so wird, dass ich es als vernünftig empfinde. Sondern die Art von Zuversicht, in der Vertrauen eine Rolle spielt und Geduld (auch in mich und mit mir selbst) und Nachsicht – und ab und an auch Unverständnis und Gereiztheit, weil die Zustände eben so sind wie sie sind. Aber ich lebe in ihnen und mit ihnen und tue eben das, was ich kann. Und sei es nur, einige Tage weniger Nachrichten zu konsumieren und mehr zu lesen (also Literatur, nicht Analysen zur Nachrichtenlage).

Quasi eine französische Art von Zuversicht. Denn da gibt es kein eigenes Wort, sondern man sagt „confiance“ und das meint gleichzeitig Zuversicht und Vertrauen und Zutrauen. Und das Verb ist nicht passiv (zuversichtlich sein), sondern aktiv: faire confiance.

Mal sehen, wohin diese Aktivität mich in diesem Jahr bringt. Wohlan.

Jahresrückblick

Angefangen hat alles im dichtesten Nebel. Wir sahen das Feuerwerk über dem Rheintal kaum von der Dachterasse der Freunde und die Hand nicht vor den Augen auf dem Heimweg am frühen Morgen. Grau und feucht und undurchdringlich lag der Nebel über dem Ort und dem Land und keiner hat geahnt, dass das überraschend lange so bleiben würde in diesem Jahr.

Reisen hatte ich geplant, viele, eine besondere, lange zu einer Konferenz mit beeindruckenden Frauen von allen Kontinenten. Gewesen bin ich dann in Hannover (zum Singen, es klingt wie ein ferner Traum), in Rom und auf Norderney. Auf der Fähre auf dem Rückweg habe ich zum letzten Mal jemand anderen umarmt als den Lieblingsmenschen. Der 13. März war das.

Ab dem 14. März verschwimmt dann die Zeit, klebt zusammen wie Brei, wird undurchdringlich wie Nebel. Was habe ich viel erklärt und gezeigt und herausgefunden und umkonzipiert und hintereinander weggearbeitet, was anfiel, das geplante und so viel ungeplantes. Was habe ich viel funktioniert, muss ja, geht ja nicht anders. Pläne geschmiedet und fallengelassen, Ideen im Abstellraum geparkt, Besuche verlegt und dann abgesagt. Blogtexte angefangen und nicht zu Ende gedacht, nicht zu Ende geschrieben.

Doch wie das im Nebel so ist, ragen einige Ereignisse heraus, sind besser sichtbar als andere. Wie Leuchttürme, die man weithin sehen kann und die Licht werfen auf das, was im Schatten der Zeit versunken ist.

Der virtuelle Geburtstag ganz zu Beginn des Lockdowns. Die Osternacht in unserer Hauskirche, in der ich das Exsultet sang und der Lieblingsmensch die gregorianischen Choräle.

Der Ostersonntag, der nicht Jubel, sondern Tränen brachte, denn das Virus, dem ich so viele Schimpfworte gegeben habe, nahm jemanden aus meinem Herzen mit.

Lange Spaziergänge über die Felder. Ein musikalischer Haustürbesuch und Videodates mit lieben Menschen. Virtuelle Spieleabende. Igor Levits Hauskonzerte und TRänen zu Morton Feldmann.

Dankbarkeit für berufliche Sicherheit und den neuen Verantwortungsbereich. Respekt vor den Kolleg*innen, die systemrelevant und trotzdem so oft ungesehen sind und nicht nachlassen in ihrem Einsatz.

Der erste Besuch auf der Terasse, mit Abstand und Fraisier. Überhaupt half mir Backen immer wieder, den Bezug zum Jetzt nicht zu verlieren und mich auf kleine, konkrete, messbare, planbare Dinge zu konzentrieren.

Das Glitzern der Morgensonne auf dem Rhein an den vielen Fahrradpendeltagen und französisches Frühstück auf einer Caféterasse.

Tage am Meer, zu dem wir keinen Abstand halten müssen. Mit Schafen und einem Sturmtag und Seehunden.

Ein Frauen-Krafttank-Tag und immer wieder Stärkung beim Freitagsritual.

Zusammenhalt und Nähe in der Distanz bei neuen schlechten Nachrichten. Ein Abend mit einer Freundin am Rhein und wahrhaftig ein Theaterabend in einem luftigen Zelt.

Vespergebet vor der Kapelle an Sommer- und Herbstabenden.

Und dann, am Ende des mez du, des schwarzen Monats, wie die Bretonen den November nennen, und der auch in mir so dunkel war, Gefährtinnen in meinem Internet und die Erneuerung eines Versprechens. So schlicht und doch so bewegend, stärkend, tröstend.

Noch eine Frauen-Video-Runde ist da plötzlich, für die ich mehr werde als die Technikfee und die Erklärbärin und die den Blick weitet.

Weihnachtspost, so viel Weihnachtspost. Mit Worten, die die schönsten Geschenke sind.

Vor allem Menschen. Die nahe sind, egal wie viele Kilometer uns trennen. Die mir Hoffnung geben und Trost sind und Freude bringen und gemeinsames Lachen. Die an mir festhalten, auch wenn ich nichts festhalten kann. Die mir mein Schweigen nicht übel nehmen (ich habe tagsüber so viel geredet, dass abends oft keine Worte übrig waren) und die Distanz überwinden. Denke ich zurück an das Jahr, sind es diese Menschen – altbekannte und neue, nahe und ferne, regelmäßige und selten gehörte, die durch den Nebel scheinen, sichtbar sind, mein Herz zum Schwingen gebracht haben.

Das Jahr endet grau und verregnet, mit einer stärkenden Aufmerksamkeit im Briefkasten und einem Silvester-Care-Paket für die Freunde, deren Dachterasse ohne uns auskommen muss. Und mit Hoffnung – nicht alles wird morgen anders, aber mit den Leuchtturm-Menschen um uns herum bin ich zuversichtlich, dass der Sturm uns nicht zerbricht.

Danke an euch, ihr wisst, wer ihr seid.

Tauet Himmel…

Normalerweise gibt es in unserem Dorf einen lebendigen Adventskalender. Jeden Tag gestaltet eine Familie ein Fenster, Menschen  versammeln sich vor der Wohnung oder dem Haus. Während einer kleinen Adventsandacht wird das Fenster feierlich erleuchtet, danach gibt es Glühwein und Kinderpunsch und fröhliche Gespräche. In diesem Jahr ist alles anders, weil: Keine große Menschenansammlungen auf kleinem Raum undsoweiter. Aber sonntags treffen wir uns – draußen und mit Abstand und Masken, zu einem ökumenischen Gottesdienst. Ich durfte heute die Eröffnungsrede halten. Und schreibe sie auch hier hin:

Heute ist der erste Advent und er ist so ganz anders als sonst. Wir versammeln uns draußen, mit Abstand. Es gibt keinen gemeinsamen Glühwein, keinen Kinderpunsch, keine Plätzchen. Und der Text, über den ich heute sprechen soll, steht im 24. Psalm, Vers 7. Martin Luther hat ihn so übertragen: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“

Worte, die in diesem Jahr auf den ersten Blick so gar keinen Sinn ergeben. Denn was wir genau nicht tun können, ist, die Tore weit aufmachen, die Türen öffnen für Verwandte und Freunde, für Kolleg*innen und Bekannte. Keine Adventsfeiern, kein Weihnachtsessen in gemütlicher Runde, kein Beieinandersein, kein Kerzenschein, denn die Kerzen gehen beim Lüften so schnell aus. Machet die Tore weit… fällt also aus. Aber was dann?

Es gibt noch einen anderen Text für den Advent, den ich seit meiner Kindheit sehr schätze. Es ist der Text eines Adventsliedes und er geht zurück auf die uralten Worte eines lateinischen Hymnus: Rorate, caeli, desuper, et nubes pluant iustum! – Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, lasst den Gerechten regnen!

Im Liedtext wird daraus:

Tauet Himmel den Gerechten! Wolken, regnet ihn herab! Rief das Volk in bangen Nächten,
dem Gott die Verheißung gab, einst den Mittler selbst zu sehen und im Himmel einzugehen.
Denn verschlossen war das Tor, bis ein Heiland trat hervor.

Darin finde ich mich in diesem Jahr besonders wieder. Denn bange Nächte, die hatte ich, die hatten wir vermutlich alle, seit Mitte März zur Genüge. Wir haben gebangt und bangen noch um die eigene Gesundheit und die von lieben Menschen. Haben Sorge um den Arbeitsplatz, um die eigene Existenz. Sorge um Orte und Einrichtungen, die uns etwas bedeuten: Der Chor, das Fitnessstudio, Café, Restaurant, Künstler*innen, Museen, Theater, … Sorge darum, was die Einschränkungen mit uns und der Gesellschaft machen. Für viele die Sorge um die Mehrfachbelastung mit Homeoffice und Homeschooling, ums regelmäßige Lüften, um Desinfektionsmittel, und, und, und … Da kann einem schon einmal angst und bang werden.

Und dann eine zweite Welle genau in der Zeit, in der wir sonst so gerne zusammenrücken. Tauet Himmel, denke ich und wie schön es doch sein könnte, wenn mit einem kräftigen Landregen das Virus und die Sorgen einfach davongespült werden könnten. Wenn es Vernunft regnen würde und Langmut. Würde es doch Solidarität regnen mit denen, denen es nicht gut geht – wirtschaftlich, finanziell, gesundheitlich. Ein Regen aus Hilfsbereitschaft mit denen, die zu einer der Risikogruppen gehören und mit denen, die sich engagieren an Teststationen und Notaufnahmen, in Pflegeheimen und Laboren, in Supermärkten und Gesundheitsämtern.

Aber so funktioniert das eben nicht. Nicht einmal bei Gott. Denn der erfüllt zwar den Ruf des Volkes in bangen Nächten und schickt den Gerechten, seinen Sohn. Aber eben nicht als einer, der auftaucht und alle Ungerechtigkeiten beseitigt, alle Armut und Unfreiheit und Versklavung davonfegt. Kein Superheld mit schickem Umhang und magischen Fähigkeiten. Ein Heiland, der ganz anders Heil bringt und heil macht, als man sich das landläufig so vorstellen mag. Ein Kind in der Krippe. Armselig. Hilflos. Auf andere angewiesen.

Für mich liegt genau darin ein Schlüssel, wie wir diesen Advent feiern können – auch ohne gemeinsames Treffen vor den Fenstern, ohne Glühwein und Plätzchenteller, ohne Weihnachtsmarkt und Weihnachtsfeier.

Wir können uns an Gott wenden – ihn anflehen, ihm unsere Sorgen hinhalten, zu ihm bringen, was uns bange macht. Und wir können uns einander zuwenden. Einkaufen für die, die in Quarantäne sind oder zu einer Risikogruppe gehören. Anrufen, wenn wir von jemandem wissen, der einsam ist. Brieffreundschaften pflegen – per MessengerApp, per E-Mail oder ganz altmodisch mit der Post. Jemandem ein Glas Marmelade vor die Tür stellen oder Pesto oder einen kleinen Weihnachtsstern. Die, die technisch affin sind, können anderen helfen, mit den neuen Kontaktmöglichkeiten zurechtzukommen – auch und gerade dann, wenn es gilt, etwas immer und immer wieder zu erklären.

Wer freie Zeit hat, kann der Nachbarin, die auf der Intensivstation arbeitet, das Fensterputzen abnehmen. Wer ein Rezept hat, das nicht nur den Magen, sondern auch die Seele wärmt, kann es an seine Freunde weitergeben, alle kochen es am gleichen Abend und schicken sich die Fotos vom schön gedeckten Tisch via Signal oder WhatsApp. Man kann sich zur gleichen Zeit verabreden zum Gebet – jeder für sich oder gemeinsam via Videochat.

Wer die Möglichkeit hat, kann großzügig sein – dem Obdachlosen in der Fußgängerzone etwas geben, gerade jetzt ein Ehrenamt übernehmen, einer gemeinnützigen Organisation etwas spenden.

Es gibt unzählige Möglichkeiten, das umzusetzen, was im Advent – und darüber hinaus – wichtig ist: Gemeinschaft, Solidarität, Mitmenschlichkeit, Zusammenhalt. Menschwerdung. Sie regnen nicht von oben herab, wir müssen sie selbst finden und selbst tun.

Das wusste übrigens auch der Lieddichter im frühen 19. Jahrhundert. Denn „Tauet Himmel“ hat nicht nur die ersten, so bekannten Verse. In der letzten Strophe heißt es:

Laßt uns wie am Tage wandeln, [nicht in Fraß und Trunkenheit.]
Suchet, um gerecht zu handeln, Wahrheit, Fried und Einigkeit.
Jenem gänzlich nachzuarten, dessen Ankunft wir erwarten.
Dieses ist der Christen Pflicht, wie es der Apostel spricht.

Das biblische Weihnachten, auf das wir uns vorbereiten, ist kein Spektakel, es besteht aus kleinen Wundern. Aus einem Kind und aus Menschen, die pragmatisch das Beste daraus machen. Die – wie die Hirten – nichts haben, und eben sich selbst mitbringen an die Krippe. Die sich auf Neues einlassen und Wege gehen, die sie noch nie gegangen sind, wie die drei weisen Sterndeuter. Und aus den Worten des Engels, denen wir heute noch vertrauen dürfen. Fürchtet euch nicht. Denn euch ist heute der Heiland geboren.

Einen gesegneten Advent wünsche ich uns – trotz allem und gerade darum.

Sternstunde

Das Leben geht immer weiter. Wir haben uns sehr eingeigelt. Außer meinen drei Bürotagen und einem wöchentlichen Einkauf gibt es Live-Kontakte nur mit einem befreundetem Paar. Alles andere findet online oder am Telefon statt. In den vergangenen Wochen hieß das sehr oft, es findet nicht statt. Denn die Arbeitstage machen mich so müde wie lange nicht mehr. Es kostet mehr Kraft als sonst, alle Bälle in der Luft zu halten und pragmatisch damit umzugehen, wenn einer runterfällt.

Morgens ist es lange dunkel und nachmittags schon wieder früh. In der Zeit dazwischen tanke ich Licht und Herbstfarben so viel ich kann und hoffe, dass sie mich über den Winter bringen. Wie schön, dass wir nicht nur einen goldenen Oktober, sondern auch einen ziemlich goldenen November haben. Das ändert aber wenig an den immer gleichförmigen Tagen ohne Verabredungen, ohne Kino, Konzert, Museum. Ohne Übernachtungsgäste und ohne Wochenendtouren zu Freundinnen oder ans Meer. Ohne Käsefondue und Whisky mit den Besten. Ohne – ach, ihr kennt das ja alle.

Was mir am meisten zu schaffen macht, ist, wie schwer es mir fällt, an meinem positiven Menschenbild festzuhalten. Natürlich gibt es all die vielen kleinen (und auch gar nicht so kleinen) Hilfsangebote und Solidaritätsaktionen im näheren und weiteren Umfeld. Die Menschen, die aufeinander achtgeben und die, die das große Ganze im Blick haben und laut sind für Gerechtigkeit und all jene, die keine Stimme haben. Aber die anderen, die werfen lange Schatten auf meine Hoffnung. Die Populist*innen und Verschwörungsverbreiter*innen, die Menschenverachter*innen und – ach, sie sind Legion, die Bekloppten. Die in weiter Ferne und die überraschend nahen.

Und dann sind da plötzlich Gefährtinnen in diesem Internet. Nicht irgendwelche Gefährtinnen, sondern die Gefährtinnen Mary Wards, „meine“ Gefährtinnen. Lauter im wahrsten Sinne des Wortes wunderbare Frauen. Viele von ihnen sind bisher so gar nicht online-affin. Sind durch die vergangenen Monate gegangen ohne Videocalls, ohne digitale Meetings, ohne Skype, Zoom, Facetime und Co. Und doch schlägt eine vor, dass wir unser Jahrestreffen nicht einfach ausfallen lassen, sondern damit ins Internet umziehen. Und statt abzuwägen, ob das überhaupt geht, ob man das schaffen kann, welche Nachteile das hat undsoweiterundsofort, krempeln alle die Ärmel hoch. Diese großartigen Menschen lassen sich auf Neues ein, probieren Dinge aus, von denen sie vor einigen Tagen noch nicht wussten, dass sie sich die zutrauen. Die eine hat eine Idee für eine digitale Ankommrunde, andere kümmern sich um die Gestaltung unserer Vesper, ich kümmere mich um die Technik und darf mit ein paar Online-Neulingen unter der Woche „üben“. Eine organisiert ein virtuelles Dankeschön für die scheidenden Verantwortlichen und ein Willkommen. Und als wir uns treffen, strahlen mir viele Augenpaare entgegen. Wir teilen, was uns bewegt, hören, wie es bei den anderen in allen Himmelsrichtungen aussieht, was die Pandemie mit uns macht – organisatorisch und ganz persönlich. Wir zünden Kerzen an und feiern gemeinsam.

Mehr noch als die Sonne und die farbigen Blätter füllt diese kleine Feier mein Herz auf mit neuer Hoffnung, mit Wärme und Mut und Vertrauen. Hach, hach, hach.

Wie im Comic

An meinem Bildschirm im Büro lehnt seit vielen Jahren (und in verschiedenen Büros) ein kleiner Tintin – der Held aus Tim und Struppi. Ich habe ihn damals bei meinem ersten Besuch in Louvain-la-Neuve aus dem Hergé-Museum mitgebracht. Er erinnert mich nicht nur an die schönen und für mich wichtigen Tage in dem kleinen belgischen Städtchen, sondern weckt auch Erinnerungen an die Lektüre der Comics als Jugendliche.

Man sollte also meinen, dass ich Comics super finde und nichts dagegen habe, in Szenen aufzutauchen, die eines Comicheftes würdig wären.

Von wegen.

Heute fahre ich mit dem Rad von Köln aus nach Hause. Ich starte bei bewölktem Himmel mit großen blauen Flecken dazwischen. Als ich auf den Radweg am Rhein einbiege, kommt sogar die Sonne heraus und bringt das Wasser zum Glitzern. Ich düse also fröhlich am Rhein entlang, komme aus der Stadt heraus und bin noch nicht sehr besorgt, dass es über mir ziemlich duster wird. Vor mir, hinter mir und um mich herum überall weiße Wolken und nur ein wenig hellgrau. Da wird die große schwarze Wolke über mir doch nicht… äähhh, doch. Wird sie. Tut sie.

Naja, ich bin nicht aus Zucker und auf dem Heimwegwi. Wird schon und ich habe ja schon ganz andere Regengüsse mitgemacht und erinnere mich super gerne daran – denke ich bei den ersten dicken Regentropfen. Doch noch bevor ich zuende gedacht habe, bin ich pitschepatschenass. Aus dem Tröpfeln wird mir nichts dir nichts ein Guss. Die Wolke über mir regnet auf mich. Besser gesagt: Sie schüttet. Als müsse sie all ihren Inhalt auf einmal abwerfen. Auf mich. Genau dann, als ich am Forstbotanischen Garten entlang radle, weit und breit kein Dach und keine Brücke zum Unterstellen. Wie in so einem Comicbuch oder einem Zeichentrickfilm aus Urzeiten. Fehlt nur die klimpernde Musik, die klar macht, dass es hier den richtigen, nämlich den Schurken erwischt – oder den armen Tropf, der einfach immer Pech hat.

Dann wird aus dem Regen Hagel. Aua. Ich strample tapfer weiter. Noch 12 Kilometer,  mit mittlerweile durchsichtigem Shirt und nassen Füßen (sollten die Schuhe nicht wasserdicht sein?). Noch 2 Kilometer, dann kommt eine Brücke. Und was soll ich euch sagen: Als ich sie erreiche, hört es auf zu schütten. Von jetzt auf gleich kein Tropfen mehr. Stattdessen: Sonne. Und nichtmal ein Regenbogen.

Ab sofort kommen mir Profiradler en masse entgegen. Mit Profiausrüstung natürlich, Trikot und Regenjacke und Klicksystemschuhe. Einer sogar mit Regenschutz für den Helm. Sie grinsen mich an, feixen – genau wie die Typen in den Comics, die neben der Wolke stehen und lachen.

Aber hallo? Ich bin weder eine Schurkin noch die Trotteline vom Dienst. Ich will doch nur nach Hause. Und was sehen würde ich auch gerne. Gibt es Scheibenwischer für Brillen? Egal. Fest steht jedenfalls: Ich nehme das persönlich.

Aber keine Angst, Tintin darf bleiben. Von der Kindersehnsucht, einmal eine Heldin aus einem Comic zu sein, bin ich allerdings erstmal kuriert.

Auf der Piazzetta

Bei uns im Dorf gibt es diesen einen Ort. Er liegt erhöht, vermutlich ist es sogar die höchste Stelle. Eine kleine Kapelle steht darauf und eine alte Kastanie. Zwischen diesen beiden liegt der Platz. Die Pflastersteine ergeben kein spektakuläres Muster, es gibt keinen Brunnen oder sonst irgendeine Besonderheit. Aber an drei Seiten gibt es ein Mäuerchen zum Sitzen und Atem holen. Zum Zur-Ruhe-Kommen und In-den Abendhimmel-Schauen. Zum Händchen halten. Und zum Vesper beten.

In diesem so ganz anderen Sommer ist der Platz an einem Abend in der Woche zum Treffpunkt geworden. Es ist gar nicht weithin bekannt, nur mit etwas Glück habe ich davon erfahren (wobei das größe Glück dabei ist, die Organisatorin zu kennen – und das gilt natürlich weit über diese Aktion hinaus). Einige kommen zu Fuß, andere stellen das Fahrrad unten am Hügelchen ab. Mit Mund-Nasen-Schutz gehen wir alle nacheinander die paar Stufen der Treppe hinauf und jede*r, wirklich jede*r bleibt erst einmal stehen und sieht in die Krone der Kastanie und holt tief Luft. Schön hier.

Mit Abstand verteilen sich die Menschen – meistens eine Hand voll, nicht mal ein Dutzend,  gerade so viele, dass der Platz ausreicht auf den Mäuerchen. Gemeinsam beten wir die Vesper – und wenn der Abstand ausreicht, wird sogar ein Psalm oder das Magnifikat gesungen. Lässt das Wetter es zu, wird hinterher noch geplaudert, in der Abendsonne oder – wie schön, dass es ihn gibt – im Schatten der Kastanie.

Mir tut diese Gebetsgemeinschaft aus verschiedenen Gründen gut. Zum einen ist es schön, nicht nur mit dem Lieblinsgmenschen Hauskirche zu zelebrieren, sondern Gemeinschaft zu sein, so klein und improvisiert sie auch sein mag. Zum anderen tut es mir gut zu sehen und zu erleben, dass da mitten in in unserem Dorf, wo die Kirche ab Mitte März durchgehend geschlossen und nicht einmal zum stillen Gebet geöffnet war, Menschen kreativ geworden sind und Möglichkeiten geschaffen haben, wo es offiziell keine gab. Die Sache selbst in die Hand nehmen, solidarisch sein, sich umeinander und füreinander sorgen. Kleine Dinge, die so große Wirkung haben. Wo zwei oder drei… auch und gerade auf unserem kleinen Dorfplatz.

Blick auf die Alhambra

Als Kind mochte ich die Geschichte von Frederik der Maus, die nicht wie die anderen Mäuse Vorräte sammelt für den Winter, sondern Farben und Sonnenstrahlen und Geschichten. Und der damit dazu beiträgt, die Mäuse durch den Winter zu bringen.

Ich habe dieser Tage wieder daran gedacht. Igor Levit spielte Beethoven in der Alhambra und postete Fotos von dort. Ich suchte, ob es eventuell einen Livestream gäbe und fand – Erinnerungen, an die ich lange nicht gedacht hatte. Die aber mit mehr kamen als mit Bildern. Sie brachten Gerüche mit und der Geräusch von plätscherndem Wasser überall in den Gärten der Alhambra das Gefühl von warmem Frühlingswind auf der Haut.

Gesehen habe ich die Alhambra vor mehr als 20 Jahren, als ich einen Freund besuchte, der in Granada studierte. Ich erinnere mich an mein überwältigtes Staunen ob der Räume und der vielen schönen Details. An das wunderschöne Gewölbe in der Sala de los Abencerrajes. An den sonnenbeschienenen Löwenhof, die wunderschönen Spiegelungen im Wasser des Myrtenhofs. An die Gartenanlage des Generalife und die Wasserspiele. Ich erinnere mich auch an das vertraute Gefühl von Freundschaft, von Zweisamkeit inmitten der vielen Menschen dort. An die Freude an der Schönheit, die ich dort so intensiv empfand.

Ganz besonders erinnere ich mich aber an einen anderen Moment mit der Alhambra – am frühen Morgen, bevor ich sie von innen sah. Ich wohnte in einer kleinen Pension im Albaicín und wurde früh wach. Ohne Plan wanderet ich durch das Altstadtviertel, hinauf auf den Hügel, der der Alhambra gegenüberliegt. Auf dem Aussichtsplatz vor einer Kirche waren Bauarbeiter am Werk und machten gerade Kaffeepause. Ich setzte mich auf ein Mäuerchen und winkte zurück, als sie mir Grüße zuriefen. Einige kamen herüber, brachten mir einen Plastikbecher und schenkten mir Kaffee aus ihrer Thermoskanne ein. Ich erinnere mich an den starken, bitteren Geschmack des Kaffees, das Radebrechen zwischen Spanisch, Englisch und Französisch. Das gemeiname Lachen über die unbeholfene Kommunikation.

Ich erinnere mich an das Glücksgefühl, die Morgensonne über dem alten Palast zu sehen, an die Unbeschwertheit dieser Ferientage mit frühsommerlichen Temperaturen und Sonne satt – kam ich doch aus bretonischem Regen (und sogar einen Abend Schnee) in überreichen Mengen. An die Freude, an diesem frühen Morgen an diesem schönen Fleckchen Erde zu sein, ganz allein und ohne Verpflichtungen. Die Teekanne und die Gläser, die ich mir auf dem Rückweg gekauft habe, sind unglaublich kitschig, aber ich bringe es nicht übers Herz, sie  wegzugeben.

Vielleicht koche ich mir heute Nachmittag Tee fürs Homeoffice in genau dieser Kanne – damit mich die Frühlings-Erinnerungen durch diesen Tag tragen, der sich wie ein November-Montag anfühlt, mitten im Juli.

Ausschau halten

Es ist kühl geworden, in der Nacht. Und hell. Nachdem die Straßenlaternen tagelang ausgefallen waren, wurden sie pünktlich zum Sichtbarwerden des Kometen Neowise wieder repariert. Und meine Güte, gibt es hier viele davon. Im Garten sorgen sie für helles Licht. Auf der Straße natürlich auch. Auf den Wegen hinaus aus dem Dorf. Bis hinaus auf den Feldweg leuchten sie.

Vom Nachbarort scheinen die Lichter der Industrieanlagen herüber. Scheinwerfer von der Bundesstraße, die nachts so nah zu sein scheint.

Es riecht nach verfaulenden Äpfeln – einige sind auf die Straße gefallen, als diese noch warm war. Und nach Kräutern aus der nahen Gärtnerei. Minze. Melisse. Vielleicht auch Tymian.

Eine Katze streicht vorbei und maunzt anklagend. Wir gehören hier nicht hin, nicht um diese Zeit, in ihrem Revier.

Die Sonnenblumen auf dem Feld neigen die Köpfe und nicken uns im sanften Nachtwind Grüße zu. Tournesol heißen sie im Französischen. In der Nacht scheinen sie unentschlossen, wohin sie ihre fröhlichen Gesichter drehen und wenden sollen. Ein wenig verblüht sind sie schon. Und einsam; das benachbarte Getreide ist längst geerntet. Gelb die Stoppelfelder und die nächtlichen Sonnenblumen.

Immerhin werfen sie kein aufdringliches Licht auf unseren Weg. Wir recken die Hälse, suchen mit einer App und mit dem Fernglas. Da, ist er das? Wir machen Fotos – mit dem Handy aus der Hand. Gut sind sie nicht, aber später sehen wir: Ja, das war er. Während wir so da draußen stehen, sind wir nicht sicher. Enttäuscht? fragt der Lieblingsmensch.

Ich kuschle mich an ihn und stelle fest: Nein. In diesem seltsamen Sommer ist es das Ausschau halten, das mich glücklich macht. Das Suchen. Das gemeinsame Ausharren und Aushalten. Das Wachsein in der Nacht und das Müdesein am Tag.

Natürlich wäre es schön gewesen, den Kometen so zu sehen, wie die Bilder ihn zeigen. Klar, hell und leuchtend. Sicher. Eindeutig. Wir sehen aber nur wage Umrisse. Blasse Andeutungen. Eine unsichere Ahnung. Wir finden nicht das, was wir uns erhofft hatten, aber wir finden etwas. Einen Schatz, der ganz anders ist als erwartet. Weniger glänzend, weniger aufsehenerregend. Aber ganz eindeutig ein Schatz. Ein Schatz des Zusammenseins. Des gemeinsamen Erinnerns. Des schweigenden Einverständnisses. Des Durchhaltens. Des Miteinander-Reden-Könnens. Des Streitens und Versöhnens. Des Tröstens. Des unausgesprochenen Einverständnisses.

Und vielleicht zieht dieser Komet, den wir nur so halb beobachtet haben, dessen Licht sich rar gemacht hat, dann doch einen leuchtenden Schweif hinter sich her. Leuchtende Freude über einen unerwarteten Besuch. Leuchtende Ideen für ein lange schwelendes Problem. Leuchtende Augen, weil wir zusammen sind und gehören.