Archiv der Kategorie: Allgemeines

Vom Verschwinden der Zeit

Die Tage eilen dahin und verschwinden, bevor ich sie festhalten kann. Als säße irgendwo ein Ungeheuer, das sich von Zeit ernährt und sie einfach so inhaliert, einsaugt, wegmampft. Die Zeit scheint keine gerade Linie mehr zu sein, sondern ein Strudel, der mit immer größerer Geschwindigkeit einen Tag nach dem anderen mit sich reißt. Ich stehe mitten drin und fühle mich gar nicht sturmumtost, doch ehe ich mich versehe, ist schon wieder eine Woche um, sind Tage verschwunden, die doch aber ganz sicher nicht 24 Stunden lang waren. Meine Wetter-App zeigt die gefühlte Temperatur an, die gefühlte Zeit wird nur in meinem Herzen gemessen.

In dieser gefühlten Zeit gibt es Erinnerungsleuchttürme: Ein Spaziergang auf Kindheitspfaden mit einem geliebten Menschen. Eine abenteuerliche Fahrt zu einem von Baustellen umgebenen Bahnhof mit der besten aller Schwestern. Ein Gespräch mit sehr alten und sehr wunderbaren Damen bei Kaffee und Kuchen. Eine junge Frau, die sich von einer schweren OP erholt und unser Lachen am Telefon. Eine technologische Entdeckung und eine gute berufliche Idee. Eine beeindruckende Rede eines mutigen Menschen. Eine Messenger-Nachricht mit einem besonders lieben Gruß. Ein Eichhörnchen, von dem mir am Telefon so lebhaft berichtet wird, dass ich es deutlich vor mir sehen kann (immerhin kenne ich jetzt den Wald, in dem es gesichtet wurde). Ein abendliches Treffen mit Frauen, die so viel mehr sind als Freundinnen. Die ersten bunten Blätter auf dem Feierabendspazierweg und ein neues Lesezeichen, das mich jedes Mal zum Lächeln bringt.

Ein Newsletter, den ich täglich bekomme (und in Phasen mit linearer Zeit auch regelmäßig lese) zählt die Tage seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine. Ich stolpere immer wieder über diese Zahl und kann sie nicht begreifen. Damals sprachen Menschen in wichtigen Positionen davon, dass die Zeit sich wende. Doch über die Menschen, die in einer Zeit, die sich diametral gewendet hat, nicht einfach geradeaus weiterleben können wie immer, darüber sagten sie nichts. Wie geht das mit dem menschlichen wenden, dem umkehren, dem verändern, dem neu denken und planen und mitfühlen, wenn die Zeit und das vertraute Leben sich umkehrt? Ich sehe Umfragen und Sonntagsfragen und bin ratlos.

Historische Momente

Manchmal weiß man es ja erst später, irgendwann, danach, wenn man zurücksieht oder jemand einen darauf aufmerksam macht, dass etwas, was man erlebt hat, ein historischer Moment war. Ich habe gerade das Privileg, an etwas teilhaben zu dürfen, von dem bereits jetzt klar ist, dass da Geschichte geschrieben wird. Geschicht mit einem ganz großen G. Frauengeschichte. Kirchengeschichte. Und in gewisser Weise auch eine Liebesgeschichte.

Ich teile hier einige Wochen mit Frauen, Ordensfrauen, die nicht den einfachen Weg wählen. Die miteinander und mit dem HERRN ringen um den richtigen Weg. Auch wenn das ein schmerzhafter Weg ist, auf dem einige von ihnen etwas hergeben, aufgeben, hinter sich lassen werden, das ihnen sehr am Herzen liegt. Und auf dem andere sich auf Neues einstellen, sich für Ungewohntes öffnen und Unsicherheiten aushalten werden müssen. Ein Weg, bei dem von vornherein klar ist, dass er eher steil, holprig und schwierig werden wird. Einer, auf dem niemand rosarote Brillen anreicht und Tränen vorprogrammiert sind – auch wenn er mit Freudentränen (vielen davon) beginnt. Auch in solchen Liebesgeschichten gibt es nämlich Liebeskummer. Denn auch wenn sie kein Eheversprechen abgelegt haben, wissen diese Frauen um diese Sache mit den guten und den weniger guten und auch den richtig schlechten Tagen.

Und trotzdem.

Trotzdem ducken sie sich nicht weg, laufen sie nicht davon. Es steht nirgendwo geschrieben, das sie sich dem aussetzen müssen, niemand zwingt sie dazu, ihr „weiter wie bisher“ aufzugeben – denn das „weiter so“ ist ja nicht schlecht, sie würden ja mit etwas Gutem weitermachen, mit vielen kleinen individuellen Einsätzen für Menschen und auch einem umfassenderen Guten. Trotzdem.

Trotzdem tun sie das, was sie als richtig erkannt haben. Ringen um Klarheit und Vertrauen, um Mut und Verständnis. Sie hören einander zu – auch das auf eine Art und Weise, die andernorts nicht selbstverständlich ist. Sie hören mit den Ohren, aber auch mit den Augen und dem Herzen. Sie scheuen den Konflikt nicht, klammern die wunden Punkte nicht aus. Sprechen offen über das, was drückt, über die „Steine im Schuh“, die sie am Vorankommen hindern, die scheuern, die Haut aufreiben, auch die auf der Seele.

Sie singen und tanzen miteinander, ausgelassen und mit ganzem Herzen. Und dann geben sie sich, einzeln und als Gruppe, den Prozess und die Menschen, für die ihre Schritte eine Auswirkung haben werden, in die Hand eines Größeren. Schweigen. Beten. Lassen sich neue Perspektiven öffnen, sich verwandeln, stärken. So werden Entscheidungen möglich, die ich von meiner Position etwas weiter außen erhofft haben mag, von denen ich aber trotzdem bewegt bin ob ihres Tempos, ihrer Klarheit und Entschlossenheit.

Ich bin sehr berührt – nicht nur von den Ergebnissen, sondern auch von dieser Art des ehrlichen Ringens, der Ernsthaftigkeit der Suche und der Fröhlichkeit des Beieinanderseins. Ich schaue auf das Bild Mary Wards, das auf meinem Schreibtisch steht und deren Vorbild diese Schwestern folgen, einer mutigen, tatkräftigen, visionären Frau zu Beginn des 17. Jahrhunderts. „Women in time to come will do much“, war sie schon vor mehr als 400 Jahren überzeugt. Eine dieser Zeiten ist jetzt.

Sommerabend

Es ist kurz vor 9 am Abend und das Thermometer zeigt noch immer über 30 Grad an. Ich sitze an der Würm und schaue aufs Wasser, in dem sich die Blätter und die untergehende Sonne spiegeln. Ein paar halbwüchsige Enten haben sich faul in den Fluss plumsen lassen, als ich an ihnen vorbei lief. Bloß keinen Flügelschlag zu viel machen. Träge und faul die trockene Hitze und die Abendsonne genießen. So ein Moment ist das.

Ein Moment zum Nachdenken und Loslassen, zum Meditieren und Träumen, zum Durchatmen und Zurücklegen und mit geschlossenen Augen den Bienen und anderen Insekten lauschen. Ein Moment zum tief Einatmen der rosenduftschweren Abendluft, die der träge Wind ab und an vorbeiweht. Ein Moment, in dem all die Probleme – die großen der Welt und meine kleinen – keinen Platz haben neben mir am Wasser.

Dabei sind sie nicht weit weg. Nur wenige Meter entfernt hat eine junge Mutter mit ihren Kindern Zuflucht gefunden. Die Beschilderung der Etage, in der mein Gästezimmer liegt, ist jetzt auch ukrainisch. Die Hitze und die Dürre, die nur ein kleines Zeichen dafür sind, dass der Klimawandel sich längst zu einer Klimakatastrophe ausgewachsen hat, ich sehe sie hier an meinem Uferplatz, ich habe sie durch die Zugfenster gesehen, wo statt grüner Wiesen so viele verdortte Felder, not-geerntete Getreidestoppeln und ausgetrocknete Bachläufe den Weg säumten. Eine Autobahn, auf der trotz all der guten Argumente kein Tempolimit gelten soll, ist ebenso wenig fern wie ein Krankenhaus, in dem Pflegekräfte am Rande der Erschöpfung immer mehr fehlendes Personal ausgleichen sollen – demnächst dann am besten auch noch mit positivem Corona-Test. Ich höre Glockenläuten und fühle mit denen, die in der Kirche Heimat hatten und durch den Umgang der Verantwortlichen mit Katastrophen und Krisen und deren Ursachen aus dieser Heimat vertrieben wurden. Von den Opfern ganz zu schweigen. Gar nicht weit ist eine der zahlreichen Schulen, deren Lehrer*innen und Schüler*innen immer nur dann eine Rolle spielen, wenn sie in wohlfeilen Reden instrumentalisiert werden können. Luftfilter haben sie bis heute nicht und auch sonst sind die Lehrer*innen und die Schülervertretung auf sich allein gestellt, wenn sie Lösungen suchen, die das Leben für die Schulgemeinschaft und auch ihre schwächeren Mitglieder lebenswert und lernenswert machen.

Aber jetzt, in diesem Moment, kann ich all das und so vieles andere ausblenden. Mitten im Jetzt sein, nur unterbrochen vom Verjagen der Stechmücken, die mich am Ende des Abends trotzdem aufgefressen haben werden. Ich weiß, dass ich solche Momente brauche, um mich danach wieder der Welt zu stellen und wenigstens an der einen oder anderen Stelle  meinen kleinen Beitrag zu leisten. Ich verstehe aber auch, wie verführerisch es ist, einfach sitzen zu bleiben – ganz konkret und natürlich auch im übertragenen Sinn. Die anderen mal machen zu lassen, irgendwer wird sich schon finden für die Probleme der Welt. Die Augen nur für die Schönheiten und die Vorteile zu öffnen und einfach zulassen, wenn sie Schwierigkeiten wahrnehmen und sich anrühren lassen müssten.

Irgendwann stehe ich auf, suche mir den Weg in der Dämmerung zurück, mache die Türen ganz leise auf und zu, denn nebenan schlafen Kinder, die Krieg erlebt haben (ich sehe die Bilder, lese die Nachrichten, seit mehr als 150 Tagen, und mein Herz kann es noch immer nicht fassen). Ich lasse das Handy aus, schaue mir keine Nachrichten an, lasse mein Buch zugeklappt und für den Moment die Wirklichkeit die Wirklichkeit sein. „Tu Gutes und tue es gut“, zitiert eines meiner liebsten Wandbilder die wunderbare Mary Ward. Morgen wieder.

Bemerknisse in einer Welt aus den Fugen

Es ist Tag 31 des Kriegs gegen die Ukraine, in der Ukraine. Noch immer fällt das geschriebene Wort mir schwer. Gleichzeitig schätze ich meinen Alltag mit all seinen kleinen Belanglosigkeiten und Selbstverständlichkeiten so innig wie schon sehr lange nicht mehr und notiere mir ein paar unverbundene Bemerknisse aus diesem Alltag.

Beim Facharzt möchte ich nur ein Rezept abholen. Im Treppenhaus gibt es eine Warteschlange. Zu voll sei es drinnen, daher müsse man draußen warten – egal ob auf einen Termin oder ein Rezept, teilen mit die vor mir Wartenden mit. Ich stehe also über eine halbe Stundein einem fensterlosen, schlecht beleuchteten und natürlich nicht belüfteten Treppenhaus dicht an dicht mit einer immer größer werdenden Menge von Wartenden, immerhin alle mit Maske. Als ich dran bin, trete ich einzeln in die Praxis ein. Im doch komfortabel großen Foyer mit der Anmeldung (und mit Fenster zum Lüften) sitzt mir eine Mitarbeiterin hinter einer kleinen Plexiglasscheibe gegenüber, die OP-Maske träge sie als Ohrring. „Entschuldigen Sie die lange Wartezeit, wir tun hier unser Bestes, um eine Ansteckung in den Praxisräumen zu vermeiden“. Ich denke an Picards epische Double-Facepalm und daran, das jemand auf YouTube eine zehnstündige Dauerschleife davon gebaut hat. Dann geht es fast wieder.

Schwestern der Ordensgemeinschaft, der ich mich als Laiin und Gefährtin verbunden fühle, schicken Nachrichten aus Kyiv und Ushhorod, von der Grenze in der Slowakei und in Ungarn. Sie bedanken sich für unser Gebet und alle Hilfe und berichten in schlichten Worten von dem, was sie tun. Die unermüdliche Hilfe, die sie so ganz selbstverständlich leisten – mit hochgekrempelten Ärmeln und dem, was eine australische Schwester kürzlich „bold humility“ nannte, Bescheidenheit, aber in ihrer kühnsten Ausprägung; dieser Einsatz rührt mich an.

Auch die Tatkraft meiner ASB-Kolleg*innen rührt mein Herz. Mit einem Kollegen, den ich schon bei der Impfkampagne digital unterstützt habe, verlängere ich unser Abkommen: Für alles, was schief gegangen sein wird, für alle kurzfristigen Arbeitsaufträge nach Feierabend, für die fehlende Anerkennung für das, was der oder die andere außer der Reihe  getan hat, werden wir uns entschuldigen. Aufrichtig. Hinterher. „Dass wir den Pakt verlängern, bevor wir auf das Ende des ersten anstoßen konnten, ist ja nicht optimal. Aber was können wir denn anderes tun als helfen“ sagt der Kollege. <3

Für einen unserer Spaziergänge (zählt das eigentlich immer noch als Trendsportart oder haben die Querdenker den Begriff für alle Zeit zerstört?) wählen der Lieblingsmensch und ich einen Rundweg um kleine Seen in der Umgebung. Ein Erdrutsch beim Hochwasser im letzten Sommer hatte dort ziemlichen Schaden angerichtet. Längst kann man den Rundweg wieder gehen – mit einigen Umwegen und kleinen Klettereien über Wurzeln und Steine. Aber die klaffenden Lücken im Hang sind noch da. Dafür gibt es jetzt an einem der Seen einen kleinen Strand – da, wo der Hang hineingerutscht ist. Wie nah Leid und (in diesem Fall: nahende Sommer-Bade-) Freude beieinanderliegen.

Eine Dienstreise führt mich in den Norden. Auf der Hinfahrt im Zug helfe ich bei der Koordination von Hilfe für eine neue Notunterkunft. Wir hinken hier im Lande so sehr hinterher bei digitaler Infrastruktur und allein schon beim Verständnis dessen, was das alles sein könnte. Aber was ich da vom Zug aus regeln konnte, wäre vor 2 Jahren noch nicht möglich gewesen. Ich freue mich über die kleinen Fortschritte – und wundere mich über meine Milde. Zu dringlich ist es, dass hier strukturell endlich mehr passiert, dass Bewusstseinswandel nicht nur gefordert, sondern auch Maßnahmen zu seiner Durchsetzung angegangen werden. Ist die Freude am Reisen der Grund? Oder die neue Wertschätzung für meinen Alltag (den die Menschen in Kyiv und Charkiv, in Mariupol und Chernivtsi und Lviv und Odessa und …  vor 32 Tagen ja auch noch gelebt haben)? Ich will mir merken: Die kleinen Fortschritte sehen und davon berichten kann vielleicht andere unterstützen auf ihren Wegen hin zu einer menschenfreundlichen, menschengerechten, menschenunterstützenden Digitalisierung. Zumindest im Kleinen.

Ich wurde zur Wahlhelferin bei der Landtagswahl ernannt, genauer gesagt zur Schriftführerin, und kann die notwendigen Formulare per Mail zurücksenden. (Nachdem ich sie vorher ausgedruckt, per Hand unterschrieben und dann eingescannt habe.) Eine ehemalige Studienfreundin in Frankreich lacht mich aus – gibt es dafür bei euch kein Onlineportal? Meine neue Milde bringt mich doch tatsächlich dazu, diesen E-Mail-Quatsch -Unsinn -Vorgang als Fortschritt zu verteidigen; aber dann lachen wir doch zusammen darüber und sie freut sich, dass ihr mein Bericht Gelegenheit gibt, ein Vorurteil zu revidieren („Ich dachte, in Deutschland seid ihr bei digitaler Bürokratie viel weiter vorne als wir“).

Eine Bekannte schickt Fotos von der großen Fridays for Future-Demo in Bonn, eine andere postet Fotos aus Afghanistan, wo sie lange gearbeitet hat und wo Frauen mutig dafür kämpfen, dass sie und ihre Töchter weiterhin Bildung bekommen. Per DM wünsche ich einem Freund im Nordirak ein frohes Nevroz. Eine ehemalige Kollegin schickt ein Update aus dem Trockengürtel in Mittelamerika, wohin ich einst eine Journalistenreise zu den Folgen des Klimawandels begleitet habe. Eine Kerze brennt während einer Krebs-OP eines lieben Menschen, eine Freundin wird Tante und ich bewundere die Nichtenfotos. Ich kaufe für einen Freund in Isolation ein und erkundige mich nach dem Befinden von immer mehr positiv getesteten Menschen im Bekanntenkreis. Ich freue mich über unheimlich viele, liebe Geburtstaggrüße, über eine Tasse, die die Welt beschimpft, eine Geburtstagsgirlande und noch immer jeden Tag über die Kaffeemaschine, die der Lieblingsmensch und ich uns gegenseitig zu Weihnachten geschenkt haben. Freund*innen mit Kindern berichten vom Irrsinn an Schulen in Zeiten einer Pandemie, bei dem auch nach zwei Jahren kein Fortschritt zum Guten zu erkennen ist. Habe ich sie früher nur einfach nicht so extrem wahrgenommen, die Gleichzeitigkeit all dieser Realitäten? Oder hat die „neue Normalität“ meinen Fokus dafür geschärft?

An einer unserer Wände hängt nun eine Gezeitenuhr, die mir anzeigt, wie hoch das Wasser gerade an meinem Lieblingsende der Welt steht. Eine liebevolle Aufmerksamkeit eines Freundes, ein ganz unerwartetes Geschenk. Wenn ich von Videokonferenzen im Homeoffice aufschaue, sehe ich nun auf die Gezeitenuhr – und kann den Blick weiten von meiner kleinen Welt auf das Größere, das Meer, das Mehr. Sie hängt da erst seit ein paar Stunden und schon jetzt macht mich das froh – und demütig. Ich hoffe, dass es diese kühne, mutige, ein wenig kecke, aber immer klare und deutliche Art von Demut ist. Die, die Mary-Ward-Frauen auszeichnet.

Fassungslos, unsortiert

Seit gestern am frühen Morgen fällt es mir schwer, meine Gedanken zu sortieren. So unvorstellbar es ist, geht mein Alltag weiter. Es scheint so absurd zu sein, dass ich meinen alltäglichen Aufgaben nachgehe, Projekte plane, Dinge auf den Weg bringe, kreativ bin, arbeite, esse, trinke, rede wie immer – mitten in einem Krieg. Krieg in Europa.

Zwei Menschen, mit denen ich verbunden fühle, haben geschrieben, dass sie noch leben. Sie sind in Kiew und hätten die Möglichkeit gehabt, sich letzte Woche in Sicherheit zu bringen. Sie haben es abgelehnt zu gehen – ihr Aufgabe sei es, bei den Menschen zu sein, die Not leiden. Weglaufen sei für sie keine Option. Mein Herz schlägt schnell und warm, während ich das schreibe. Die beiden haben, so sagt es die Nachricht, gemeinsam mit anderen, in einem Bunker Zuflucht gefunden. Von Menschen, die ich in Charkiw kennengelernt habe, habe ich keine Nachricht. Die Nachrichten und Bilder, die ich von unbekannten Menschen sehe, gehen mir genauso nah. Ich denke an die, die helfen, die nicht weglaufen, die mitten im Wahnsinn für andere da sind und –

In all meiner fassungslosen Hilflosigkeit fallen mir im Nachrichtenstrom deutliche Worte unserer Außenministerin positiv auf. Auch von Herrn Habeck. Es kommt mir seltsam nachtragend vor, aber kurz durchzuckt mich der Gedanke, wie froh ich bin, dass dort nicht Herr Laschet sitzt und spricht. Und dann sitze ich doch wieder ratlos vor den Berichten, dass unsere Regierung zu denen gehört, die härtere Sanktionen verhindern und –

Ich bin gläubig und also tue ich, was so viele andere gläubige Menschen aller Religionen tun: Ich bete. Ich rufe, weine, schreie und verstumme den Herrn an, der uns doch die Freiheit gelassen hat, uns zu entscheiden. Dabei wird mir wieder einmal klar, dass ich es einfach nicht verstehe, wie sich irgendwer wissentlich für Krieg entscheiden kann. Also: Ich höre die Argumente und mein Verstand versucht, irgendeine verquere Logik aus ihnen herauszulesen. Die Abfolge der Ereignisse. Die Hoffnung und die Lügen. Aber wo mein Hirn schon Schwierigkeiten hat, kann mein Herz nicht mehr folgen. Wie man bewusst eine solche Entscheidung treffen kann, das –

Wer mich kennt, weiß, dass mir nicht so schnell die Worte ausgehen, aber –

Gedanken über Autos, individuelles Reisen und meine großartige Oma

In den letzten Wochen ergab es sich, dass ich mit verschiedenen Menschen über Verkehr und Verkehrsplanung sprach. Also genauer gesagt über Individualverkehr und ÖPNV. Wir wohnen auf dem Land zwischen zwei Großstädten und der ÖPNV hier ist – freundlich formuliert – eher unterirdisch. Ohne Auto komme man da doch gar nicht klar, sagen viele und habe ich auch bis vor gar nicht so langer Zeit gesagt. Und es stimmt, wollte man mit Bussen (seltener Takt, wenig einkaufs- und überhaupt erledigungstaugliche Fahrtstrecken) und Bahnen (dreimal die Stunde, extrem oft verspätet, häufiger Ausfall, immer überfüllt, so dass man gar nicht so selten erst überhaupt nicht hinein kommt) unterwegs sein, wäre man hier aufgeschmissen. Zum Getränkemarkt fährt kein öffentliches Verkehrsmittel, auch nicht zum Einkaufszentrum auf der grünen Wiese. Nur alle 2 Stunden zum Ärztehaus mit den Fachärzten ein paar Dörfer weiter und nach 18 Uhr sowieso kaum noch was.

Wir haben nur ein Auto – eine seltene Ausnahme in unserem Bekanntenkreis hier im Dorf. Und es steht meist in der Garage (auch so ein Luxus). Denn der Lieblingsmensch ist ein großer zu-Fuß-Geher und erledigt Vieles per pedes und ich habe mir im ersten Pandemiesommer ein eBike gekauft, mit dem ich nun auch ins rund 25 Kilometer entfernte Büro pendle – wenn ich denn überhaupt dort arbeite. Der Ehrlichkeit halber: Bei weniger als 7 Grad und bei Regen, der über ein bisschen nieseln hinausgeht, nehme ich das Auto. Wobei sich für den Weg durch die große Stadt der Hybrid wirklich auszahlt. Beim Spritverbrauch und beim Senken meines Gereiztheitsheitsfaktor. Seit ich beim Stop and Go durch den Berufsverkehr kaum noch Abgase ausstoße, nervt mit das deutlich weniger. Und: Es gibt nun auch in unserem kleinen Dorf eine Carsharingstation in der Dorfmitte und Leih-eBikes am Bahnhof. Da kommt also etwas in Bewegung.

Über was ich allerdings häufiger nachdenke, ist eine Erinnerung aus meiner Kindheit. Ich bin am Fuße des Schwarzwalds großgeworden und meine Großeltern lebten im Saarland. Weder meine Großmutter noch mein Großvater hatten einen Führerschein. Und natürlich auch kein Auto. Eine Bahnstation gab es in ihrem Dorf nicht und Busse zum nächsten Bahnhof waren eine teure Rarität. Trotzdem waren meine Großeltern in meiner Kindheit häufig bei uns. Möglich wurde das durch die Kreativität und die großartige Chuzpe meiner Oma.

Die hatte nämlich herausgefunden – wahrscheinlich durch Freundinnen und Bekannte, die solche Touren schon mitgemacht hatten – dass Kaffeefahrten in den „schönen Schwarzwald“ meist in einem der deutlich weniger grandiosen Orte rund um mein Heimatdorf Station machten, um in irgendeinem Weinlokal Heizdecken und Co. zu verkaufen. Meine Oma buchte also eine Kaffeefahrt, freute sich an der Tour durch die Pfalz, den Odenwald und dann durch schöne Fachwerkdörfer und an der durchs Busfenster vorgeführten Schwarzwaldromantik. Sobald der Bus an einem der Ausflugslokale anhielt und die Verkaufsschau begann, setze sie sich ab, rief von einer Telefonzelle meine Eltern an, beschrieb, wo sie war und wir konnten sie abholen. Bei der nächsten Kaffeefahrt bucht sie wieder einen Platz und fuhr damit zurück.
Ganz im Ernst, was hatte ich für eine coole Oma.

Eine andere Option war der Schülerbus. In meinem Heimatdorf gab es ein Internat, in das viele Schüler aus dem Saarland gingen und eben auch einige aus dem Dorf meiner Großeltern. Am Ende der Ferien sammelte ein Busunternehmen die Schüler (gendern unnötig, es war eine Einrichtung nur für Jungs) ein und brachte sie ins Internat. Meist war noch Platz im Bus und so fuhren meine Großeltern mit lauter jungen Menschen gen Süden. Meine Eltern brachten sie dann einige Zeit später zurück und verbanden das mit einem Besuch bei alten Freunden. Eine andere Option war es, mit dem leeren Bus vor Beginn der Ferien zu uns zu fahren – zum Beispiel zu Beginn der Osterferien. Während der Bus die heimfahrenden Schüler einsammelte, gingen meine Eltern, meine Schwester und ich an die Bushaltestelle vor der Schule und sammelten Oma und Opa ein. Am Ende der Ferien spuckte der Bus die zurückkehrenden Schüler aus und nahm meine Großeltern mit zurück.

Im Eifeldorf, in dem mein Vater groß wurde und in dem ich oft Sommerferienzeit verbrachte, wurde das ÖPNV-Problem anders gelöst. Da mussten nicht die Dorfbewohner schauen, wie sie zum Einkaufen fahren konnten, da kam der Einauf zu ihnen – in Form eines LKWs der regionalen Milchunion. Der wurde aufgeklappt und da stand ein kleiner, aber gut ausgestatteter Supermarkt auf dem Dorfplatz. Natürlich gab es frische Milchprodukte, aber auch Brot und alles andere, was man so für den Alltag brauchte. Als Kind fand ich es großartig, mit meiner Tante dort einkaufen zu dürfen. Aber auch in der Sonne zu sitzen und zuzuschauen, was andere so kauften und dabei ab und zu eine der streundenden Katzen zu streicheln, die auf eine zerplatzte Milchtüte oder ein Stückchen Wurst hoffend auf dem Platz herumlungerten, war ein wunderbarer Zeitvertreib.

Damals war also viel weniger Individualverkehr und mehr individuelle Initiative. Ich frage mich, wie wir Möchte-Gern-Klimaschützer*innen uns von diesem Einfallsreichtum hier und heute die ein oder andere Scheibe abschneiden könnten.

 

Bemerknisse aus einer analogen Welt

Die Nachricht an sich ist schon schockierend genug: Ein geliebter Mensch muss notoperiert werden. Das ist schon in „normalen“ Zeiten schwer. Und jetzt ist da auch noch eine Pandemie. Und Feiertage. Ein paar Bemerknisse aus dem überraschend analogen Wahnsinn drumherum.

Der Hospitalisierungsindex am Zielort klingt nicht besonders beunruhigend, 2,4 (leicht steigend) – das ist der niedrigste von allen Orten, die ich in der Corona-Warn-App gespeichert habe, um mir schnell ein Bild über die Lage am Wohnort von lieben Menschen machen zu können. Ein gutes Stück unter dem Bundesdurchschnitt. Ähnlich sieht es bei der Zahl der Neuinfizierten aus.  Trotzdem ist die Intensivstation so voll, dass ein älterer Patient mit hohem Überwachungsbedarf schon nach einer Nacht nicht mehr dort bleiben kann. Was ich mehr oder weniger als erstes verstehe: Der „niedrige“ Hospitalisierungsindex bedeutet in der Realität absolut nicht das, was ich mir darunter vorgestellt hatte.

Dass dieser Patient, der mir so sehr am Herzen liegt, überhaupt in dem kleinen, seinem Wohnort nahen Krankenhaus operiert und behandelt werden konnte, gleicht einem Wunder. Andere Patienten mussten im gleichen Zeitraum abgelehnt, weitergeschickt, an andere Orte verwiesen werden. Geplante Operationen wurden auch dort verschoben. Dass diese eine sich nicht planen ließ, sondern wie ein Blitz über uns hereinbrach – wer hätte gedacht, dass so etwas mal was Positives sein sollte.

Die Station ist nur mäßig besetzt. Das liegt, wie an so vielen ähnlichen Orten auch, nicht an fehlenden Betten, sondern an fehlendem Personal. Abgezogen, umbesetzt. Auf die Intensivstation. Auf die Isolierstation. Das mit dem Hospitalisierungsindex und der großen Differenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit hatten wir ja schon.

Das Personal ist unglaublich freundlich und geduldig. Bei Genesungsspaziergängen über den Flur sehe ich aber auch, wie schnell sie laufen müssen, um allen Klingeln und roten Lichtern gerecht zu werden. Meine Bewunderung für diese Menschen war schon vorher enorm und ist noch gewachsen.

Zum Einlass ins Krankenhaus braucht man:

  • Impfnachweis (vollständig)
  • Negativen Testnachweis  in Papierform (!) – Schnelltest nicht älter als 24, PCR nicht älter als 48 Stunden
  • Ausweis
  • einen ausgefüllten Zettel mit den persönlichen Daten sowie Infos zum besuchten Patienten für eine mögliche Kontaktnachvervollgung

Ich finde die Zugangsvoraussetzungen an sich ganz wunderbar und unbedingt unterstützenswert. Aber dass ich das Testergebnis nicht digital vorzeigen kann, ist doch ein wenig frustrierend. Die Papierpflicht bringt mit sich, dass ich bei einem der (zum Glück in der Stadt zahlreich vorhandenen) Testzentren bei Kälte, Regen oder Hagel unter einem schon leicht zerfetzten Sonnenschirm oder in einem kleinen Wartezelt mit unangenehm vielen Menschen auf engem Raum auf mein Testergebnis warte und nach gut 15 Minuten ein vom Regen klammes und einmal gar von Hagelkörnern durchschlagenes Papier in die Hand gedrückt bekomme. Die Empfangsmenschen in der Klinik müssen das dann einscannen, speichern und irgendwann händisch wieder löschen. Impfnachweis und Ausweis werden in Augenschein genommen und der Besuch beim Patienten im System vermerkt. Einchecken mit der Corona-Warn-App, die Möglichkeit, einen digitalen Testnachweis vorzuzeigen oder irgendeine Lösung, die den vermutlich sowieso bis zum Anschlag belasteten Mitarbeiter*innen die Arbeit erleichtern würden? Fehlanzeige. Es funktioniert alles, aber praktisch ist doch irgendwie anders.

Das Testzentrum zu Hause mit seiner Online-Terminbuchungsoption, Benachrichtigungmail, sobald das Testergebnis vorliegt und QR-Code zum Abrufen des Ergebnisses, das bei entsprechender Zustimmung direkt heruntergeladen und in die Corona-Warn-App eingetragen werden kann, sowie der Zusicherung, dass die gespeicherte Daten nach den gesetzlich vorgeschriebenen Speicherfristen automatisch gelöscht werden, wirkt dagegen wie aus einem Science-Fiction-Film entsprungen.

Das Gegenteil von Science-Fiction bietet der Parkautomat auf dem Krankenhausparkplatz. Nach dem Ende der Besuchszeit bildet sich dort eine kleine Schlange. Die Dame vor mir kann nicht bezahlen, da ihr Kleingeld fehlt. Ich habe selbst nur gerade eben genug, um mein Ticket zu bezahlen. Ein freundlicher Herr mit Hut spaziert vorbei. Der rät der Dame, doch einfach mit Karte zu zahen. Doch ach: Der Automat hat gar keine Kartenzahloption eingebaut. Scheine nimmt er auch nicht (ein entsprechendes Fach ist zwar vorhanden, aber nicht funktionsfähig) und eine digitale Lösung zur Bezahlung wird nirgends angeboten. Der Herr kramt sein Portemonnaie hervor und kann tatsächlich einen 5-Euro-Schein in Münzen wechseln. „Das ist ja wie im Mittelalter“ schimpft er, als er weitergeht.

Beim abendlichen Nachrichtenschauen fällt mir dann noch auf: Testzentrum ist nicht gleich Testzentrum. Während die einen pflichtbewusst die Stäbchen tief in Nase und/oder Rachen stecken, geht es bei anderen so ruckizucki, dass es an ein Wunder grenzt, wenn das Testgerät überhaupt mit der Schleimhaut in Berührung gekommen sein sollte. Wird das überhaupt irgendwie kontrolliert? Wenigstens stichprobenartig? Und was bedeutet die Antwort für die in diesen Tagen von der MPK beschlossenen neuen Quarantäneregelungen? Ich versuche, nicht darüber nachzudenken und empfehle derweil gerne anderen, die einen Test brauchen, die Stationen, wo ich mich  gewissenhaft getestet gefühlt habe – und wo man meinen Namen und das Testergebnis nicht laut durch die Reihe der Wartenden gerufen hat.

Eins noch zum Schluss: In Anbetracht des allerbesten Bemerknisses der Woche, des Monats, vermutlich des ganzen Jahres, wird das alles irrelevant. Denn: Die wunderbaren Menschen in der Klinik haben dafür gesorgt, dass unsere Sorgen in wenigen Tagen zusammenschrumpfen konnten. Dafür bin ich allen Beteiligten sehr, sehr dankbar.

Negativ

Nach 14 Tagen Quarantäne bin ich negativ getestet worden und darf mich wieder frei bewegen. Woohoo. Quarantäne ist defitiv nicht mein Lieblingsevent bisher, 1 von 5 Punkten, bitte nicht wieder.

Den 1 Punkt und nicht 0 Punkte bekommen die letzten beiden Wochen, weil da liebe Menschen um mich herum waren. Zuallererst der Lieblingsmensch. Dass wir nach 15 Jahren Ehe diese zwei Wochen miteinander gut überstehen würden, war uns beiden total klar. Wir wissen aber auch, dass das nicht selbstverständlich ist und freuen uns darüber und übereinander.

Und dann waren da unsere Freund*innen. Die eingekauft haben und Blumen vor die Tür stellten, die anriefen und Nachrichten schickten, sich sorgten und uns umsorgten. Während im Großen die Welt zu einem Wahnsinn aufläuft, die ich nie für möglich gehalten hätte, sind die Menschen im Nahen so wunderbar wie ich es mir nicht mal wünschen konnte. Während auf der politischen Bühne Menschen mit dem Hin- und Herschieben von Verantwortung, dem Ablehnen von Maßnahmen, dem Ausschließen von Handlungen und dem Abstreiten von Verantwortung beschäftigt sind, haben die Menschen auf der nicht vorhandenen Bühne im Privaten einfach die Ärmel hochgekrempelt, ihre Herzen aufgemacht und getan, was anlag.

Und ich weiß, dass diese Menschen nicht nur um mich herum sind, sondern dass sie die große Mehrheit sind. Die solidarischen, mitfühlenden, handelnden, helfenden, für andere einstehenden, sich abmühenden, müden, überlasteten und trotzdem bereitstehenden Menschen, sie sind die große Mehrheit.

Umso weniger verstehe ich, dass diese Mehrheit, diese Menschen, die unsere Gesellschaft prägen und am Laufen halten, diese Menschen, die eben nicht laut sind, die nicht ohne Maske, dafür aber mit Duschhaube und dicken Stiefeln laut „ich, ich, ich“ schreiend durch die Straßen ziehen, dass diese Menschen in den Entscheidungen der politisch Verantwortlichen nicht die Hauptrolle spielen. Dass diese Menschen, die Mehrheit der Vernünftigen und Solidarischen, der Verantwortungsbewussten und Verantwortung Übernehmenden, dass die einfach links liegen gelassen werden. Dass ihre Sorgen kaum etwas zählen im Vergleich zu denen, die sich „besorgt“ nennen. Dass ihre Solidarität mit Füßen getreten wird. Dass die Verantwortung, die sie übernehmen, konterkariert wird, damit man „die Gesellschaft nicht spaltet“. Als würden diese Menschen die Gesellschaft spalten. Als hätten sich nicht vielmehr die schon längst selbst abgespalten, die Solidarität schreien und Egoismus meinen, die Freiheit rufen und dabei partout nicht sehen wollen, dass diese ohne Verantwortung zu Willkür wird, die vor lauter Kreisen um die eigenen Vorstellungen keine Emathie mehr empfinden können, die sich lautstark und unflätig beschweren, weil es Menschen gibt, die Verantwortung so definieren, dass sie Adventsfeiern und private Feste und wasweißich absagen, schweren Herzens. Die kann ich mit meinem Wunsch nach einer höheren Impfbereitschaft, meiner Zustimmung zu einer Impfpflicht, meiner Befürwortung von Maßnahmen, mit denen man auch Kinder und Jugendliche schützen kann, gar nicht mehr abspalten, die sind längst weg. Daher erwarte ich, dass die Menschen, die gewählt sind, um Verantwortung zu übernehmen, diese auch annehmen und tragen und nicht aus Angst vor Menschen, die eh nicht mehr zu erreichen sind, den Kopf in den Sand stecken.

Nun steht hier absolut nichts Neues – alles längst von anderen gesagt und geschrieben, in besseren Formulierungen und mit treffenderen Worten. Ich schreibe es trotzdem auf. Damit ich nicht vergesse, die vielen nahen und wunderbaren, müden und wütenden, erschöpften und hilfsbereiten, mitfühlenden und solidarischen Menschen zu sehen, wenn es in den nächsten Tagen und Wochen immer wilder wird auf der großen Bühne. Und damit ich mich daran erinnere, dass resignieren keine Lösung ist.

Positiv

Hallo ich bin Frau Argueveur und ich bin corona-positiv. Trotz doppelter Impfung und sehr großer Vorsicht. Und ich bin genervt davon, wie schlecht das alles auch fast zwei Jahre nach Beginn der Pandemie organisiert ist. Und weil ich nunmal diese Ecke hier im Internet habe, schreibe ich das auf.

Das wird jetzt etwas länger und wer keine Lust hat, das alles zu lesen, für die und den kommt das tl; dr gleich vorweg:
Es geht mir mittlerweile viel besser. Der Impfung sei Dank hatte ich einen leichten Verlauf (nein, trotzdem nicht vergnügungssteuerpflichtig). Aktuell bin ich noch in Quarantäne, bin aber nicht mehr krankgeschrieben und arbeite von zu Hause. Ein paar Nachwirkungen spüre ich noch, aber es geht aufwärts.

Für die, die mehr lesen wollen, kommt hier die Langfassung:

Es beginnt am vorletzten Freitagabend mit laufender Nase. Ich setze mich nicht mit zwei geimpften Freunden und dem Lieblingsmenschen an den Brettspieletisch, sondern gehe früh ins Bett – den Infekt ausschlafen, denke ich. Ich wähle das Gästezimmer, um den Lieblingsmenschen nachts nicht unnötig zu stören. Mit Corona rechne ich nicht – ich teste mich regelmäßig selbst, außer bei einem Arztbesuch und einem Einkauf (beides mit FFP2-Maske) habe ich im infrage kommenden Zeitraum nur geimpfte Menschen getroffen und nicht mehr als fünf gleichzeitig. Auch in der Corona-Warn-App gibt es keinen roten Hinweis.

Am Samstag Morgen geht es mir leider nicht besser. Ich koche Tee, sage den Besuch bei meinem Onkel und meiner Tante ab und stecke das Wärmeschaf in die Mikrowelle, damit es mir warme Füße machen kann. Leichtes Fieber habe ich auch. Gegen Mittag beginnt der Husten und ich mache einen Selbsttest. Positiv. Und wie.

Ich versuche also zu recherchieren, was man jetzt am Wochenende damit macht. Eine Option ist natürlich, bis Montag zu warten, dann beim Arzt anzurufen und einen PCR-Test machen zu lassen. Da es mir aber immer weniger gut geht und ich gerne schnell Gewissheit hätte – auch, um andere zuverlässiger warnen zu können, – würde ich gerne noch an diesem Tag einen Test machen lassen. Meine Hausarztpraxis hat ein Notfallhandy eingerichtet für abends und am Wochenende, ich hinterlasse eine Nachricht auf der Mailbox. Dann rufe ich beim Gesundheitsamt an – vielleicht läuft ja ein Band mit Infos oder so. Da läuft ein Band, aber das sagt nur: „Unter dieser Nummer ist niemand erreichbar. Der Anrufer wird aber per SMS über ihren Anruf informiert.“ Prima. (Ihr hört hoffentlich die Ironie…) Auf der Website von Gemeinde und Kreis sind die Infos nicht wirklich hilfreich. Ich habe auch zu starke Kopfschmerzen, um mich bis in die fünfte oder hunderste Ebene durchzuklicken.

Vom Lieblingsmenschen habe ich mich separiert. Er hat alles sehr gut gelüftet, desinfiziert was geht und stellt mir frischen Tee und ein bisschen Obst vor die Zimmertür. Wenn ich ins Bad gehe oder er zum Gästezimmer, tragen wir FFP2-Maske und desinfizieren uns die Hände.

Ich recherchiere online nach Testzentren in der Nähe, doch keines, das Google mit verschiedenen Suchanfragen auflistet, bietet am Wochenende PCR-Tests an. Bei einem erfahre ich das erst, nachdem ich ein Kundenkonto anlegen musste, um buchbare Termine angezeigt zu bekommen, die dann zwar als existent und frei angezeigt, aber eben nicht buchbar sind, weil:  Wochenende.

Der Lieblingsmensch schreibt mir eine Nachricht und schlägt vor, die 116117 anzurufen. Dort komme ich überraschend schnell durch und ein freundlicher Mensch erklärt mir, dass Krankenhäuser am Wochenende PCR-Tests vornehmen würden. Ich solle dort anrufen und mir einen Termin geben lassen. Gesagt, getan. Die – wirklich bewundernswert freundliche – Mitarbeiterin im Krankenhaus erklärt mir (und ich kann die verdrehten Augen trotz der Freundlichkeit durch die Leitung hören), dass diese Info seit Beginn der Pandemie von der 116117 rausgegeben werde, aber auch seit Beginn der Pandemie falsch sei. Sie würden zwar testen, aber eben nur alle Menschen, die ins Krankenhaus aufgenommen würden. PCR- und sonstige Tests für die Allgemeinheit gebe es bei ihnen nicht. Sie weiß aber ein Testzentrum in erreichbarer Nähe, das am Wochenende PCR-Tests anbietet. Das hatte die Google-Suche mir nicht ausgespuckt, mit dem Wissen um Namen und Standort finde ich es aber doch und kann tatsächlich für den frühen Abend noch einen Termin buchen.

Trotz positivem Selbsttest muss ich den PCR-Test selbst bezahlen. Die frierende junge Mitarbeiterin auf dem Parkplatz (es ist ein Drive-In-Center) hat strenge Vorgaben vom Chef und weiß nichts von anderslautenden Infos auf der RKI-Website. Mir geht es nicht gut genug, um zu streiten und so unterschreibe ich die SEPA-Lastschrifterklärung fürs Labor. Ich bekomme einen QR-Code zum Scannen mit der Corona-Warn-App und (das hätte mich direkt stutzig machen sollen), zwei weitere Infoblätter mit Anleitungen, was ich tun kann, um ans Ergebnis zu kommen, wenn dieses auch nach 24 Stunden nicht in der App angezeigt wird.

Am Sonntagnachmittag scanne ich den Code – Ergebnis liegt noch nicht vor. 24 Stunden nach dem Test ist die Anzeige immer noch die gleiche. Ich folge also den Tipps auf den Infozetteln, kann das Ergebnis mit den Zugangsdaten auf den Zusatzzetteln problemlos von der Website des Labors herunterladen (positiv) und informiere alle Menschen, mit denen ich in der Woche vor Symptombeginn zusammengewesen bin.

Da ich dienstags und mittwochs im Büro war, sage ich dem Chef Bescheid und erstelle eine Liste der Kolleg*innen, mit denen ich länger als ein oder zwei Minuten zusammen in einem Raum war. Auch diese ist kurz und alle sind geimpft. Trotzdem bietet mein Arbeitgeber (bester Arbeitgeber einfach) allen Betroffenen noch am Sonntagabend an, einen PCR-Test auf Kosten der Firma zu machen. Die Kolleg*innen waren so nett, mir Bescheid zu geben: alle negativ. Auch die kleine Spielerunde von Allerheiligen, der Nachbar, mit dem ich im Garten geplaudert habe und Schwiegermutter, Schwager und Schwägerin, die wir eine Woche vorher getroffen haben, sind negativ.

Was am Sonntag noch passiert: Die Ärztin vom Notfalltelefon ruft zurück, nimmt sich Zeit, fragt alle Symptome ab, kann mich beruhigen, dass die dank der Impfung vermutlich nicht mehr schlimmer werden. Symptome zu diesem Zeitpunkt: Fieber, Schnupfen, Husten, Kopfschmerzen aus der Hölle, Kurzatmigkeit, Sprechen fällt schwer und Aufstehen um das Fenster zu öffnen fühlt sich an wie Hochleistungssport – ich bin danach jedes Mal stärker aus der Puste als nach einem Spurt zur Bahn, wenn ich zu spät aus dem Haus gegangen bin. Sie bietet mir an, montags kurz vor Ende der Mittagspause auf dem Parkplatz der Arztpraxis im Auto zu warten – dort misst sie dann den Blutsauerstoffgehalt und macht eine Befragungsanamnese durchs Autofenster. Da ich vom Gesundheitsamt noch nichts gehört habe, schreibt sie mich für die ganze Woche krank.

Dem Gesundheitsamt habe ich gemailt und eine automatische Antwort bekommen, die sinngemäß sagt, es sei sehr viel zu tun und es könne dauern. Auf der Webste finde ich ein Formular, mit dem ich meiner Verpflichtung, Kontaktpersonen zu benennen, nachkommen kann. Pflichtfelder: Vorname, Nachname, Privatadresse, Geburtsdatum, Beschreibung der Kontaktsituation. Doof ist, dass ich von den Kolleg*innen weder Privatadresse noch Geburtstadtum kenne (zumindest nicht auswendig und ich fühle mich wirklich nicht fit genug, um mich am Dienstrechner anzumelden und die Geburtsdaten nachzuschlagen). Ich gebe also die Dienstadresse an und irgendein Datum als Geburtsdatum und vermerke das jeweils im Bemerkungsfeld. Freiwillig kann ich meine Symptome melden und mir das Formular auch per Mail zusenden lassen – was ich tue und möchte. Ich bekomme also postwendend eine automatisierte Mail, die mich beglückwünscht, dass ich keine Symptome habe und mich nach 5 Tagen freitesten kann – und gleichzeitig den Nachweis anhängt, dass ich ganz korrekt Symptome angeklickt habe und mich eben nicht freitesten kann. Wenn der Kopf nicht so weh täte, würde ich ihn gerne auf den Tisch schlagen.

Von den Kolleg*innen erfahre ich, dass das Gesundheitsamt sich freitags – fast eine Woche nach Testergebnis – bei Ihnen gemeldet hat. Gut, dass ich sie schon am Sonntagabend warnen konnte.

Donnerstags bringt die Post die Quarantäneverfügung mit dem Hinweis, man müsse den Umschlag unbedingt aufbewahren, denn dort sei das Datum der Zustellung eingetragen. Das hat der Postbote vermutlich nicht gewusst. Auf jeden Fall steht im entsprechenden Feld: Nichts.

Dem sehr juristischen Schreiben ist ein netter Standard-Begleitbrief des Bürgermeisters beigefügt, in dem man sich für die „manchmal leider sehr wenig verbindlich(en)“ Formulierungen in der Verfügung entschuldigt. Diese weist wenig verbindlich u.a. darauf hin, dass ich meine Kontaktpersonen melden muss. Sollte ich das noch nicht getan haben, muss ich es am Tag der Zustellung nachholen. Kann ich das nicht online tun, soll ich eine Telefonnummer anrufen. Ihr ahnt es vermutlich schon. Es ist die Nummer, bei der auch am Montag das Band lief, dass man dort niemanden erreichen kann. Was machen Menschen ohne Internetanschluss oder mit wenig digitaler Erfahrung?

Der Lieblingsmensch hatte übrigens am Dienstag auch Symptome – trotz aller Vorsichtsmaßnahmen. Da ich das Testergebnis noch immer nicht in der App angezeigt bekomme, habe ich es am Montagabend händisch eingetragen (durch Anruf bei einer Nummer, die meinen Namen, Geburtsdatum und Name des Labors abfragt, mich zurückruft und mir eine sehr lange TAN durchgibt). Nun ist seine Corona-Warn-App rot und er kann trotz negativem Selbsttest beim Hausarzt einen PCR-Test machen lassen. Als geimpfte Kontatperson 1 hatte er dieses Recht nicht. Holt euch also die App – aus so vielen Gründen, aber auch aus diesem. Ich weiß, dass das trotzdem nicht überall so reibungslos klappt, hier war es aber zum Glück problemlos. Am Mittwochmorgen ist sein Ergebnis da – positiv. In der App angezeigt wird es ihm aber nicht, dort steht weiterhin, dass sein Ergebnis nicht vorliege. Und das steht da noch tagelang, bis er den Test löscht und das schon bekannte Spielchen mit TAN und händischem Eintrag macht.

Bis heute – eine Woche später, hat der Liebste nichts vom Gesundheitsamt gehört, weder telefonisch noch per Post. Natürlich hat er seinen Kontakt online gemeldet. Ja, Kontakt in der Einzahl, denn er hatte sich ja gemeinsam mit mir ab Samstag isoliert und weil nur nach Kontakten ab zwei Tagen vor Symptombeginn gefragt wird, musste er nur mich angeben. Nach allem, was wir wissen, ist damit die Infektionskette beendet und ich habe sonst niemanden angesteckt. Puh. Gut, dass auch er einen super Arbeitgeber hat, der gute Besserung wünscht und kein Problem damit hat, die notwendgen Unterlagen irgendwann nachgereicht zu bekommen.

Mir ist klar, dass die hohen Infektionszahlen die Mitarbeiter*innen an den damit befassten Stellen fordern und überfordern. Denen mache ich auch keinen Vorwurf. Wirklich nicht. Den Menschen, die es in fast zwei Jahren nicht geschafft haben, ein System aufzubauen, das die Mitarbeiter*innen vor völliger Überlastung schützt und Menschen, die weniger digitalaffin sind oder denen es schlechter geht als mir, bei einer Infektion zu unterstützt, denen gelten deutlich weniger freundliche Gedanken, to say the least. Das unerträgliche Geschachere um Booster-Impfungen und das jetzt schon absehbare Chaos nach der anstehenden Zulassung der Impfung für Kinder ab 5 Jahren macht mich noch fassungsloser.

Was allerdings wirklich wunderbar ist, das ist die Unterstützung, die wir bekommen. Ganz viele liebe Menschen bieten an, für uns einzukaufen und tun das auch. Per Telefon und Messenger erkundigen sich die Freund*innen nach unserem Befinden. Manche schicken Links zum Schmunzeln, andere Tipps zum Lesen, wieder andere einfach Grüße und Fotos von draußen, aus der Nicht-Quarantäne-Welt. Blumen werden uns kontaktlos vor die Tür gestellt und Einhorngummibärchen, sogar eine Horoskopzeitschrift, damit wir was zu Lachen haben.

Pünktlich zur Besserung der anderen Symptome haben sich bei uns beiden Geruchs- und Geschmackssinn verabschiedet, aber Einhorngummibärchen sind trotzdem großartig. Auch Dinge wie Backofenkartoffeln mit Senfsaat oder überbackene Enchiladas mit schwarzen Bohnen, frischen Tomaten und Paprika sind klasse. Der Lieblingsmensch ist super kreativ und kocht Dinge, die ein spannendes Mundgefühl erzeugen. Das ist zumindest ein ehrenwerter Ersatz für Geschmack.

Wir fühlen uns geliebt, umsorgt und verwöhnt und sind sehr, sehr dankbar. Liebe Menschen um uns herum: Ihr seid nicht nur großartig und wunderbare Freund*innen, sondern wirklich und wahrhaftig und von ganzem Herzen die aller-, allerbesten! <3 <3 <3

Neulich. Golden.

Ein goldenes Netz spinnt die Sonne ins ablaufende Wasser. Ganz plötzlich hat sie sich durch die Wolkendecke gedrängelt, hat den Wind überredet, ihr eine Lücke ins Grau zu reißen und nun tobt sie sich aus, die Sonne. Auf meinen Schuhen, die ich nicht schnell genug ausziehen kann, auf den Strümpfen, die direkt folgen, auf den hochgekrempelten Hosenbeinen und meinen nackten Füßen im Watt – wie schnell da nichts mehr ist, wo gerade noch die Wellen ans Ufer leckten.

Ich folge dem Wasser, tanze über Muscheln und Wattwürmer, weiche kleinen Krebsen aus und schaue den Möwen beim Plantschen in Pfützen zu. Ich habe Musik im Herzen und freue mich wie ein Kind.

Und dann ist da plötzlich ein goldenes Netz. Es umfängt meine Knöchel und spielt mit meinen Zehen. Es ist zerbrechlich und zuverlässig haltbar zugleich. Es zerstiebt beim kleinsten Schritt und schnalzt zurück, sobald ich stillstehe. Es umfängt mich ganz und ist so weit wie mein Auge reicht. Und doch hält es mich nicht fest. Ein magisches Netz zu sein, das mich nicht fängt, sonder frei macht, mich nicht anbindet, sondern mir Weite und Energie verleiht. Es ist aus Sonne geknüpft und aus Wasser, aus Wellen und Sand, aus dem ewigen Kreislauf von Ebbe und Flut und von Licht, das sich bricht.

Wenn ich an unsere Ferien an der Küste zurückdenke, fällt mir dieses Netz ein. Wie schön diese unerwartete Sonnenstunde im Meer war. Wie fröhlich und frei und unbeschwert. Und mitten im Novembergrau stelle ich fest, dass ich mir etwas bewahren will von diesem goldenen Zaubernetz. Seine Fäden lassen sich auch in meinem Alltag finden – in kleinen Gesprächen an der Kaffeemaschine und beim gemeinsamen Erstellen einer Präsentation, bei der die Kreativität einer Kollegin mich beflügelt. Beim Austausch mit einer Freundin, die sich in Neuland wagt und beim Weinen mit einem Herzensmenschen, der trauert. Da sind Goldfäden bei Buch und Tee am Abend,  beim Telefonieren und beim Brettspielen, beim Spaziergang im Regen und beim Kuchenbacken.

Ich halte Ausschau nach den Lichtfäden, um das Netz weiterzuknüpfen. Bunt oder grau, flexibel oder stabil, groß und weit oder ganz klein und unscheinbar, laut oder leise, im Regen oder im Sonnenschein oder auch alles zusammen.