So ein Tag war das heute

Ich verlasse das Haus im Dunkeln. Der Herbst schickt die Nacht vor, es ist gar nicht so früh und doch noch tiefschwarze Nacht. Wobei, so tiefschwarz ist sie gar nicht, der volle Mond und überraschend viele Sterne funkeln mir den Weg zum Bahnhof. Über diesem leuchtet der große Wagen – einen zusätzlichen Waggon stellt er der zu spät heranrollenden Bahn mit dem fehlenden Wagen zwar nicht, doch dank Herbstferien muss ich nicht gruppenkuscheln.

Am großen Umsteigebahnhof suchen Menschen nach leeren Flaschen in Mülleimern. Die Idee, Pfand daneben zu stellen, hat sich leider noch immer nicht durchgesetzt. Ich habe meine kleine Thermoskanne dabei und kann leider kein Pfand abgeben. Auch mit einer Spende kann ich nicht helfen. Ich nehme mir vor, wieder Kleingeld einzustecken. Dass mir nach zweieinhalb Jahren Pandemie zum ersten Mal bewusst auffällt, dass das bargeldlose Bezahlen auch solche Folgen hat, macht mich nachdenklich – bin ich tatsächlich so unaufmerksam?

Am Arbeitsort angekommen habe ich genug Zeit, um den Bus zu nehmen und den letzten Kilometer zu Fuß zu gehen. Nicht, weil ich früher aussteige, sondern weil es keinen ÖPNV bis zu den Kolleg*innen gibt. Die Saboteur*innen, die dafür verantwortlich sind, sitzen vermutlich eher in Amtsstuben und haben andere Motive als die, die am Wochenende den Bahnverkehr lahmgelegt haben. Aber heute beschwere ich mich nicht, sondern gehe frohen Sinnes durch die Sonne, unter leuchtend rot-orange-braun-gelben Bäumen und an strahlend schönen Herbsthecken vorbei.

Wir tagen hybrid – mit zugeschalteten Menschen und anderen in Präsenz. Wir sprechen über konkrete Projekte und große und kleine Herausforderungen der digitalen Transformation. Einige hier kenne ich schon lang, andere sind neu dabei. Es sind gute Gespräche, vertrauensvoll, ehrlich, ohne Visier. Ich stelle fest: Es geht nicht nur mir so, dass ich Halt und Kraft finde im nahen Umfeld, in ermutigenden Erfahrungen mit Neuem und neu gedachtem Altem und mit engagierten Mitmenschen. Auch die anderen berichten davon – und gleichzeitig von einer Ernüchterung und Aussichtslosigkeit im Großen und Ganzen, die uns alle überrascht. Es sind überall Menschen wie die hier versammelten, die in den vergangenen Jahren so oft die Ärmel hochgekrempelt haben und die große Wirklichkeit durch kleine Einsätze in Bewegung brachten. Ob diese Zukunftsskepsis uns wieder verlassen wird?

In der Pause schreibe ich einer Freundin in der Ferne, die ihren ersten Arbeitstag nach langer Pause genießt. Ich freue mich über eine kleine gute Nachricht eines anderen lieben Menschen, buche eine Fahrkarte fürs Wochenende und lasse mir von einem neu geborenen Erdenbürger berichten.

Auf dem Heimweg treibt der Wind mich vor sich her Richtung Bahnhof. Ich bin nicht schnell genug, um den ersten Regentropfen zu entkommen. Er kann es noch, der Herbst.

Der Zug,, den ich zur Rückfahrt nehme, ist eine Alternativlösung, weil die bessere Strecke wegen Bauarbeiten gesperrt ist. Und er ist zu spät – wie immer, quasi. Reservierungen werden nicht angezeigt, die Wagenreihung ist geändert, Menschen rennen mit Kinderwagen übers Gleis, um den richtigen Zugteil zu erwischen. Wie traurig, dass diese wundervolle Art der Fortbewegung in der Vergangenheit so sehr vernachlässigt wurde, dass es nun wirkt, als sei sie kaum noch zu retten. Vom Preis ganz abgesehen – selbst mit der günstigsten Variante kostet die Fahrt mich noch immer deutlich mehr als eine Autofahrt zu den aktuellen Spritpreisen. Der politische Wille hinter solchen Entscheidungen erschließt sich mir nach wie vor nicht. Immerhin funktioniert das Internet leidlich und ich kann diesen Text schreiben. Über die kleinen Dinge in der Nähe freuen, um die Ernüchterung in Schach zu halten …

Der Lieblingsmensch ändert die Pläne fürs Abendessen, so dass sie zu meiner verspäteten Ankunft passen, eine Freundin kündigt ihren Besuch für den Abend an und Carrie Newcomer singt mir von starken Frauen und leisen Tönen ins Ohr uns ins Herz. Ich schreibe eine letzte Mail, mache den Computer aus, wechsle zu Klaviermusik  und zähle die Regentropfen auf der Zugfensterscheibe.

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