Im Alltag

Ich sitze in der Bahn und fahre zu einer Konferenz. Der Fahrgastbefragersucht anscheinend gezielt nach Menschen, die nicht nach Vielfahrer*innen aussehen. Um Erkenntnisse zu gewinnen, wie man den eigenen Service verbessern könnte, fragt man lieber nicht die Expert*innen. Das ist ja nicht nur bei der Bahn so.

Die Skyline von Frankfurt ist von Nebel umgeben, die Enden der Türme sieht man nicht. Auch das ein Bild für den Zustand der Welt. Das Schwere, Graue, Nach- unten-ziehende fällt mir zuerst ins Auge. Die himmelweisenden Spitzen, die Wegweiser zum Licht, die sehe ich oft genug nicht und muss sie mir dazu denken. „Ich will mir meine Hoffnung nicht kleinreden lassen, aber ich muss zugeben, ich bin pessimistischer als früher“ habe ich mir neulich bei einer anderen Konferenz mitgechrieben. I feel you, Redner auf dem Podium, I feel you.

Das schwarze Herz ist in der Liste meiner meistgenutzten Emojis schon das ganze Jahr viel zu weit vorne. Ich nutze die Fahrt zum Erinnern an Menschen, für die ich früher hier ausgestiegen wäre – um zusammen zu arbeiten, einen Kaffee in der Bahnhofshalle zu trinken, sich wenigstens kurz in den Arm zu nehmen. Und ich denke an andere, die aktuell mit Krankheit ringen. Ich versende den Link zum ASB-Wünschewagen, weil da Menschen sind, die im wahrsten Sinn des Wortes letzte Wünsche haben. An anderen Tagen freue ich mich, dass ich einige der Menschen, die solche Wünsche ehrenamtlich in die Tat umsetzen, Kolleg*innen nennen kann. Heute macht die Tatsache, dass ich so viele potentielle Fahrgäst*innen kenne, mein Herz schwer.

Ein Freund schreibt, dass er am Wochenende bei einem Umzug geholfen und noch Muskelkater hat. Ich richte mein neues Mastodon-Wohnzimmer ein und kriege auch Kater; Online-Umzugs-Seelenkater.

Jemand aus meiner angeliebten Familie schickt einen Link zu eMusik, zu der wir im Sommer ausgelassen getanzt haben. Ich kann die Leichtigkeit dieser Abende noch spüren, die Freude über die wildromantischen Sonnenuntergänge und die Möglichkeit, diese Zeit miteinander zu teilen. Und ich denke an das Kinderbuch von Frederick der Maus, die Sonnenstralen und Farben für den Winter einlagert. Wie ich mir wohl etwas von meinem Sommer-Ich bewahren kann?

Überhaupt: Wie geht das mit dem Erinnerungen bewahren? Eie große Frage nicht nur an diesem geschichtsträchtigen 9. November. Wo waren meine Verwandten 1938? Was taten sie? Wie kann ich das herausfinden, wenn niemand rechtzeitig gefragt hat? Was ist aus der Freude von 1989 geworden? Welche Hoffnungen haben sich erfüllt, welche sind unerfüllt geblieben, welche sind laut gestorben und welche leise? Ich schreibe einer Freundin, die im Osten groß geworden ist. Vielleicht können wir ab und an über solche Fragen reden, den Alltag unterbrechen, neue Perspektiven einüben.

Vor dem Fenster ist es Franken geworden. Mein Sitznachbar telefoniert in passender Mundart. Auch die kleinen Zeichen von Vielfalt sehen und schätzen.