Ein politisches Statement war es, das Igor Levit geben wollte mit der Aufführung der Vexations von Satie. Bis zu 20 Stunden könnte es dauern, sagte er im Vorfeld. Stunden, die darauf aufmerksam machen sollen, dass mitten in der Pandemie die Kultur, die Kunst und alles, was sie uns geben und wohin sie uns mitnehmen und was sie mit und aus uns machen, in der politischen Aufmerksamkeit einfach hintenrunter fallen. Ein Protest für das, was uns als Menschen, als Gesellschaft so sehr ausmacht. Ein „stiller Schrei“ hatte Igor es vorher genannt.
Es beginnt auch ganz still. Ruhig. Innig. Nachdenklich. Die ersten Noten, das erste Thema, die erste und die zweite Variation. Und wieder von vorn. Und noch einmal. Und nochmal. Und nochmal. 840 Mal.
Igor kommt herein, setzt sich ans Klavier, sammelt sich kurz und beginnt. Und spielt. Und spielt. Und spielt. Und ich lausche. Lasse mich hineinziehen in diesen immer wiederkehrenden Rhythmus, in die Wiederholung und die nächste und wieder die nächste. 840 Seiten Papier liegen vor und neben dem Pianisten. Nach jedem Durchgang lässt er eine davon zu Boden gleiten.
Für mich wird diese Szene ein Sinnbild für die vergangenen Tage, Wochen, Monate. Sie begannen für mich einfach so. Ohne Vorrede. Ohne Einführung. Hinsetzen und machen, was zu machen ist. Ab und zu eine neue Seite aufschlagen. Ein neues technisches Tool nutzen, eine neue Gruppe Menschen in die Nutzung von Dingen einführen. Eine neue Rubrik auf der Website, jeden Tag ein Update. Eine Videokonferenz und noch eine und noch eine. Als Variation eine Telefonkonferenz und ein Chat. Und dann wieder von vorn. Und nochmal. Und nochmal.
Sorgen um Menschen, die mir lieb sind. Auch um die eigene Gesundheit. Sorgen mit Menschen, deren Arbeitsplatz in Gefahr ist. Um das, was aus unserer Gesellschaft werden könnte. Um Menschen, die von vernünftigen Argumenten nicht mehr zu erreichen sind. Um die kleinen Läden in der Nähe und Lieblingsorte in der Ferne. Zwischendurch Trauer. Und dann wieder von vorn.
Sehnsucht danach, Freundinnen zu umarmen. Nach einem Glas Wein unter einem Sonnenschirm und Zeit zum Reden und zum gemeinsamen Schweigen. Nach Spieleabenden in der großen Runde am großen Tisch, Schulter an Schulter. Nach einem spontanen Ausflug zu Freunden im Nachbarland. Nach der großen Konferenz im Sommer, die nun verschoben ist. Nach dem Meer und nach „mehr“. Sehnsucht. Immer und immer wieder.
Fast zwei Stunden lausche ich Igor am Nachmittag. Dann mache ich Erledigungen, wühle im Garten. Unkraut jäten ist auch so eine ewige Wiederholung mit Variationen, mal mit mehr Löwenzahn, mal mit mehr Giersch oder Brennessseln. Zwischendurch höre ich wieder hinein. Bin sofort wieder mittendrin. Immer noch Satie. Natürlich. So geht es mir auch in meinem Alltag. Ich denke nicht ununterbrochen daran. Aber wenn ich zum Hofladen gehe und die Maske aufsetze, wenn ich Schulungen zu Webinaren umkonzipiere, wenn wir den Familienkaffeeklatsch auf Skype verlegen, ist es sofort wieder da. Immer noch Pandemie. Natürlich.
Am Abend schaue ich wieder hinein, in Igors Klaviermarathon. Ein wenig auch in sein Herz, denke ich. Der Satie klingt nicht mehr ruhig und nachdenklich. Energisch ist er. Wütend. Angestrengt. Igors Gesichtsausdruck ist es auch. Er steht auf und spielt dabei weiter. Es ist ein körperlicher Kraftakt. Eine fast unmenschliche Anstrengung. Der Papierstapel neben ihm ist noch immer riesig. Der um ihn herum, der mit den bereits gespielten Seiten, aber auch.
Ich fühle mich gerührt und verstanden. So ging und geht es mir zwischendurch auch. Die Kraft reicht nicht mehr für langsam und ruhig und innig. Ich werde ungeduldiger, schneller. Spiele nicht mehr sauber mit allen Fingern, sondern hämmere das, was zu erledigen ist, mit dem Zeigefinger in die Tastatur, ins Leben. In solchen Momenten ist in mir wenig Verbindendes, mehr Stakkato. Da versuche ich nur, irgendwie weiterzumachen. Mit schmerzendem Rücken und wehen Gliedern. Da bin ich wütend auf dieses Virus, das mir einfach keine Wahl lässt. Auf die Verschwörungsdemonstranten. Auf die Nachbarn um die Ecke, die ein großes Gartenfest feiern und den Lärm der Gäste, der über die Hecken zu uns hinüberweht. Auf den Neid, den ich dabei verspüre.
Nach Protest klingen die Vexations am späten Abend. Nach Leidenschaft und Aufmüpfigkeit. Nicht mehr nach sachlicher Argumentation und intellektueller Überzeugungskraft, sondern nach einem lauten Verstehmichdoch. Nach mit dem Fuß aufstampfen und nach Empörung. Nach Frust, dass die eigene Haltung nicht verstanden wird, nach laut hinausgerufener Hoffnung, dass der gesunde Menschenverstand doch bitte wieder Einzug halten möge.
Später liegt Igors Kopf in den kurzen Momenten, in denen er nur eine Hand zum Spielen braucht, auf seinem anderen Arm. Oder auf dem Knie, das er angezogen hat. Diese Müdigkeit, sie ist eine vertraute Begleiterin in dieser Pandemie geworden. Ich habe Strategien entwickelt, mit ihr fertig zu werden. Durch sie hindurchzuschreiten. Mit ihr zu leben und zu arbeiten. Aber müde bin ich doch.
Schikanen, Demütigungen. So kann man Vexations übersetzen. Être vexé(e), stelle ich fest, benutze ich nur selten. Beleidigt sein, eingeschnappt, verärgert – in meinem französischen Sprachgebrauch gehört das nicht zum Standardrepertoire. Und während ich in der Nacht wachliege und Igor lausche – mehr als zwölf Stunden spielt er da schon – da denke ich, dass die Pandemie mir auch das gebracht hat. Ungeduldig und quengelig zu sein, eingeschnappt und genervt – und bewusst wieder herauszufinden aus diesen Phasen. Was sonst im Alltag untergeht, passiert in diesen Wochen im Fokus meiner Aufmerksamkeit. Eine zusätzliche Runde beim zum Ritual gewordenen Feierabendspaziergang, eine halbe Stunde im Garten mit den Rosen und den Vögeln und den Bienen. Aufbleiben, bis die ISS über uns hinweggeflogen ist und meinen Blick auf etwas Größeres geweitet hat.
Im ewig Gleichen neue Akzente setzen. Auch, wenn ich mich mal verspiele, Fehler mache, unachtsam bin. Beim nächsten Mal eine kleine Nuance anders machen und schon funktioniert es wieder. Mitten im Kraftakt kleine Momente des Luftholens finden. Kleine Trostmomente, kleine Stützen. Auch zu Igor kommt immer mal wieder ein Helfer, bringt frisches Wasser, Snacks. Als ein soclher Helfer sich nachts in einer der kurzen Pausen ins Bild schleicht, freue ich mich sehr über die Menschen, die es in meinem Leben gibt.
Die letzte Wiederholung habe ich nicht live gesehen. Ich habe noch geschlafen und sie mir später angeschaut. Ganz langsam. Innig. Bewusst. Ein Abschied. Eine Liebeserklärung. Und dann: Klappe zu beim Flügel. Wie es wohl sein wird, wenn ich die Pandemieklappe in meinem Leben zuklappen kann. Wohin gehe ich, wenn ich dann aufstehe. Wie wird es sein?
So wie Saties Musik in mir noch lange nachklingt, wird auch die Pandemie in meinem, in unseren Leben nachklingen. Etwas wird sich verändert haben. Aber manches auch nicht. Das verdanken wir dann auch Menschen wie Igor Levit. Merci.