Ohne Happy End

Mittlerweile war sie größer als ich. Und breiter. Und das will wirklich etwas heißen. Sie hatte mehr als ein Dutzend Knospen. Und ließ sich deutlich mehr Zeit mit dem Blühen, als ich vor mehr als 2 Wochen vermutet hatte. Da hatte ich die Größe ihrer Knospen erstmals wahrgenommen.

In unserem kleinen Garten habe ich ihre Artgenossen konsequent ausgemacht. So wie die Brennesseln und den Löwenzahn. Aber hier, am Wegesrand in dem kleinen Wäldchen am fast ausgetrockneten Bach, da durfte sie wachsen. Groß werden und größer. Immer noch einen Trieb und noch einen.

Sie war nicht die einzige, aber doch die erhabenste. Seit Wochen spazierten wir immer und immer wieder an ihr vorbei. Sie wurde unsere Feierabendspaziergangsvertraute. Wir freuten uns, als sie unsere Kniehöhe überschritt, dann die Hüfte, dann die damals kaputte Schulter. Der Lieblingsmensch hielt uns zusammen im Bild fest, als wir gleich groß waren. Noch gestern versuchte ich, auf Zehenspitzen einen Blick auf die höchste Knospe zu erhaschen. Wir schätzten, wie lange sie wohl brauchen würde, um die ersten violetten Strahlen herauszulassen auf dem hüschen Knubbel, der eine Blüte werden sollte. Und wunderten uns, dass das viel länger dauerte, als wir zunächst gedacht hatten.

Wir hatten sie ins Herz geschlossen. Selbst wenn wir sonst schweigend und einträchtig nebeneinander gingen, kamen wir unserer neuen Freundin näher, tauschten wir Vermutungen aus, wie sie jetzt wohl aussehen mochte.

Und heute – heute ist fast nichts mehr von ihr übrig. Jemand hat sie mutwillig zerschlagen. Ihr festen Stängel abgebrochen, ihre Blütenansätze zertreten. Da war niemand pflegend am Werk und wollte die Ausbreitung des „Unkrauts“ verhindern. Niemand, der den Spazierweg auch für Menschen mit Beinträchtigung und Rollator besser begehbar machen wollte. Niemand, hinter dessen Tun irgend ein Sinn erkennbar wäre. Rohe Kraft, sinnlose Zerstörung. Im besten Fall gedankenloses Auslassen von Übermut oder Wut. Aber da muss jemand schon eine ganz schöne Wucht angewandt haben.

Jetzt ist sie weg, die größte Distel, die ich je bewusst gesehen habe. Und an jedem Feierabendspaziergang werden die abgeknickten Stängel, die zertretenen Stiele, Blätter und Knospen mich an diese unnütze, überflüssige Idiotie erinnern.

Ich habe einen Moment lang überlegt, ob ich daraus eine Parabel auf die aktuelle gesellschaftliche Situation machen soll. Aber dieser Quatsch bleibt einfach so für sich stehen. Meine Enttäuschung auch.

Ein Gedanke zu „Ohne Happy End

  1. Waldorfpapa

    Das sind Taten, die auch nicht verstehe: Warum zertritt jemand eine Pflanze, die einfach nur dasteht? Niemanden anspringt, keine Vögel jagt oder Kinder erschreckt, weder Geräusch macht noch Gestank, stattdessen Insekten nährt (Bienen, Hummeln, Schwebfliegen…). Vielleicht provoziert der vermeintliche Stolz einer scheinbar wehrhaften Pflanze?

    Ich beobachte seit 2 Jahren ein ähnliches Spiel im Taunus: Irgendjemand zertritt immer wieder eine Pflanze mit giftigen Inhaltsstoffen, die an einem Wanderweg wächst. Eine Tollkirsche ist nur giftig, wenn man sie isst. Aber wer macht das? Kinder kommen da nicht ohne Eltern hin. Und so verlockend sehen die winzigen Früchte auch nicht aus. https://twitter.com/Waldorfpapa/status/1013425399639019520

    Es ist eine seltsame Haltung mancher Menschen, alles, was sie nicht verstehen oder für bedrohlich halten, vernichten zu müssen. Disteln, Tollkirschen, Giftpilze… Andersdenkende?

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