Vor einem Jahr saß ich in der Nähe der Stadt Dohuk im Nordirak in einer kleinen Hütte eines Flüchtlingslagers einer jungen Frau gegenüber. Hinter ihr lag die Hölle des Krieges in Syrien, vor ihr eine ungewisse Zukunft, ein langer, kalter Winter, Armut und Unsicherheit.
Sie konnte kaum lesen und schreiben, denn sie hatte die Grundschule nur sehr unregelmäßig besuchen können. Und doch sprach sie unendlich klug, über die Situation in Syrien, über das Leben auf der Flucht. Über ihre Träume und Hoffnungen. Trotz allem.
Die junge Frau hat mir ihren Namen gesagt, wollte ihn aber nirgendwo veröffentlicht wissen. Angst hatte sie nicht. Sie fand nur ihren Namen unwichtig. So wie ihr gehe es so vielen Frauen in Syrien. Und an hunderten anderen Orten auf der Welt.
Sie sprach nicht englisch, ein Bekannter, den sie im Flüchtlingslager kennengelernt hatte, übersetzte für uns. Sie kochte uns starken, süßen Tee und währenddessen spielte ich mit ihrem kleinen Sohn Murmeln schnipsen. Er war erst knapp drei, aber er freute sich wie ein Schneekönig, dass er seine Murmel mit dem Daumen und dem Mittelfinger umfassen und fast einen Meter weit schnipsen konnte, die bunte Kugel bei mir aber keine fünf Zentimeter flog.
Der Vater des stolzen Murmelprofis hatte zu Kriegsbeginn gerade sein Studium beendet und wollte als Agraringenieur ins Berufsleben starten. „Sie wollten meinen Mann einberufen. Ich wusste, das würde ihn umbringen. Er kann nicht schießen, er liebt die Natur, er kann keiner Fliege etwas zuleide tun und in Konfliktsituationen diskutiert er so lange, bis er sich zumindest mit seinem Gegenüber wieder in die Augen sehen kann. Entweder, er würde sofort erschossen oder er würde verrückt. In beiden Fällen hätte ich ihn verloren. Das wollte ich nicht.“
Gemeinsam packten sie die wichtigsten Gegenstände ein, Kleidung, Papiere, ein paar Fotos ihrer Liebsten, ein Hochzeitsfoto, ein Bilderbuch und ein paar Murmeln. Das ganze Leben in zwei Koffern. Ein Rucksack mit Proviant für die nächsten Tage, eine Hand voll Trockenfrüchte für den Kleinen. Geld, um einen Taxifahrer zu bestechen, sie in die Nähe der Grenze zu fahren, ohne Fragen zu stellen. Die Grenze überquerten sie in der Nacht. Sie sind dankbar, dass die kurdische Autonomieregierung ihnen Aufnahme gewährt; dass der Vater Arbeit findet, als Lehrer an der Grundschule des Flüchtlingslagers;
Ein Jahr nach dieser Begegnung musste ich heute wieder an diese junge Frau denken. An ihre Kraft. Ihr verliebtes Lächeln, als ihr Mann aus der Schule kam. An ihre großzügige Gastfreundschaft und ihr Vertrauen. An das Baby, das sie schon in sich strampeln fühlte und von dem sie sich wünschte, dass es ein Junge wird. „Wenn es ein Mädchen wird, gebe ich ihm deinen Namen, auf kurdisch: Stera soll sie heißen. Aber ich hoffe, es wird ein Junge. Denn Männer sind es, die die Welt regieren. Vielleicht werden meine Söhne dazu beitragen können, eine friedlichere Welt zu schaffen.“ Ich denke an die Schlammlandschaft, in die das Lager sich an Regentagen verwandelt. An die Nachbarn meiner Gesprächspartnerin, mit denen ich mich eine Stunde lang unterhielt. Ohne Übersetzer, nur mit Händen, Füßen und in den Matsch gezeichneten Bildern. An die junge Patientin, die jeden Tag zur Ambulanz kam, um ihre schweren Bombensplitterverletzungen behandeln zu lassen. An die Kinder in der Schule, die sauer waren, weil ich zu Besuch war und die Aufmerksamkeit ihres Lehrers für einige Minuten beanspruchte.
Allen Verantwortlichen, die dieser Tage über Asylrechte nachdenken, die Regeln wichtiger nehmen als Menschen, wünsche ich eine solche Begegnung.
Weitere Fotos und Berichte aus dem Nordirak im Winter 2012 findet ihr hier, hier oder hier.