Hatte ich erwähnt, dass ich Märchen mag? Okay, das ist wohl eher eine rethorische Frage. Auch der Lieblingsmensch ist fantastischen Geschichten nicht abgeneigt und so klingt es irgendwie nur folgerichtig, dass wir uns ausgerechnet in die Côte des légendes, die Küste der Legenden, verliebt haben.
Hier gibt es quasi zu jedem Stein und jeder Kapelle, zu allen Brunnen und Wegkreuzen, zu Gebäuden, Brücken und Feldern, also quasi zu allem und noch viel mehr, mindestens eine Legende. Hier leben Korrigans (eigentlich bevorzugen sie die Wälder, aber in den vergangenen Jahren sollen sie immer öfter auch an der Küste gesehen worden sein), Feen und Meerjungfrauen. Hier treiben der Teufel und Ankou, der Tod, der mit der Kutsche fährt, ihr Unwesen. Hier haben sowohl mehr oder weniger anerkannte Heilige als auch verrückte Außenseiter die erstaunlichsten Wunder gewirkt und natürlich helfen sie auch weiterhin gegen alle möglichen und unmöglichen Krankheiten. Wenn man denn weiß, was man tun muss, um ihre Gunst zu gewinnen.
In einer kleinen Kapelle können zum Beispiel Kinder von Ohrenentzündungen geheilt werden, wenn ihre Eltern ein T-Shirt im Brunnen vor der Kapelle tränken und vor dem Altar ablegen. Natürlich wird nicht vergessen zu erwähnen, dass eine Heilung umso wahrscheinlicher wird, je größer die Münze ist, die die besorgten Eltern in das nasse Hemdchen wickeln.
Um Geschichten eines anderen Kalibers, nämlich um „echte“ Legenden, geht es, wenn die Conteurs de la nuit unterwegs sind. Marie-Pierre und Joël sind zwei Ehrenamtliche, die die jahrhundertealte Tradition der Erzähler wach halten. Und wie.
Jeden Sommermontag-Abend spazieren sie mit begeistert lauschenden großen und kleinen Geschichtenfreunden über Dünen und Strand und erzählen Geschichten, die sich dort, und zwar genau dort, zugetragen haben. Mit dem Rauschen des Meers als musikalischer Untermalung und unschlagbarer Kulisse lassen sie alte Zeiten wieder lebendig werden. Allein mit ihren Stimmen, Händen und Augen versetzen sie ihr staunendes Publikum zurück in die Zeit, als die Feen noch in der Bucht von Kerlouan baden gingen und präsentieren bisher unbekannte, aber völlig überzeugende Erklärungen dafür, warum das einst so süße Wasser des Meeres irgendwann salzig geworden ist. Auch mutige Fischer und Meerjungfrauen dürfen nicht fehlen.
Ich empfand eine kindliche Freude an den Erzählungen. Und ganz besonders an der alten Kunst des Erzählens. Es war, als schwängen rauchgetränkte Winterabende an bretonischen Feuern bei jeder Legende mit. Als würden mit jedem Satz Erinnerungen an Geschichten erzählende Großväter in Lehnstühlen und märchen-weise Großmütter in der guten Stube wieder lebendig. Als lockten die Worte Fabelwesen aus ihren alten Verstecken, damit sie uns ihre Geheimnisse verraten.
So erzählt, bestehen die Geschichten aus viel mehr als nur den dazugehörigen Wörtern. Sie bringen Gerüche mit und Klänge und eine Ahnung von Honigwein und verbrannten Algen. So erzählt, sind Legenden mehr als Zeitvertreib; sie werden zum Hauch der Geschichte, vermitteln eine Ahnung des Lebens der Menschen an dieser Küste, geben Anteil an jahrhundertealten Träumen, Ängsten und Sehnsüchten.
Natürlich beginnt der Abend mit einer Vorwarnung, denn wer sich ins Land der Abenteuer begibt, kommt nicht ohne Risiko aus. Aber mit solchen Führern an der Seite braucht man den Besuch bei den Fabelwesen nicht zu fürchten. Und auch nicht die Zeitreise in die Geschichte. Denn zum Abschluss des Abends führen die Conteurs ihre legendenhungrige Truppe im Schein der Laternen in eine alte, romantische Granitkapelle und erzählen – immer im Wechsel aus der Perspektive der Seeleute und aus der Sicht der halbverhungerten Strandräuber an der Küste – die Geschichte des Untergangs eines Lastkahns voll beladen mit Calvadosfässern. Nicht nur, wenn man sich vorher das Museum zum Untergang der „Indian“ im benachbarten Meneham angesehen hat, geht man mit einer dicken Gänsehaut nach Hause.
Il était une fois…cont