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Umarmung am Bahnsteig

Während um mich herum die Welt immer verrückter zu werden scheint (was genau halten diese CSU-Menschen eigentlich noch für menschlich, europäisches Leistungsschutzrecht, Kinder, die ihren flüchtenden Eltern weggenommen werden, Debatten, die immer sofort emotional eskalieren, …), passiert am Bahnsteig, an dem ich aussteige, fast jeden Morgen Folgendes:

Die Türen öffnen sich, viele Menschen strömen auf den Bahnsteig und drängeln in Richtung Treppe. Wenn der Zug pünktlich oder der Gegenzug gleichviel verspätet ist – man glaubt es kaum, aber das ist überraschend oft der Fall -, passiert am Nachbargleis genau das selbe.

Mitten im Gewusel entsteht dann ein kleiner Stau, eine kleine Insel. Eine Frau aus meinem und ein Mann aus dem Zug in die Gegenrichtung fallen sich kurz in die Arme, küssen sich innig, laufen wieder in ihren jeweiligen Zug zurück, rufen sich kleine Nettigkeiten, Uhrzeiten für ein Telefonat oder Pläne fürs Wochenende zu. „Ich hab dir noch einen Link zu einem Küchenstudio geschickt, schau mal, ob dir das gefällt.“ – „Ich habe im Keller die Sackkarre wiedergefunden, falls wir die mal brauchen.“ – „Soll ich die Kinokarten für Freitag reservieren? Kommen die anderen auch mit?“ …

Bis sich die Türen wieder schließen, schauen sie über die dahinhetzenden Menschen hinweg und strahlen sich an. Die meisten Menschen auf dem Bahnsteig huschen um die beiden herum, die meisten stumm, hin und wieder schimpft jemand, dass die zwei im Weg sind. Manchmal aber lassen sich andere, lasse ich mich anstecken, von ihrem Schwung, ihrem Strahlen. Dann lächeln wir uns verschmitzt zu, wenn wir die Treppe hinuntereilen, in die Straßenbahn springen oder ins Büro weitergehen. Das Ganze dauert immer nur ein paar Sekunden, aber die erwärmen mich deutlich länger.

 

Was schön war

Der Zug nach München ist rammelvoll. Die Wagenreihung hat sich geändert, reservierte Sitzplätze werden nicht angezeigt, die Klimaanlage funktioniert zwar, zickt aber immer wieder rum und Internet gibt es auch keins. Die Stimmung ist entsprechend gereizt. Man muss gar nicht lange im Zug sitzen, um das mitzubekommen. Man merkt es sofort beim Einsteigen. Ein älterer Herr steigt ein und wartet neben meinem Platz darauf, dass sich das Chaos im Gang ein wenig lichtet und er zu seinem Platz gehen kann.

Er trägt einen grau-blauen Anzug, den er vermutlich schon sehr lange besitzt. Der Schnitt war vor Jahrzehnten modern und über die Schultern und die Hüften ist er seinem Träger zu weit geworden. Aber eindeutig ist es ein guter Anzug. Ein feiner Stoff. Ein sorgfältig ausgewähltes Hemd mit farblich passender Krawatte rundet die Erscheinung ab.

Der kleine, alte Herr hält sich ganz aufrecht. In der einen Hand trägt er einen abgewetzten Violinenkasten, in der anderen einen grauen Hut. Ein Hut, wie ihn ältere Herren in Bilderbüchern tragen. Einer von denen, die mein Großvater den „guten Hut“ nannte. Im Gang wuseln einige laut plappernde Kinder durcheinander und schubsen sich meckernd herum, bis jeder einen passenden Platz gefunden hat. Der ältere Herr seufzt ein wenig.

Ich biete ihm an, auf meinem Platz sitzend zu warten, bis sein Weg frei wird. Er bedankt sich mit wenigen Worten, lehnt das Angebot aber ab, zuckt die Schultern, hebt den Blick und plötzlich lächelt er über das ganze Gesicht. Ich sehe ebenfalls auf und mein Blick fällt auf einen jungen Mann am anderen Ende des Ganges. Er trägt Cargo-Shorts und ein verwaschenes T-Shirt. Vom Aussehen her ist er das genaue Gegenteil von meinem Kurzzeit-Nachbarn. Doch von der Haltung her ist er sein jüngeres Ebenbild. Ganz aufrecht steht er da, in der einen Hand einen mit bunten Aufklebern verzierten Gitarrenkoffer und in der anderen Hand ein Hut. Kein „guter Hut“, sondern ein Outdoor-Pfadfinder-Zeltplatz-Hut, aber eindeutig ein Hut. Als habe das Lächeln des älteren Herrn ihn angezogen hebt auch er seinen mürrischen, genervten Blick und schaut genau auf sein Gegenüber.

Es dauert den Bruchteil einer Sekunde, dann erkennt er seinen Bruder im Geiste. Und plötzlich, mitten im gereizten Chaos, mitten in der Hitze des Platz-Kampf-Gefechts und über den Streit der Teenager hinweg, strahlt auch er. Freundlich nicken die beiden sich über die Köpfe der immer noch motzenden Kinder hinweg zu.

Dann ist der Weg frei und die beiden gehen zu ihren Plätzen, heben ihre Instrumentenkoffer vorsichtig ins Gepäckfach. Bevor sie sich hinsetzen nicken sie sich nochmal zu wie alte Bekannte. Sie wechseln kein Wort. Aber als ich mir kurz danach im Bordbistro einen Tee hole, sitzen sie beide noch immer still in ihren Sitzen und lächeln vor sich hin.