Archiv für den Monat: Juli 2020

Blick auf die Alhambra

Als Kind mochte ich die Geschichte von Frederik der Maus, die nicht wie die anderen Mäuse Vorräte sammelt für den Winter, sondern Farben und Sonnenstrahlen und Geschichten. Und der damit dazu beiträgt, die Mäuse durch den Winter zu bringen.

Ich habe dieser Tage wieder daran gedacht. Igor Levit spielte Beethoven in der Alhambra und postete Fotos von dort. Ich suchte, ob es eventuell einen Livestream gäbe und fand – Erinnerungen, an die ich lange nicht gedacht hatte. Die aber mit mehr kamen als mit Bildern. Sie brachten Gerüche mit und der Geräusch von plätscherndem Wasser überall in den Gärten der Alhambra das Gefühl von warmem Frühlingswind auf der Haut.

Gesehen habe ich die Alhambra vor mehr als 20 Jahren, als ich einen Freund besuchte, der in Granada studierte. Ich erinnere mich an mein überwältigtes Staunen ob der Räume und der vielen schönen Details. An das wunderschöne Gewölbe in der Sala de los Abencerrajes. An den sonnenbeschienenen Löwenhof, die wunderschönen Spiegelungen im Wasser des Myrtenhofs. An die Gartenanlage des Generalife und die Wasserspiele. Ich erinnere mich auch an das vertraute Gefühl von Freundschaft, von Zweisamkeit inmitten der vielen Menschen dort. An die Freude an der Schönheit, die ich dort so intensiv empfand.

Ganz besonders erinnere ich mich aber an einen anderen Moment mit der Alhambra – am frühen Morgen, bevor ich sie von innen sah. Ich wohnte in einer kleinen Pension im Albaicín und wurde früh wach. Ohne Plan wanderet ich durch das Altstadtviertel, hinauf auf den Hügel, der der Alhambra gegenüberliegt. Auf dem Aussichtsplatz vor einer Kirche waren Bauarbeiter am Werk und machten gerade Kaffeepause. Ich setzte mich auf ein Mäuerchen und winkte zurück, als sie mir Grüße zuriefen. Einige kamen herüber, brachten mir einen Plastikbecher und schenkten mir Kaffee aus ihrer Thermoskanne ein. Ich erinnere mich an den starken, bitteren Geschmack des Kaffees, das Radebrechen zwischen Spanisch, Englisch und Französisch. Das gemeiname Lachen über die unbeholfene Kommunikation.

Ich erinnere mich an das Glücksgefühl, die Morgensonne über dem alten Palast zu sehen, an die Unbeschwertheit dieser Ferientage mit frühsommerlichen Temperaturen und Sonne satt – kam ich doch aus bretonischem Regen (und sogar einen Abend Schnee) in überreichen Mengen. An die Freude, an diesem frühen Morgen an diesem schönen Fleckchen Erde zu sein, ganz allein und ohne Verpflichtungen. Die Teekanne und die Gläser, die ich mir auf dem Rückweg gekauft habe, sind unglaublich kitschig, aber ich bringe es nicht übers Herz, sie  wegzugeben.

Vielleicht koche ich mir heute Nachmittag Tee fürs Homeoffice in genau dieser Kanne – damit mich die Frühlings-Erinnerungen durch diesen Tag tragen, der sich wie ein November-Montag anfühlt, mitten im Juli.

Ausschau halten

Es ist kühl geworden, in der Nacht. Und hell. Nachdem die Straßenlaternen tagelang ausgefallen waren, wurden sie pünktlich zum Sichtbarwerden des Kometen Neowise wieder repariert. Und meine Güte, gibt es hier viele davon. Im Garten sorgen sie für helles Licht. Auf der Straße natürlich auch. Auf den Wegen hinaus aus dem Dorf. Bis hinaus auf den Feldweg leuchten sie.

Vom Nachbarort scheinen die Lichter der Industrieanlagen herüber. Scheinwerfer von der Bundesstraße, die nachts so nah zu sein scheint.

Es riecht nach verfaulenden Äpfeln – einige sind auf die Straße gefallen, als diese noch warm war. Und nach Kräutern aus der nahen Gärtnerei. Minze. Melisse. Vielleicht auch Tymian.

Eine Katze streicht vorbei und maunzt anklagend. Wir gehören hier nicht hin, nicht um diese Zeit, in ihrem Revier.

Die Sonnenblumen auf dem Feld neigen die Köpfe und nicken uns im sanften Nachtwind Grüße zu. Tournesol heißen sie im Französischen. In der Nacht scheinen sie unentschlossen, wohin sie ihre fröhlichen Gesichter drehen und wenden sollen. Ein wenig verblüht sind sie schon. Und einsam; das benachbarte Getreide ist längst geerntet. Gelb die Stoppelfelder und die nächtlichen Sonnenblumen.

Immerhin werfen sie kein aufdringliches Licht auf unseren Weg. Wir recken die Hälse, suchen mit einer App und mit dem Fernglas. Da, ist er das? Wir machen Fotos – mit dem Handy aus der Hand. Gut sind sie nicht, aber später sehen wir: Ja, das war er. Während wir so da draußen stehen, sind wir nicht sicher. Enttäuscht? fragt der Lieblingsmensch.

Ich kuschle mich an ihn und stelle fest: Nein. In diesem seltsamen Sommer ist es das Ausschau halten, das mich glücklich macht. Das Suchen. Das gemeinsame Ausharren und Aushalten. Das Wachsein in der Nacht und das Müdesein am Tag.

Natürlich wäre es schön gewesen, den Kometen so zu sehen, wie die Bilder ihn zeigen. Klar, hell und leuchtend. Sicher. Eindeutig. Wir sehen aber nur wage Umrisse. Blasse Andeutungen. Eine unsichere Ahnung. Wir finden nicht das, was wir uns erhofft hatten, aber wir finden etwas. Einen Schatz, der ganz anders ist als erwartet. Weniger glänzend, weniger aufsehenerregend. Aber ganz eindeutig ein Schatz. Ein Schatz des Zusammenseins. Des gemeinsamen Erinnerns. Des schweigenden Einverständnisses. Des Durchhaltens. Des Miteinander-Reden-Könnens. Des Streitens und Versöhnens. Des Tröstens. Des unausgesprochenen Einverständnisses.

Und vielleicht zieht dieser Komet, den wir nur so halb beobachtet haben, dessen Licht sich rar gemacht hat, dann doch einen leuchtenden Schweif hinter sich her. Leuchtende Freude über einen unerwarteten Besuch. Leuchtende Ideen für ein lange schwelendes Problem. Leuchtende Augen, weil wir zusammen sind und gehören.

Luft holen

In dieser Woche hatte ich einige Tage frei und meine Güte, was habe ich diese Zeit zum Luftholen genossen.In anderen Jahren hätten wir versucht, für ein verlängertes Wochenende ans Meer zu fahren. In diesem Jahr blieben wir zu Hause, kämpften mit Unkraut und Schnecken, gönnten uns einen Café auf einer Terasse in der Stadt, genossen es, zusammen zu sein, lagen faul auf dem Sofa, hörten Musik. Also vor allem ich, da der Lieblingsmensch ja die Corona-Zeit genutzt hat, um seine Flötisten-Liebe wiederzubeleben. Was hat er ein Glück, dass meine Flöte aktuell beim Überholen ist und ich ihn daher nicht niederduettieren kann 🙂 Querflöten for the win!

So aber komme ich in den Genuss von barocker Blockflötenmusik und von Diskussionen über die barocke Stimmung des Kammertons, über den Bau von Karottenflöten (ja, sowas gibt es auf Youtube) und erfahre eine Menge über moderne Blockflöten. Was es da alles gibt – spannend.

Der Schmetterlingsflieder blüht und erledigt ganz hervorragend seinen Job – Schmetterlinge anlocken. Die Rosen gehen in die nächste Blüh-Runde (die Heckenrose hat nie aufgehört) und mei, was ist das schön, einfach nur zu schauen und die Sonnenstrahlen zu genießen oder auf den Regen zu lauschen. Nichts tun müssen; okay, okay, Keller aufräumen, Fenster putzen, Sachen aussortieren, Küche grundaufräumen und und und steht alles immer noch auf der to do-Liste, aber wir tun in diesen Tagen so, als gebe es diese Liste nicht. Nichts tun müssen also, ein bisschen rumpusseln, backen und Gebäck essen, nicht kochen, sondern Essen kommen lassen und den Abend mit einem Bierchen ausklingen lassen.

Und zum Wochenende gibt es Schwesternbesuch und Spieleabend – hach, was schön.

 

Empört euch?

Sie war schon vor der Corona-Pandemie weit verbreitet, aber in den letzten Wochen scheint es mir, als sickere sie durch alle Ritzen und Poren: die Empörung.

Ich kann das nachvollziehen. Mein Nervenkostüm ist immer noch dünn und ich rege mich über Dinge auf, denen ich Anfang März noch mit einem Lächeln oder einem Achelszucken begegnen konnte. Oder ich regte mich auf, dann war es raus und wieder gut. Jetzt bin ich da nachtragender. Ich kann das also aus eigener Erfahrung bestätigen: Aus Frust und Genervtsein wächst sie schnell, die Empörung. Verbrauchte Kraft, geänderte Routinen, Einsamkeit, Unsicherheit, Sorgen und Angst sind ein idealer Nährboden für sie. Da reicht ein kleiner Auslöser und zack, bin ich EMPÖRT!!!1!!11!!!!

Wobei, eigentlich bin ich vor allem müde, so müde ob der ständigen Empörungserregung. Eine Zeitung empört sich über Werbung, die nicht dünne Frauen im Bikini, sondern normalgewichtige Menschen mit Kopftuch zeigt. Menschen empören sich über Maskenpflicht, weil – ach, was weiß denn ich. Ein Mann sagt etwas völlig Selbstverständliches über die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das empörte Geschrei klingt in verschiedene Kommentarspalten nach. In der Diskussion um Rassismus bei der Polizei war das Empörungsgeschehen ob einer satirischen Veröffentlichung so groß, dass die eigentliche Diskussion komplett in den Hintergrund trat. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen.

Was bei all dem Getöse untergeht, sind die Menschen in Krankenhäuser, an den Kassen der Supermärkte, in der Pflege und allen anderen Bereichen, für die vor einigen Wochen noch ob ihrer „Systemrelevanz“ geklatscht wurde. Ist das Klima, das sich durch ein paar Wochen weniger Fliegen nicht dauerhaft erholt. Sind Kinder, die nicht wählen und nicht reich sind und daher bei vielen politischen Debatten einfach hintenrunterfallen. Sind all die, die aufgrund von finanziellen Einschränkungen nicht teilhaben können an den Segnungen der Digitalisierung. Auch diese Liste lässt sich leicht fortschreiben.

Früher war ich durchaus der Meinung, dass es Empörung braucht, um Menschen auf Dinge aufmerksam zu machen, um sie, um uns zum Handeln zu bringen, zum Einsatz für andere zu motivieren. Empörung ist ja ein Gefühl und Gefühle sind wichtig, um einen Anstoß zum Helfen, zum Weltverbessern oder auch nur zum Einem-Problem-aus-dem-Weg-Gehen-ohne-zwei-neue-zu-schaffen zu finden. Ich erinnere mich an Telefonate in meiner Familie, wo Menschen sich – durchaus lange und ausgiebig – mit lauter Stimme unterhalten konnten, Empörungen austauschten, in denen sie nicht nur Anlässe für diese Entrüstung, sondern auch Strategien, damit umzugehen, miteinander teilten, daran durchaus auch Spaß hatten und vor allem Kraft schöpften für den Alltag. Eine Empörung war in der Sprache meiner Großeltern noch ein Aufruhr, ein Widerstand. Sich empören und handeln gehörte in dieser Denkweise zusammen. Dazu passt die Wortherkunft: Enboeren, erheben, ist die mittelhochdeutsche Grundlage.

Wie so viele Menschen meiner Generation habe ich Stéphane Hessels Empört euch! gelesen und geschätzt. Ich erinnere mich an eine Rezension – war es in Le Monde oder in Libération? – in der diskutiert wurde, ob Empörung nicht am Ende folgenlos bleibe, weil Indignation nicht ausreiche und als Triebfeder nicht stark genug sei. Als theoretisch abgetan habe ich das damals. Doch heute, wo die Stürme der Entrüstung so schnell heraufzubeschwören sind und oft genug auch da wehen, wo niemand sie gerufen hat, da denke ich mehr und mehr, die Empörung verstellt uns den Blick auf das Wesentliche. Sie bleibt an der Oberfläche. Mehr noch: Sie drängelt sich vor und verdunkelt die Szene. Empörung wird zum Ersatz für das Tun.

Ich habe mich empört – das fühlt sich so an, als hätte ich bereits etwas getan. Empörung ist anstrengend, sie erschöpft. So manches Mal mehr als wirkliches Tun. Und sie fühlt sich dabei gut an, nicht umsonst heißt es ja ‚rechtschaffene Empörung‘. Empörung vermittelt uns das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Verändern tut sie aber nichts.

Bei denen, die sich nicht über Zustände, Missstände empören, sondern über „die anderen“, die nicht ihrer Meinung sind, über die, die eine positivere Haltung haben, die anders aussehen oder irgendwie von der von ihnen selbst festgelegten Norm abweichen, bei denen, die sich über Menschen empören, deren einziger Fehler ist, dass sie anders sind, schlägt die Empörung oft um in Ablehnung, in Verurteilung, in Geschrei und Hass. Worüber ich mich dann wieder empören kann und schon ist der Anlass, der Ursprung, über den es sich nachzudenken lohnt, die Schwierigkeit, für die wir nur gemeinsam Lösungen finden können, wieder in den Hintergrund gerückt.

Empörungswürdige Zustände wahrnehmen, mich berühren und aufwühlen lassen, aber mich nicht empören. Mich von den Vordergründen nicht ablenken lassen, sondern tiefer, weiter, schärfer hinsehen, Handlungsspielräume ausloten und nutzen. Nicht müde werden. Oder zumindest wachsam bleiben, immer wieder die Augen öffnen und das Herz. Immer und immer wieder. Es klingt so einfach, aber es ist eine Sysiphosaufgabe. Wozu auch gehört, sich Sysiphos als glücklichen Menschen vorzustellen – ohne mich zu entrüsten. Repeat…

 

 

Juli, wann ist das denn passiert?

Zwischendurch hatte ich gedacht, dass das mit dem verschobenen Zeitempfinden sich wieder einpendelt. Auf irgendwie sowas wie „normal“, oder wenigstens ein neues Normal. Irgendwas, was wieder eine Orientierung ermöglicht. An manchen Tagen fühlt es sich auch so an. Aber dann ist es plötzlich Juli und ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist.

Der Berg mit Arbeit liegt noch immer auf dem Schreibtisch (mittlerweile sind es wieder zwei, zu Hause und im Büro), er hat sich verändert, aber seine Höhe ist ziemlich gleich geblieben. Eine neue Aufgabe ist mir da zugewachsen und ich wage die ersten Schritte hinein in das Neue, das sich geichzeitig schon vertraut anfühlt. Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit allerorten. Vielleicht ist es diese ständige Doppeldeutigkeit, die dazu führt, dass ich aus der Zeit gefallen bin – oder die Zeit aus mir.

Die Liste der Menschen, die ich gerne mal wieder in den Arm nehmen würde, ist lang und länger, auch wenn ich den einen oder die andere mittlerweile wiedergesehen habe.

Morgen nehme ich erstmals seit einer halben Ewigkeit März an einer Veranstaltung teil – mit deutlich weniger Menschen als urspünglich geplant, mit viel Abstand und Hygieneregeln. Mit mehreren Masken im Gepäck, da ich vermutlich eine oder zwei durchschwitzen werde, weil: Luftfeuchtigkeitsvorhersage. Die Unsicherheit bleibt, vor allem aber Vorfreude. Freude, diesen Festtag mit den beiden Hauptpersonen verbringen zu dürfen. Freude, liebe Menschen wiederzusehen. Bekanntschaften zu vertiefen und andere Menschen kennenzulernen. Dinge, die mir vorher so selbstverständlich vorkamen und die nun als besondere Highlights erscheinen.

Auch neu: Verbundheit mit Menschen per Livestream, während ich selbst nicht am Rechner sondern live vor Ort bin. Nicht das erste Mal, aber das erste Mal unter den Bedingungen einer Pandemie, die dafür sorgt, dass die einzelnen nicht selbst entscheiden können, ob sie dabei sein wollen oder nicht. Und die gleichzeitig dafür sorgt, dass Menschen digital dabei sind, die diese Chance sonst nicht gehabt hätten. Schon wieder ein Fall von Gleichzeitigkeit und Doppeldeutigkeit. Aber vor allem einer von Herzlichkeit und Freude.

Heute ist Freitag und seit dem 20. März ist das der Tag des #freitagsritual.s Was es damit auf sich hat, hat Claudia aufgeschrieben. Und ich stelle Woche für Woche fest, dass diese Weggefährt*innen mir Kraft geben. Und ein Blick ins Bilderalbum mit den freitäglichen Bildern von Wasser und Brot oder Kaffee und Knäcke oder Wasser und Rosen hilft mir dabei, zumindest rückblickend ein wenig Struktur in diesen stetig fließenden Zeitfluss zu bringen. Das Foto vom 13. März zeigt das Meer auf Norderney. Und die Fähre bei der Überfahrt. Windig war es und ganz schön schaukelig. Der Kapitän forderte uns auf, sitzen zu bleiben und uns gut festzuhalten.

Irgendwie fühlt es sich so an, als sei ich noch immer auf hoher See. Und während ich das schreibe, merke ich, dass ich das normalerweise liebe: Am Meer, auf dem Meer zu sein.

Neue Aufgabe also: Ausschau halten nach den Leuchttürmen in dieser unbekannten See. Damit die Riffe und Untiefen, die Strudel und Seeungeheuer uns auch weiterhin nicht verschlingen. Auf eine neue Woche. Ahoi.