Archiv für den Monat: November 2018

Abend und Morgen in der Gaststadt

Am Abend hat der Regen aufgehört und der Nebel hat sich über die Stadt gesenkt. Es ist so dunkel, dass man ihn nicht sehen könnte, hätte die Stadt sich nicht schon in ihr Weihnachtslichtergewand gekleidet. Viele kleine Lämpchen funkeln an Hauswänden und in Bäumen und machen es dem Nebelkönig unmöglich, sein Reich unbemerkt zu vergrößern.

Bei Kerzenschein und Tee sitzen wir in einem oberen Stockwerk und schauen den grauen Schwaden beim Einzug zu. Langsam kriechen sie vorwärts und abwärts. Sie sind nur mit einer kleinen Abordnung gekommen und können nicht die ganze Stadt einhüllen in ihr wolkiges Gewand. Aber für einige Straßen, ein paar Häuserspitzen, Kirchtürme, Baukräne reicht es dann doch. Sind wir nicht hübsch? – lassen sie den Wind ihr Gesäusel weitertragen. Und wie, denke ich im warmen Zimmer mit den vielen Büchern, den einfachen, aber beseelenden Bildern an den Wänden und der so langjährigen und tragenden Freundschaft im Herzen.

Am Morgen haben die Nebelschlieren sich eine Etage höher gelegt und geben den Blick frei auf den Turm der so schönen Bibliothek im Winterzauber. Das Glockenspiel klingt durch die Straßen bis in mein offenes Fenster. Ganz nachtschwarz ist es noch und wären die Lichter der Häuser und der Weihnachtsdekoration nicht, man könnte glauben, der Tag habe uns vergessen. Doch langsam, langsam mischt sich ein wenig Blau in die Schwärze und nach Laudes, Messe und Frühstück ist es grau geworden. Wieder klingt das Glockenspiel in mein Zimmer und an meinen Schreibtisch.

Noch ist es das einzige Geräusch. Doch schon bald folgen ihm eilige Schritte auf dem Kopfsteinplaster, klappernde Türen, aufheulende Motoren, das Scheppern von Baustellengeräuschen aus der Ferne und in der Nähe ein paar schüchterne Vogelstimmen. Mit den Geräuschen kommen auch Gerüche zu mir herein. Nasser Asphalt mischt sich mit dem Holzrauch des Nachbarkamins und mit Kakaoduft.

Zur vollen Stunde gibt es ein wenig mehr Glockenmusik. Ich hole mir noch einen Kaffee, um die letzten Nachtreste auch aus meinem Kopf zu vertreiben. Der Tag kann kommen.

 

Vier Jahre Erinnerung

Vier Jahre lang. Woche für Woche für Woche. Vom 28. Juli 2014 bis zum 11. November 2018 gab es diese Rubrik im Gemeinde-Infoblatt von Kerlouan. „Commémoration du centenaire de la guerre 14-18“.

Vier lange Jahre erinnerte die Gemeinde Woche für Woche an den Krieg, den Verlauf der Frontlinien in der jeweiligen Woche vor 100 Jahren. Beschrieb wichtige politische Entscheidungen, relevante Truppenbewegungen, große und kleine Randnotizen von der Front und dem, was sie für die Menschen in Frankreich, in der Bretagne, im Finistère, in dem Dorf am Ende der Welt bedeuteten. Und sie gedachte der Toten aus Kerlouan. Erinnerte an die jungen und alten Männer, Fischer und Bauern, Handwerker und Arbeiter. An den Mittzwanziger aus der Straße an der Kirche, den Endvierziger, der in der Nähe der Metzgerei gewohnt hatte. An den Sohn der Witwe in der Avenue …, die nun nach Mann und Bruder schon den dritten Verlust zu betrauern hatte.

Sachlich wurde da berichtet. In weniger Sätzen zusammengefasst, was weltpolitisch passierte und wie es die Menschen am Ende der Welt betraf. Fast schon lakonisch stand da, wie der große Krieg in die kleine Welt am Ende des Endes der Welt einbrach. La Der des Ders –  la dernière des dernières (guerres) -, wurde der Krieg später genannt. Der letzte der letzten Kriege sollte es gewesen sein, der weite Teile Frankreichs vernichtete. Dass er nicht der letzte war, dieser Krieg, den die Franzosen aufgrund der Verwüstungen auf ihrem Territorium bis heute die „grande guerre“ nennen, dass da mehr und Schlimmeres bevorstand, das mochte sich damals niemand vorstellen.

Noch heute gibt es in Frankreich Zones rouges, die nicht betreten werden können. Der Krieg, der die Männer aus dem Finistère und aus allen anderen Regionen holte und auf dem Schlachtfeld vernichtete. Etwa 240.000 Männer aus der Bretagne sind gefallen, jeder vierte, der in den Krieg zog – überdurchschnittlich viele (im Durchschnitt starb jeder achte französische Soldat). Viele von ihnen konnten kaum oder kein Französisch, und seien es die Sprachprobleme, oder die Vorurteile oder noch viel komplexere Ursachen, die dafür sorgten, dass es die Fischer, die Bauern, die Handwerker und Arbeiter aus der Bretagne waren, die besonders oft in die ersten, aussichtslosen Reihen und Schützengräben geschickt wurden, es waren viele, die nicht zurückkamen und kaum eine Woche vergeht, in der das kleine Gemeindeblatt nicht vom Sterben eines Sohnes, eines Ehemanns, eines Vaters und Großvaters aus der Kommune zu berichten hat.

Vier lange Jahre stehen die kleinen Meldungen inmitten von Hinweisen zum Umgang mit der asiatischen Hornisse, zu Ausschreibungen von Flurstücken, zur Reparatur von Wasserleitungen, zu Sonnenbrillen und Autoschlüsseln, die im Fundbüro abgegeben wurden. Sie stehen neben den Anzeigen des Traiteur und der verschiedenen Coiffeurs, über den Hinweisen der Sportvereine und der Restos du coeur.

Der Krieg, auch er hat stattgefunden, während das Leben andernorts weiterging. Manchen brachte der Krieg sich auch vor 100 Jahren so in Erinnerung wie uns, wenn wir in den vergangenen Jahren als Touristen einige Wochen in der kleinen Gemeinde verbrachten und freitags das Infoblatt auf der Post mitnahmen, um ein wenig mitzubekommen, was die Menschen um uns herum bewegt (und wann es sich besonders lohnt, nicht selbst zu kochen, sondern beim Traiteur einzukaufen). Man hörte hin und wieder Nachrichten, erfuhr von Gräueln und dem Hin und Her der Front. Doch man lebte weiter.

Anderen rief der Krieg sich ganz anders in Erinnerung. Durch Gewalt und Schlachten, durch Flucht und Vertreibung, durch den Tod geliebter Menschen, durch Verletzung und Verstümmelung, durch …

Vier lange Jahre dauerte der Krieg. Und gab es zum 100. Geburtstag seines Anfangs unzählige Artikel, Buchveröffentlichungen und Veranstaltungen, geht sein Ende deutlich ruhiger vonstatten (natürlich gibt es das große Gedenken in Paris und … – und doch ist es ruhiger.

Dabei lohnt es sich, auch das Ende des Krieges zu betrachten. Innezuhalten und zu sehen, was es bedeutet, wenn die Waffen schweigen.

Clémenceau scheint davon geahnt zu haben, als er in der Stunde der Verkündung des Sieges nicht nur den Gefallenen dankte, sondern auch – im Voraus – den Überlebenden, die nun vor der Mammutaufgabe des Wiederaufbaus standen.

Was geschah nach dem Hissen der Trikolore und dem Läuten der Glocke. Das kleine Bulletin vermerkt:

Lundi 11 novembre : à 2h, du matin, les délégués allemands font savoir au maréchal Foch qu’ils sont à sa disposition. La séance s’ouvre aussitôt. La convention est relue et discutée article par article. A 5h, les signatures sont apposées sans qu’aucune modification importante ait été apportée. Il a été convenu que les hostilités cesseraient à 11h de la même matinée. Plus tard, il arrivera aux allemands de prétendre que seule la menace de révolution intérieure les a obligés à capituler et que leurs troupes ont été « poignardées dans le dos ». Ce ne furent pas les révolutionnaires de l’intérieur qui eurent finalement raison des armées du Reich,
ce fut le courage, l’opiniâtreté des soldats alliés ; ce fut aussi l’esprit de sacrifice des marins chargés d’assurer le blocus ; ce fut enfin le génie militaire du maréchal Foch.
[…]

… Später gaben die Deutschen vor, dass allein die Bedrohung einer Revolution von innen sie gezwungen habe zu kapitulieren und dass ihre Truppen ‚von hinten erdolcht worden seien‘. Doch es waren nicht Revolutionäre aus den eigenen Reihen, die die Armeen des Deutschen Reichs besiegten, es war der Mut, die Beharrlichkeit der alliierten Soldaten; es war auch der Opfergeist der Marinesoldaten, die die Seeblockade aufrecht erhalten haben; es war schließlich das militärische Genie des Marschall Foch.

Und auch das steht da:

L’ivresse légitime de la victoire empêche de distinguer combien cette victoire, toute glorieuse soit-elle eue été chèrement payée, chèrement par la France, chèrement par la civilisation dont la France était le sel.

Die legitime Siegestrunkenheit verdunkelt den Blick darauf, wie viel dieser Sieg, wie ruhmreich er auch gewesen sein mag, wie viel er gekostet hat, wie teuer er bezahlt wurde von Frankreich, von der Zivilisation, deren Salz Frankreich gewesen ist.

Ich habe nicht jede Woche online in die Gemeindemitteilungen geschaut. Aber ab und an habe ich nachgelesen, was geschah vor 100 Jahren. In der Welt, in Frankreich, in dem kleinen Ort am Atlantik, der uns so ans Herz gewachsen ist. Was mich dabei am meisten gefreut hat ist etwas, das nicht in Worten formuliert werden musste: Dass da jemand erzählt hat ohne Ressentiments. Sachlich und doch anteilnehmend. Mit Blick auf die historischen Fakten und die menschlichen Auswirkungen. Dass es möglich ist, dass aus Feinden – „Erbfeinden“ – Menschen werden, die sich in Frieden lassen, in Frieden leben, Freunde werden. Ich habe es gerade in Frankreich oft genug erlebt und es ließ sich auch zwischen den Zeilen der „commémoration“ finden. Dass Menschen, die es nicht schafften, miteinander zu sprechen, sich auf Wahrheiten zu einigen, Fakten anzuerkennen – dass es ihnen gelang, den Hass zu überwinden. Eine kleine Hoffnung. Aber eine Hoffnung.

800 Meter in Pasing

Auf der Straße kommen mir zwei Kinder entgegen gerannt. Atemlos spielen sie fangen. Einer der Jungen versteckt sich hinter mir und kichert dabei so sehr, dass er sich an meinem Bein festhalten muss, um nicht umzufallen. Ich muss lachen, denn dabei kitzelt er mich in der Kniekehle. Zwei junge Männer und zwei junge Frauen kommen den beiden nachgelaufen. „Entschuldigung, Entschuldigung“, rufen sie schon ein paar Meter entfernt. „Aber warum denn“, frage ich. „Ich habe es nicht eilig und freue mich über die fröhlichen Jungs“ lächle ich. „Wir sind so – äh – froh – froh sagt man, nicht?“ – sagt eine der Frauen. Sie trägt ein kunstvoll zum Turban geschlungenes Kopftuch und lächelt ein wenig schüchtern. „Froh“, sage ich, „genau“. „Als Baby hat er immer nur geweint“, sagt einer der Männer. Er tritt heran und nimmt vorsichtig die Hand der Frau. „Krieg, Aleppo“, sagt er. Ich nicke. „Wie schön, dass Sie hier in Sicherheit sind“, sage ich und fast entsteht ein Gespräch, aber die beiden Wirbelwinde finden das Gerede der Erwachsenen langweilig. Längst sind sie weitergerannt und kommen nun mit empörten Gesichtern zurück. „Schneller, schneller“, rufen sie und „fangen, schneller fangen“. Schon düsen sie wieder los, die Erwachsenen im Eilschritt hinterher.

Auf dem Marienplatz haben die Bäumchen in den rot gewandeten Bottichen längst alle Blätter abgeworfen. Im Sommer wirkten sie in ihrer Blätterpracht schon fast wie ausgewachsene Bäume, als ich in ihrem Schatten lesend schöner gewartet habe als am zugigen Bahnhof. Nun stehen die Stühle unter ihnen leer und stumm herum, einige sind so zueinander gedreht, dass man meinen könnte, in Ermangelung von Besuchern plauderten sie nun eben miteinander. Die goldene Marienstatue sieht novemberlich aus. Kein Sonnenstrahl bringt sie heute zum Funkeln, auch die Perlenkette aus Regentropfen, die ihr bei meinem letzten Besuch so gut stand, hat sie nicht angelegt. Still schaut sie auf die Stühle und die novembergrauen Bäumchen hinab.

Auch vor der Eisdiele einige Schritte weiter stehen Stühle, tapfer aufgestellt und mit den sommerfarbenen Auflagen einladend ausgestattet. Mutig hat sich ein Pärchen dort niedergelassen, in dicken Fliesjacken und Schals bis über die Ohren. Der Keller nähert sich ihnen mit einem großen Tablett. „After-Eight-Becher“ ruft er so laut, dass viele Passanten sich nach ihm umdrehen und den beiden mutigen Eisliebhabern anerkennend zunicken.

„Magst du Stollen?“, fragt ein Mann eine Frau an der Straßenverkaufstheke des Bäckers. „Nein, bloß nicht, die Rosinen, das Orangeat und was da sonst noch alles drin ist“. Man sieht, wie sie sich allein beim Gedanken daran schüttelt. „Aber mit Marzipan und Mandeln?“, fragt er schon deutlich weniger enthusiastisch. „Keine Ahnung“, sagt sie und schnaubt empört, als er „einen Mandelstollen bitte“ über die Theke ruft. Als die Verkäuferin den Stollen über die Theke reicht, sieht sie immer noch missgelaunt aus. „Und ein Mohnschnecke“, sagt der Mann und die Sonne geht auf in den Augen der Frau. „Das hast du dir gemerkt?“ Er lächelt zurück. „Ach weißt du was, ich probiere deinen Stollen, wenn wir zu Hause sind“, sagt sie. Mit ineinandergehakten Armen bummeln sie davon.

„Heute auf Gleis 10“ fährt mein Zug ein. Ein ältere Dame tippelt schnellen Schrittes im Gleisabschnitt hin und her, in dem „mein“ Waggon halten soll. Eine andere Dame im gleichen Alter steigt als eine der letzten aus und die beiden fallen sich begeistert um den Hals, halten sich eng umschlungen fest und tun das noch, als ich sitze, eingecheckt habe und nochmal kurz aus dem Fenster sehe.