Archiv für den Monat: Oktober 2015

Links gegen das Schweigen IX

„Also: Macht bitte weiter eure Jobs und vermittelt uns nicht ständig mit Floskeln wie „größte Herausforderung seit …“ oder „Bis an die Grenze der Belastbarkeit …“ oder sonstigem „Ich – hab’-den-Größten-und-auch-die-größte-Krise“ Machogeschwätz eure eigene Überforderung. Keiner von uns in der Nachkriegsgeneration hat jemals eine wirklich große Herausforderung bestanden und keiner von uns ist je an die Grenzen seiner Belastbarkeit gegangen. Außer vielleicht beim Bungee-Jumping. Wir kommen schon klar, macht euch keine Sorgen.
Nicht wir sind es, die größte Herausforderungen zu meistern haben, sondern diejenigen, die zu uns kommen.
Nicht wir haben ein Problem, weil wir in der Turnhalle kein Zirkeltraining machen können, sondern die, die in der Halle leben müssen.
Nicht wir haben irgendeinen Grund zu jammern, sondern alle, die ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde verloren haben.“

Das schreibt Frank Stauss auf Carta. Und auch der Rest des Textes ist sehr lesenswert.

Sascha Lobo schreibt über die gleiche Entwicklung und konstatiert mitten im Herbst einen braunen Frühling in Deutschland. Man möchte ihm entgegenschreien, dass das alles gar nicht so ist. Ist es aber doch. Und genau daher gilt es, immer wieder konsequent den Mund aufzumachen. Und zu helfen. Nicht müde werden.

Dass genau das Gegenteil davon passiert, befürchtet Heribert Prantl in einem Text, den ihr unbedingt ganz lesen solltet:

„Das Elend der Flüchtlinge ist so nahe gerückt in den vergangenen Wochen – und es hat so viele Menschen hierzulande ans Herz gefasst. Es ist aber auch die Sorge groß, dass die Stimmung kippt, dass sich Angst Luft macht in Abwehr und Ausschreitung. Man kann dieses Kippen der Stimmung auch herbeireden, herbeischreiben und herbeisenden; ich glaube, das geschieht gerade.“

Schild vor einem Café in Köln: Heute empfehlen wir Dialoge!

Was mit einem passieren kann, wenn man ernst macht mit dem persönlichen Engagement, beschreibt Lucie im Bericht über ein besonderes Telefonat.

Auch im LandlebenBlog geht es um konkrete Begegnungen mit Flüchtlingen – in der Stadt und mitten „im Wald“.

Anne Schüssler beschreibt, was die Begegnung mit Geflüchteten mit ihr macht, in drei eindrücklichen Begegnungen.

Bei Rayna könnt ihr hören, wie es „Mitten im Nichts“ auf der Balkan-Route aussieht.

Und Nicole beschreibt ein Wiedersehen, das alle bewegt.

Mein eigener Glas-Meeple

In Essen haben wir neulich übrigens nicht nur gespielt, sondern auch Menschen getroffen. Zum Beispiel diese bezaubernde Lady hier:spiel15-gamer-glass-jen-und-ich

Also die Dame zur Rechten. Neben mir (demnach links) seht ihr die wirklich reizende Jenefer Ham, deren Mann Richard „Rahdo“ Ham die großartigen, hilfreichen und kult-verdächtigen Run-through-Videos macht, ohne die der Lieblingsmensch vermutlich nicht zum kompletten Brettspiele-Nerd mutiert wäre. Natürlich gehören wir auch zu den Kickstarter-Backern von Richard – the show must go on 🙂

Doch Jen spielt nicht nur ab und an in den Videos mit, sondern macht auch und vor allem ganz wunderbare Kunst für Spiele-Fans. Glaskunst, um genau zu sein. Und wie ihr auf dem Foto sehen könnt, habe ich in diesem Jahr zugeschlagen und mit meinen eigenen kleinen Glas-Meeple zugelegt. Er eignet sich wunderbar als Runden- oder Siegpunktezähler oder kann einzelne Meeple oder Pöppel im Spiel ersetzen.Glasmeeple mit Kette und Glaspinguin von Jenefer Ham

Ganz praktisch ist der kleine Spielstein an einer Kette befestigt, von der er sich mit einem Handgriff lösen lässt. Ich liiiiebe zuende gedachte Kleinigkeiten.

Natürlich durfte auch ein Startspieler-Marker mit zu uns nach Hause kommen. Wir haben uns für einen der niedlichen Pinguine aus Jens Kollektion entschieden. Sooooooooo viel niedlicher als eine Karte mit einem „S“ oder ähnliche Ideen.Glas-Meeple, Glas-Pinguin und Aufkleber von Rahdo - alles designt von Jenefer Ham

Jen ist nicht nur im Internet unglaublich nett, sondern auch live und in Farbe. Sie ist eine dermaßen herzliche, fröhliche und freundliche Person, dass es einfach eine Freude ist, mit ihr zu plaudern. Falls ihr jetzt auch euren eigenen Meeple oder andere Glas-Spielsteine, Schmuckstücke oder Kunstwerke haben wollt: Hier entlang, bitte.

Jen, thank you very much for being such a nice and lovely person. It was great meeting you at Essen. So happy to have my own glass meeple and the penguin player marker. Looking forward to your next appearance in the videos. And special greeets to the beagles… 😉

Links gegen das Schweigen VIII

Ich war einige Tage offline (nicht nur vom Internet), dann erkältet und nun stelle ich auch mit diesem Abstand fest, dass ich in Punkto Flüchtlinge und der Haltung vieler Menschen zu ihnen aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr rauskomme.

Da werden im Eiltempo neue Gesetz erlassen und ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu kritisieren, so falsch scheint das alles grundsätzlich zu sein. Die Tagesschau hat die wichtigsten Kritikpunkte übersichtlich zusammengefasst.

Wenn man sich etwas ausführlicher mit der Thematik beschäftigt, stellt man fest, dass es nicht nur mir so erscheint, dass diese neue Politik nichts bringt (außer Aktionismus natürlich) sondern dass das wissenschaftlich erwiesen ist. Die Bundespressekonferenz mit den Wissenschaftlern vom „Rat für Migration“ ist zwar schon ein paar Tage alt, dauert 53 Minuten, aber das ist auch heute noch gut investierte Zeit. Schaut euch das an. Dort hört ihr nicht nur, dass die aktuelle Krise absehbar war (und seit wann), sondern erfahrt auch fundierte Argumente gegen die Benennung immer neuer „sicherer Herkunftsländer“. Die Stellungnahme, die in der PK erwähnt wird, findet ihr hier. Auch das Lesen lohnt sich.ein paar verlassene Kinderschuhe am Straßenrand

Umso weniger versteht ich Ideen, immer neue Zäune zu bauen. Und nicht nur Herr Söder hat solche seltsamen Ansichten, Herr de Maizière steht ihm in nichts nach. Ich bin gewiss keine Sozialromantikerin, aber ich verstehe einfach nicht, warum man hier Ängste schürt, anstatt nach Lösungen zu suchen. Ich verstehe nicht, warum man so sehr die Augen verschließt vor offensichtlichen Tatsachen – wie zum Beispiel dem Fakt, dass es in großen Massenunterkünften, in denen es naturgemäß laut ist und wenig Privatsphäre gibt, in denen man kaum etwa tun kann außer Warten – dass es in solchen überbelegten Unterkünften zu Spannungen kommen kann. Und dass das nicht allein an den Flüchtlingen liegt, sondern eben auch daran, dass wir es nicht hinbekommen, die Menschen anders unterzubringen.

Die Forscher in der bereits erwähnten Pressekonferenz erklären übrigens auch, warum sie eine „Willkommensstruktur“ statt einer Willkommenskultur für nötig halten und was getan werden müsste, um die Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe zu entlasten.

Über diese Ehrenamtlichen, „Die, die immer da sind„, schreibt sehr eindrücklich und lesenswert das LandLebenBlog. Dort gibt es auch eine Blogparade zum Thema Fremdsein mit vielen lesenswerten Texten und Perspektiven auf ein Thema, das zurzeit so viele Menschen beschäftigt.

Was es konkret bedeutet und welche menschenverachtenden Folgen es haben kann, dass die Behörden sich zurzeit überlastet fühlen, beschreibt Kathrin am Beispiel eines abgelehnten Familiennachzuges.

Falls ihr sonst nicht viel lest, dann nehmt euch diese beiden etwas grundsätzlicheren Texte vor: Journelle macht sich Gedanken über den Ursprung von ablehnenden Haltungen gegenüber den neuen Mitbürgern:

„Die Forderungen weniger Flüchtlinge ins Land zu lassen, „Anreize“ wie Bargeld zu streichen, schärfere Grenzkontrollen durchzuführen oder Transitzonen einzurichten hat ganz andere Hintergründe. Sie haben nichts mit Zumutbarkeit, eigener Gefahr oder anderen Pflichten zu tun. Es geht um Angst, Missgunst, Gier und Geiz.“

Da geht es aber auch um tiefergehende Fragen zur aktuellen Situation unserer Gesellschaft:

„Wir leben in einer sehr heterogenen Gesellschaft, die – wenn man es positiv ausdrücken will – zumindest versucht, respektvoll mit der Meinungsvielfalt umzugehen. Wenn Neuankömmlinge das sofort zerstören können, dann ist unser freiheitliches-demokratisches Biotop wohl nicht besonders solide aufgestellt.“

Der zweite unbedingt lesenswerte Text steht in der Süddeutschen, stammt von Carolin Emcke und beschäftigt sich mit den Menschen, die zurzeit gebetsmühlenartig „man wird ja wohl noch mal sagen dürfen“ daherplappern:

„Das zweite Missverständnis derjenigen, die mit „man wird ja wohl noch mal sagen dürfen“ operieren, liegt in der impliziten Unterstellung des „dürfen“. Als dürften sie nicht „wohl noch mal sagen“. Als würden ihre Wörter unterdrückt. Als koste es Mut, sich von sozialen Konventionen von Höflichkeit und Gesittung zu entbinden. Als sei es ein Zeichen von Tapferkeit, andere Menschen, andere Überzeugungen oder Lebensweisen herabzuwürdigen. Als gäbe es in dieser zunehmend entgrenzten Mediengesellschaft noch ethische oder ästhetische Tabus, die nicht längst in einer der „Gesprächs-Sendungen“ auf dem Altar der inszenierten Kontroversen geopfert wurden.“

Da gibt es noch mehr Argumente, es lohnt sich, sich diese einzuprägen. Ich fürchte, ich werde sie noch häufiger brauchen können.

Spiel ’15: Spielen (fast) ohne Ende

In diesem Jahr haben wir uns drei Tage bei der Spiel ’15 gegönnt. Wie immer: großartig. Und durch die viele Zeit, die wir in Essen verbracht haben, weniger stressig als in den Vorjahren. Viel Zeit zum Umsehen und Erklären lassen, zum Zuschauen und begeistert sein, zum Online-Bekannte live und in Farbe zu treffen und neue Leute kennen zu lernen. Und natürlich zum Spielen. Ausgiebig spielen.Spiel "...and then we held hands" aufgebaut auf der Spiel '15
Dachten wir bis Samstag Mittag noch, in diesem Jahr hätten wir viele gute, einige sehr gute, aber noch kein absolut begeisterndes Spiel gesehen, wurden wir nur wenige Stunden später eines besseren belehrt. Zwar ist …and then we held hands von Ludicreations kein typisches, großes Strategiespiel. In dieser Kategorie hätte vielleicht am ehesten Grand Hotel Austria von Lookout gefallen können. Da gab es allerdings nur zwei Tische und wir hatten kein Glück oder zu wenig Wartegeduld. Beim Zuschauen bekamen wir allerdings den Eindruck, dass es in voller Runde recht grübellastig sein könnte. Vielleicht hat ja jemand anderes aus unserer Spielerunde zugeschlagen, so dass wir es doch noch testen können.Übergroße Plättchen und Meeple beim Finale der Deutschen Carcassonne-Meisterschaft bei der Spiel '15 in Essen

Natürlich durfte neben den Mini-Erweiterungen mit den schön gezeichneten „echten“ Klöstern und Burgen auch eine weitere große Carcassonne-Erweiterung bei uns einziehen.  Das hat ja fast schon Tradition, schließlich kommt das beste alle Plättchenlegespiele (nein, keine Widerrede erlaubt 🙂 hier regelmäßig in den unterschiedlichsten Varianten auf den Tisch. Und natürlich haben wir auch bei der deutschen Meisterschaft zugesehen und die überdimensionalen Plättchen sowie die taktischen Finessen im Finale bewundert.

Besonders freue ich mich auf die erste Partie OctoDice. Das erste Spiel, das ich bereits als Prototyp spielen durfte. Danke fürs Anfixen Ralf. 🙂

Ansonsten gab es diesmal viele Erweiterungen – kleine und große. Pandemie Ausnahmezustand kommt mit den Sanitäterfreunden bald wieder auf den Tisch, Und mit Roll for the Galaxy Ambition kommen noch eine ganze Menge neue Würfel zum sowieso schon großartigen Würfelspiel dazu. Wie gut, dass wir jetzt auch einen Würfelturm besitzen 🙂

Die Ausbeute (keine Angst, nicht nur für uns, aber wer mit was beschenkt wird, verraten wir natürlich nicht), sah am Ende so aus:Stapel der neu erworbenen Spiele bei der Spiel '15 in Essen

 

Wie ihr sehen könnt, warten da noch einige Eindrücke darauf, aufgeschrieben zu werden. Dranbleiben… 😉

Durch die Wüste: Pastellkamele und Oasen

Morgen geht sie los, die Spiel ’15 in Essen. Juhu. Natürlich muss man sich ordentlich vorbereiten. Mit pastellfarbenen Lasttieren in fernen Landen zum Beispiel. Spielfeld von "Durch die Wüste" mit vielen bunten Kamelfiguren platziert

Stellt euch vor, ihr befehligt eine Truppe wagemutiger Kamelreiter, die Karawanen durch die Wüste führen. Ihr könnt bestimmen, wie viele Kamele zu ihrer Karawane gehören und welchem Reiter ihr zutraut, ein ganzes Gebiet zu erobern, die dortigen Wasserstellen in Besitz zu nehmen. Klingt gut? Dann solltet ihr euch Durch die Wüste mal ansehen. Der Lieblingsmensch hat das Spiel meinen Eltern abgeschwatzt, aber gar nicht mal wegen der niedlichen (leider pastellfarbenen und bei trübem Wetter nicht unbedingt gut voneinander zu unterscheidenden) Kamele, sondern wegen des Autors. Denn das lustige Karawanen-Wüstenrennspiel ist von – Trommelwirbel – Reiner Knizia.

Was quasi gleichbedeutend ist mit: Kann gar nicht schlecht sein. Ist es auch nicht. Doch um es gleich vorweg zu nehmen: Die Meinungen gehen in unserer (erweiterten) Spielrunde doch deutlich auseinander. Von „wundervoll-großartig“ über „macht Spaß“ bis zu „als etwas längerer Absacker ganz nett“ war alles dabei.Rosa Kamelfigur mit blauem Reiter auf dem sandfarbenen Spielplan von "Durch die Wüste"

Zunächst setzt jeder Spieler nach und nach seine Kamele mit Reiter ein. Dazu muss man wissen, dass es sechs unterschiedliche Kamelfarben gibt und jeder zunächst ein Kamel jeder Farbe mit einem Reiter in seiner Spielerfarbe bestücken darf. Die sehen sehr nett aus und die Reiter halten auch das gesamte Spiel über auf den Kamelen. Das macht die gewöhnungsbedürftigen Farben deutlich aushaltbarer.

Dabei ist es wichtig, sich gleich von Beginn an Gedanken über den besten Startplatz für die zu bildende Karawane machen, denn bei dem einen, berittenen Kamel, soll es ja nicht bleiben. Gut sind Startplätze, die weder zu nah am Rand noch zu weit von einer Oase entfernt sind. Zudem sollten die Anführer der Karawanen möglichst nahe an möglichst hochwertigen Wasserstellen stehen und nicht zu nah am gleichfarbigen Konkurrenten der Gegner. Allerdings kann nach einigen Partien auch genau die gegenteilige Strategie zum Erfolg führen, wenn es einem gelingt, die gegnerischen Handelskarawanen klein und von den Wasserstellen fernzuhalten.

Viel zu denken also. Da es jedoch gerade zu Beginn des Spiels immer mehrere gute Optionen gibt, versinkt man nicht so schnell im Grübeln. Das wird mehr, wenn es darum geht, in jeder Folgerunde zwei farbige Kamele auszuwählen und diese der jeweils passenden Karawane hinzuzufügen. Ich kann also beispielsweise zwei gelbe Kamele nehmen und sie zu meinem Reiter auf dem gelben Kamel stellen. Erreiche ich dadurch eine Palme (Zeichen für eine Oase) oder eine Wasserstelle, bekomme ich Punkte. Würde ich dadurch aber ein Feld neben der gelben Karawane eines Gegners belegen, muss ich mir einen anderen Standort aussuchen oder gleich eine andere Karawane ausbauen. Wer es schafft, mit seinen Kamelen ein Gebiet auf dem Spielplan so abzugrenzen, dass kein anderer mehr dort Tierchen aufstellen kann, bekommt für jedes freie Feld im Gebiet weitere Punkte.Detailaufnahme einiger Kamele mir Reiter neben Palmen und Oasenplättchen

Das alles ist ganz unterhaltsam, da langfristige strategische Pläne oft von den Mitspielern durchkreuzt werden, man mit etwas Glück und guter Taktik jedoch trotzdem noch eine ganze Menge Punkte einheimsen kann. Auch ist die Spieldauer mit 30 bis 40 Minuten (bei zwei bis vier Spielern, mit fünfen dauert es vermutlich wegen der Grübelgefahr etwas länger) gut gewählt.

Trotzdem kommt bei mir kein dauerhaftes Glücksgefühl auf, da die Mischung aus Strategie (beim Positionieren der Kamele am Anfang), Taktik (bei den späteren Zügen) und Glück (Oasen und Wasserstellen werden zufällig auf dem Brett verteilt) fast schon zu gut ausgewogen ist. Mit einer Runde aus erfahrenen Spielern bleibt (zu) wenig Spielraum für Überraschungs-Coups.

Durch die bis auf die Farben der Kamele extrem gelungene Gestaltung, die gut formulierte Regel und die leichte Erlernbarkeit ist Durch die Wüste jedoch durchaus ein gelungener Absacker, der so schnell nicht wieder aus unserem Spieleregal verschwinden wird.

Beauvais: Größenwahn, Sternengeschichten und Stützpfeiler

Alles ist machbar. Immer höher, weiter, schneller, größer. Immer besser. Das klingt verlockend, stimmt aber nicht. Ein Ort, an dem einem klar wird, dass Manches eben nicht geht, dass nicht alles machbar ist, so sehr man es auch will und so viel Geld man auch investiert, dass „besser“ nicht immer auch die richtige Alternative ist, ein solcher Ort ist Beauvais.

Denn in Beauvais steht die Kathedrale Saint Pierre, in der genau das bis heute von außen und innen mehr als deutlich sichtbar wird. Kathedrale Saint-Pierre von außen. Da, wo das Kirchenschiff war, ist der Chorraum zugemauert.

Ja genau, Saint Pierre ist keine vollständige Kirche. Denn Saint Pierre ist zusammengekracht. Und das nicht nur einmal. Zwar hat die Kirche bis heute das höchste gotische Gewölbe (über 48 Meter), aber der Preis, den man dafür gezahlt hat, ist eben, dass die Kirche nicht hielt. Irgendwann ging das Geld aus und die Gotik war aus der Mode gekommen und so blieb das alte, kleine Kirchenschiff von „Notre Dame de la basse œuvre“ einfach stehen, der Chorraum der Kathedrale ist das einzige, was noch da steht. Und auch das nur mit großen Anstrengungen, sprich: Stützbalken außen…Pfeiler der Kathedrale von Beauvais von außen - mit vielen Stahlstützen dazwischen

… und natürlich auch innen. Gar nicht mal so klein und gar nicht mal so wenige.Großer Holzstützpfeiler in der Kathedrale von Beauvais, für den sogar der Boden aufgerissen werden musste

Sehr große, hölzerne Stützpfeiler zwischen den Säulen in der Kathedrale von BeauvaisWenn man drinnen steht und die vielen Stützen sieht, kann einen schon ein etwas mulmiges Gefühl beschleichen. Mich jedenfalls, der Lieblingsmensch war da etwas zuversichtlicher.

Bewundert haben wir die astronomische Uhr aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die eine wunderbare Figuren-, Flammen- und Musikparade bietet. Und auch wenn die Erklärung, die es zu den Spielzeiten gibt, als furchtbar kitschiger Dialog zwischen Künstler und neugieriger Besucherin gestaltet ist, erfährt man eine Menge über das Wissen, die Theologie und das Leben der Menschen, die die Reste der Kirche im 19. Jahrhundert nutzten.astronmische Uhr aus den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Kathedrale von Beauvais

Direkt neben der „neuen“ Uhr hängt übrigens ihre mittelalterliche Vorgängerin – auch sehr schön.Mittelalterliche Uhr in der Kathedrale von Beauvais

Wenn man den Blick von den Uhren (und den Stützbalken) abwendet, sieht man, wie das Gesamtgebäude geplant war. Man hat einen Eindruck vom Reichtum an Perspektiven, vom Spiel mit Licht und Farben, die hier entstehen sollten.

Wir haben den Gegensatz zwischen schmalen Säulen und massiven Pfeilern bewundert, über filigrane Details gestaunt, die Baukunst der damaligen Zeit ringt einem mehr ab als nur kognitiven Respekt. Die schiere Höhe, die Ornamente, der Detailreichtum berühren auch das Herz. Kunst eben. Wir stehen da mit offenen Mündern und selbst wenn ich weiß, wie damals gebaut wurde (zumindest kann ich es nachlesen oder nachsehen), schlägt mein Herz ein paar Schläge schneller ob der Schönheit.

Man erfährt in St. Pierre aber auch ganz deutlich, im wahrsten Sinne am eigenen Leib, was passiert, wenn hochfliegende Träume abstürzen. „Ikarus“ sei ein Wort, das Kunsthistoriker in Verbindung mit Beauvais häufig verwenden, ist auf einer Infotafel zu lesen. Die Experten sind sich bis heute uneins, was genau der Grund für die beiden Einstürze (des Kirchengewölbes und des Vierungsturms) war. Aber egal, ob falsche Planung oder Pfusch am Bau zum Fiasko führten, die unvollendete Kathedrale ist ein Zeichen für Machbarkeits- und Größenwahn.  Und ich weiß bis heute nicht, ob ich den Mut und die Kühnheit,  die Phantasie, die Leidenschaft und die Verrücktheit der Bauherren bewundern oder ihre Selbstüberschätzung betrauern soll. Teil des sehr hohen Chorgewölbes der Kathedrale von BeauvaisBögen und Fenster des Kapellenkranzes in St. Pierre de BeauvaisKunstvoll geschnitzte Köpfe am hölzernen Chorgestühl in der Kathedrale on BeauvaisBlick auf den Alterraum und das hohe Gewölbe der Kathedrale in BeauvaisKathedrale und historisches Stadttor in BeauvaisKunstvolle Außenfassafe der Kathedrale in Beauvais