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Yann und die Meerjungfrau

Es war einmal ein junger Fischer, der hieß Yann. Er wohnte gleich um die Ecke, in einem kleinen Häuschen hinter dem Deich. Yann hatte hart gearbeitet und konnte nun endlich ein altes Fischerboot sein eigen nennen. Es war nicht groß, aber er konnte damit gut seinen Lebensunterhalt verdienen. Auch sein Nachbar fuhr oft mit ihm zum Fischen hinaus. Gemeinsam warfen sie die Netze aus, hofften auf reichen Fang und erzählten sich dabei so einiges über ihr Leben und ihre Träume.

Blick in die Bucht, im Hintergrund fährt ein Segelboot an den großen, markanten Felsen vorbei

Wie sie eines Morgens zurück in die Bucht fuhren – die Sonne war gerade aufgegangen und erleuchtete der Strand und die Felsen – da sahen sie ein ungewöhnliches Funkeln. Sie hörten auf zu rudern und ließen sich vorsichtig um die nächste Felsformation herumtreiben, um der Quelle des Funkelns auf die Spur zu kommen.

Je näher sie kamen, desto deutlicher hörten sie ein Plätschern. Nicht so, wie die Wellen es verursachen, wenn sie an den Steinen brechen. Sondern eher so, wie wenn ein großer Fisch mit seiner Flosse schlägt. Ganz behutsam steuerten Yann und sein Nachbar das Boot um die Felsen herum und da sahen sie sie: eine Meerjungfrau.

„Welch ein Wunder“, flüsterte Yann. Denn er wusste genau, dass Meerjungfrauen normalerweise alles dafür tun, dass niemand sie sieht. Schon oft hatte er die Augen offen gehalten, um eine der legendären Damen zu sehen, und so manches Mal hatte er gedacht, einen Schatten eines silberglänzenden Fischschwanzes unter der Wasseroberfläche zu erahnen. Aber bisher hatte er noch nie das Glück gehabt, eine wirkliche Meerjungfrau mit eigenen Augen zu sehen.

Sie hatte ihren Kopf mit den langen blonden Haaren auf einen von den ersten Sonnenstrahlen erwärmten Felsen gelegt, die Augen geschlossen und ließ  ihren Fischschwanz entspannt in der Bucht treiben. „Das ist unsere Chance“, flüsterte Yanns Nachbar. Und bevor die Meerjungfrau wusste, wie ihr geschah, hatte der Fischer sie an ihren langen Haaren gepackt und mit einem großen Schwung ins Boot gezogen.

Entsetzt fing die blonde Schönheit an, mit ihrer Schwanzflosse zu schlagen, aber die beiden jungen Männer hielten sie ganz fest. „Bitte lasst mich frei“, flehte die schöne Meerjungfrau. „Wenn ich zu lange nicht im Wasser bin, muss ich sterben.“ Da bekam Yann Mitleid mit der schönen Fremden und wollte sie wieder freilassen. Sein Nachbar aber wollte nicht nachgeben. „Das ist unsere Chance, reich und berühmt zu werden. Stell dir doch nur mal vor, was die Leute im Dorf für Augen machen, wenn wir dieses Fabelwesen leibhaftig auf den Marktplatz schleppen.“

Da fing die Meerjungfrau an zu weinen. „Bitte, ich will noch nicht sterben. Lasst mich doch frei. Bitte. Es soll euer Schaden nicht sein.“ Doch der Nachbar lachte nur und sagte: „Verstehst du denn nicht, dass keiner uns glaubt, wenn wir dich nicht mitbringen?“ Doch Yann konnte die Tränen der Meerjungfrau nicht länger mitansehen und bot seinem Nachbarn erst sein ganzes Bargeld, dann sein Boot gegen die Freiheit für das Mädchen mit dem Fischschwanz. Als das immer noch nicht reiche, gab er seinem Nachbarn auch sein Haus und sein Grundstück. Und endlich ließ der Nachbar die Meerjungfrau frei. Sie tauchte sofort unter. Doch bevor sie ganz verschwand, überreichte sie Yann eine kleine Muschelflöte.

Der Nachbar, immer noch verärgert, stieß Yann aus dem Boot, das ja nun seins war, und fauchte: „Lass dich hier nie wieder blicken, du Feigling.“ Und so schwamm der unglückliche Jüngling ans Ufer und machte sich auf und davon. Im Hafen von Brest verdingte er sich als Matrose und war schon bald so geachtet, dass man ihm die Verantwortung für ein großes Schiff übertrug. Doch nachdem er einige Monate sorgenfrei zur See gefahren war, kam sein Schiff in einen großen Sturm. Die Mannschaft kämpfte Stunde um Stunde, doch am Ende mussten sie das völlig leck geschlagene Schiff aufgeben. Mit letzter Kraft konnten sich Yann und seine Männer auf eine kleine, unbewohnte Felseninsel retten. Um seine Mannschaft zu trösten und die Wartezeit bis zum Ende des Sturms und ihrer Rettung zu verkürzen, spielte Yann auf seiner Muschelflöte, die er seit dem Tag, an dem er sein Zuhause verloren hatte, immer bei sich trug.

Kaum hatte er die ersten unbeholfenen Töne gespielt, da glitzerte es plötzlich vor ihm im Wasser. Die Meerjungfrau, der er das Leben gerettet hatte, steckte den Kopf aus den Wellen und lächelte ihn schüchtern an: „Du hast mich gerettet. Nun möchte ich dich retten. Sag, was kann ich tun?“ Yann überlegte nicht lange: „Ich fürchte, du kannst uns nicht helfen, denn unser Schiff ist zerborsten und unser gesamter Fang verloren. Wir wären schon froh, wenn wir unser Leben retten und wieder ans Ufer gelangen könnten.“ Die Meerjungfrau lächelte vergnügt: „Lass mich nur machen.“ Sie tauchte davon und nur Minuten später tauchte sie mit einem größeren, moderneren Schiff wieder auf. Der Bauch des Kahns war bis zum Rand gefüllt mit großen Fischen und frischen Hummern. „Keine Sorge, mit diesem Boot kommt ihr sicher durch den Sturm zum Hafen“ flüsterte die Meerjungfrau Yann ins Ohr. Und so geschah es.

Ein Boot mit von Wind, Sand und Sonne braun gefärbten Segeln auf dem WasserIn den kommenden Wochen sah Yann seine Freundin jedes Mal, wenn er mit seinem neuen Boot hinausfuhr. Und immer fing er die meisten Fische. Viele junge Frauen in Brest wollten den erfolgreichen Seemann gerne freien. Doch Yann lehnte jedes Mal ab. Sein Herz hatte er doch schon verschenkt.

An einem sonnigen Frühlingstag, als Yann im Hafen ganz alleine das Deck schrubbte, sprang seine Meerjungfrau zu ihm an Bord. Sie schauten sich lange in die Augen und als Yann den Blick wieder lösen konnte, sah er, dass aus der schillernden Meerjungfrau ein hübsches Mädchen geworden war. Und dann…

Was dann passierte, wollt ihr wissen?

Natürlich haben die beiden geheiratet, mit einem großen Fest und einem Festmahl voller Fische und Flötenmusik. Und sie lebten glücklich, alle Tage ihres Lebens.