Die Tage eilen dahin und verschwinden, bevor ich sie festhalten kann. Als säße irgendwo ein Ungeheuer, das sich von Zeit ernährt und sie einfach so inhaliert, einsaugt, wegmampft. Die Zeit scheint keine gerade Linie mehr zu sein, sondern ein Strudel, der mit immer größerer Geschwindigkeit einen Tag nach dem anderen mit sich reißt. Ich stehe mitten drin und fühle mich gar nicht sturmumtost, doch ehe ich mich versehe, ist schon wieder eine Woche um, sind Tage verschwunden, die doch aber ganz sicher nicht 24 Stunden lang waren. Meine Wetter-App zeigt die gefühlte Temperatur an, die gefühlte Zeit wird nur in meinem Herzen gemessen.
In dieser gefühlten Zeit gibt es Erinnerungsleuchttürme: Ein Spaziergang auf Kindheitspfaden mit einem geliebten Menschen. Eine abenteuerliche Fahrt zu einem von Baustellen umgebenen Bahnhof mit der besten aller Schwestern. Ein Gespräch mit sehr alten und sehr wunderbaren Damen bei Kaffee und Kuchen. Eine junge Frau, die sich von einer schweren OP erholt und unser Lachen am Telefon. Eine technologische Entdeckung und eine gute berufliche Idee. Eine beeindruckende Rede eines mutigen Menschen. Eine Messenger-Nachricht mit einem besonders lieben Gruß. Ein Eichhörnchen, von dem mir am Telefon so lebhaft berichtet wird, dass ich es deutlich vor mir sehen kann (immerhin kenne ich jetzt den Wald, in dem es gesichtet wurde). Ein abendliches Treffen mit Frauen, die so viel mehr sind als Freundinnen. Die ersten bunten Blätter auf dem Feierabendspazierweg und ein neues Lesezeichen, das mich jedes Mal zum Lächeln bringt.
Ein Newsletter, den ich täglich bekomme (und in Phasen mit linearer Zeit auch regelmäßig lese) zählt die Tage seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine. Ich stolpere immer wieder über diese Zahl und kann sie nicht begreifen. Damals sprachen Menschen in wichtigen Positionen davon, dass die Zeit sich wende. Doch über die Menschen, die in einer Zeit, die sich diametral gewendet hat, nicht einfach geradeaus weiterleben können wie immer, darüber sagten sie nichts. Wie geht das mit dem menschlichen wenden, dem umkehren, dem verändern, dem neu denken und planen und mitfühlen, wenn die Zeit und das vertraute Leben sich umkehrt? Ich sehe Umfragen und Sonntagsfragen und bin ratlos.