England leuchtet. Im Nachmittagslicht strahlen die Kreidefelsen der englischen Südküste weiß in der Sonne. Oben auf dem Cap auf der anderen Seite des Ärmelkanals stehen wir und können mit bloßen Augen hinübersehen. Mit dem Fernglas – es ist ein gutes, aber bei weitem kein Profigerät – erkennen wir sogar großeAntennen und Fabrikschornsteine. Fast kommt es uns so vor, als wäre die Insel ganz nah, beinahe in Kirschkernspuckweite, als müsse nur eine Ebbe mit dem richtigen Koeffizienten kommen, um trockenen Fußes hinübergehen zu können. Hier wirkt es fast so, als sei da gar keine Grenze, als gehöre das Nachbarland ganz selbstverständlich dazu.
Aber dann richte ich den Blick in die direkte Umgebung und schon wird klar, dass die optische Täuschung auch eine politische ist – und dass das in dieser Gegend auch nicht neu ist. Festungsanlagen gab es hier schon zu Zeiten Cäsars und vermutlich sogar schon davor. Wahlweise, um sich vor einer Invasion der Briten zu schützen oder um den eigenen Angriff vorzubereiten und durch stabile Nachschublinien zu sichern.
Wir stehen da, wo Ludwig XIV. stand und befahl, ein Fort zu bauen. Wir gehen den Weg, den Napoleon abschritt, als er erstmals das Kreuz der Ehrenlegion verlieh an die Soldaten, die mit und für ihn England erobern sollten. (Was dann abgesagt wurde, weil er sich mit Österreich schlug – Eilmärsche an die Donau, man mag sich das gar nicht vorstellen.) Nur wenige hundert Kilometer weiter erzählt die Tapisserie de Bayeux von der Schlacht um den englischen Thron und dessen Eroberung durch Wilhelm den Eroberer. Und natürlich gibt es überall Zeugnisse aus dem Zweiten Weltkrieg: Bunker, Raketenabschussanlagen, Soldatenfriedhöfe.
Jahrhunderte, Jahrtausende voller Streit und Krieg, Machtstreben und Geldgier. Ungezählte Jahre voller Leid und Gewalt, Unsicherheit und Sorgen für die „normalen“ Menschen diesseits und jenseits des Kanals, Jahrtausende voller Ideologie und dem unbedingten Willen, zu dominieren.
Die vielen mehrsprachigen Schilder, die freundlichen Erinnerungen ans Rechtsfahren für die britischen Autofahrer*innen, die Schilder für den Tunnel und das Fährterminal in Calais zeugen davon, dass all das für Jahre hinter uns lag.
Doch die Zeit der Sicherheit ist vorbei. Unter unserem Balkon sitzen einige ältere Damen und Herren auf einer Bank. Sie unterhalten sich sehr laut – die Hörgeräte kämpfen mit dem Wellenrauschen und so müssen sie fast schreien. Sie erzählen sich von Gott und der Welt, von der Taufe des Enkelkindes, dem neuen Freund der Nachbarin. Und vom Brexit und den Sorgen, die sie sich machen. Das ist wie bei Asterix, nur spinnen die Briten, nicht die Römer sagt der eine. Leider darf man aber nicht hingehen und sie verprügeln, so wie Obelix, seufzt die Sitznachbarin. Ob die hiesigen Fischer überleben, wenn die dortigen sich an keine Regeln mehr halten? Ob geliebte Produkte teurer werden? Ratlos wechseln die Senioren das Thema.
Im Sonnenuntergang färben die weißen Klippen sich orange-rot, dann verschwinden sie in der Dämmerung. Kurz vor der Dunkelheit sieht man vom Balkon unserer Ferienwohnung nur noch die Reste des Fort de l’Heurt, einer Befestigungsanlage, die langsam aber sicher im Meer zerfällt. Wie sehr ich mir wünschte, das Verrotten der Wahrzeichen der Trennung zwischen Kontinent und Insel wäre das letzte Kapitel dieser Geschichte gewesen.