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Geschichten von früher

Am Wochenende haben wir meine Eltern besucht. Neben stundenlangen Spielerunden (ehrlicherweise haben wir vor allem Auf Teufel komm raus gezockt 🙂 ) haben wir auch viel über früher geredet.

Mein Vater ist beispielsweise auf einem Bauernhof in der Eifel aufgewachsen. In Zeiten von Melkrobotern ist es kaum noch vorstellbar, wie in den 50er Jahren die Milch zur Molkerei kam: In Kannen, die erst auf einen Wagen gestellt und dann durch das Dorf zu dem Bauern gefahren wurden, bei dem der LKW der Molkerei Station machte. Der LKW brachte gleichzeitig die Kannen vom Vortag leer wieder mit. Im Laufe des Tages musste jemand wieder zur Milch-Station laufen und die leeren Kannen abholen. Die wurden dann gewaschen und am nächsten Morgen fing der Kreislauf wieder von vorne an.

Bei der Gelegenheit ist mir wieder einmal aufgefallen, wie viel Wissen einfach verschwindet, wenn keiner mehr davon erzählt. Weil niemand danach fragt. Weil keiner denkt, dass es interessant sein könnte. Weil es mit meiner Lebenswirklichkeit nichts mehr zu tun hat. Weil…

Auch wenn sich der Zweck und der Wert solchen Wissens nicht auf den ersten Blick erschließen, finde ich es mehr als schade, wenn es verloren geht. Dieses Wissen wurde ja nicht einfach angehäuft, es wurde gelebt, gefühlt, erfahren, durchlitten. So verstandenes Wissen muss nicht zu etwas nütze sein. Diese Erfahrungen haben einen Wert für sich, sie lassen sich nicht nach Kriterien der Wirtschaftlichkeit einordnen. Das, was meine Eltern, meine Großeltern, Onkel oder Tanten erlebt haben, ist nichts Besonderes. Sie sind weder adelig, noch sind Entdecker weltverändernder Fakten unter meinen Vorfahren.

Was die Menschen, die ich liebe, erlebt haben, ist ganz normaler Alltag. Oft langweilig, manchmal fröhlich, meistens hart. Alltag im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in der Evakuierung und in den Hungerwintern der Nachkriegszeit. Während des Mauerbaus und zu Zeiten, als das Saarland französisch war. Alltag als Polizist, Bergmann, Bäuerin, Mädchen „in Gestellung“. Das ganz normale Leben. Für mich so wertvoll, dass ich es nicht vergessen möchte. Das war sicher nicht das letzte geschichtenreiche Wochenende.

 

Nebel. Oder: Wie Legenden entstehen

Wir sitzen am Strand. Die Sonne scheint warm, nur draußen über dem Ärmelkanal sind ein paar kleine Dunstwolken zu erahnen. Vor uns schaukeln Boote fröhlich auf den Wellen. Ein paar Möwen lassen sich in der Bucht faul auf dem Wasser treiben, und eine Horde Strandläufer steckt eifrig die langen Schnäbel in den Sand.

Dann frischt der Wind auf – Seewind. Und die Nelbelwolken aus der Ferne treiben in Schwaden auf uns zu. Der Wind reißt einzelne Fetzen aus dem Dunst heraus. Grau ziehen sie an uns vorüber, über uns hinweg, durch uns hindurch. Der Mast des Segelbootes vor uns verschwimmt vor unseren Augen, als hätten wir zu viel getrunken. Aber noch immer sitzen wir in der wärmenden Sonne.

Doch ehe wir uns versehen, ist der Nebel ganz da. Breitet sich aus. Umhüllt das Wasser, die Boote, uns. Kriecht erst langsam, dann immer schneller über den Sand, walzt sich die Dünen hinauf, schiebt sich über die Felder. Verschluckt die Häuser, den Wasserturm, zuletzt die Sonne.

cote_des_legendesDie Möwen sind verstummt, die Strandläufer längst weitergeflogen. Nur das Plätschern der Wellen ist zu hören. Ab und zu treibt ein Bug ins Blickfeld, bei der nächsten Windböe ein Mast, der in der Luft schwebt, ein einzelner Möwenflügel, ein Schatten auf dem Wasser. Innerhalb von Sekunden hat sich die gesamte Atmosphäre gewandelt. Und ich ahne, dass die Bezeichnung „côte des légendes“ mehr ist als ein Marketing-Coup der Tourismusbranche.

Plötzlich kann ich sie sehen, die Besatzung der Geisterschiffe, die Feen und Zauberer, Neptun und sein Gefolge. Ich kann sie riechen, ihren algigen Atem, ihre salzigen Gewänder. Und hören – die wassergetränkten Schritte, die lockenden Gesänge, die geflüsterten Versprechungen. Fast warte ich darauf, dass eine Meerjungfrau den Kopf aus dem Wasser streckt und von ihrer großen, verlorenen Liebe singt. Dass tanzende Gespenster ein Neugeborenes unter dem „Kinderfelsen“ ablegen, damit es am Abend von seinen Eltern abgeholt werden kann. Dass der Geist eines zu jung von den Wellen verschlungenen Korsars über das Wasser läuft und mir verrät, wo er seinen geheimnisumwitterten Schatz versteckt hat.

Wer weiß, vielleicht lebt der Mann mit den Karottenhänden, von dem Pierre Jakez Hélias erzählt hat, nicht nur im Pays Bigouden? Flüstern nicht auch hier die Fischschwärme aufgeregt miteinander wie in Un royaume sous la mer von Henri Queffélec? Und ganz sicher leben hinter dem Nebel all die Sirenen, Feen und Druiden aus dem Barzhaz Breizh.

Kopf und Herz voll Fantasie und Geschichten suchen wir uns Schritt für Schritt den Weg über die Dünen nach Hause.

PS (Januar 2014): Ich habe bei Stories und Places übrigens markiert, wo die Nebel wallten.