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Aus der Zeit gefallen – mit Tränen im Auge und Sahne im Herzen

Seinen letzten Kaffee hat mein Vater mit Sahne getrunken. Sein Leben lang trank er Kaffee schwarz, bestellte keinen Cappucino, lächelte nur, wenn seine „drei Frauen“ (meine Mutter, meine Schwester und ich) Milchschaum schlugen. Und dann greift er beherzt nach der Sahne, reißt das kleine Töpfchen auf  und brummelt die Zeilen von Udo Jürgens: „Dass der Herrgott den Weg in den Himmel ihm bahne, aber bitte mit Sahne“ vor sich hin und ich singe mit.

Die Szene ist jetzt eine meiner Erinnerungen. Eine kostbare. Eine Familiengeschichte, die sich zu denen hinzufügt, die ich nur durch ihn kenne. Die sich zugesellt zu Hektor, dem Hund, der von meinem Großvater gelernt hatte, Kühe zu hüten. Derselbe Großvater, der meinen Vater als Kind auf Kühen hat reiten lassen. Diese Erinnerung aus seinen letzten Tagen stellt sich zu vielen anderen, in denen wir gemeinsam gesungen haben (beim Schlauchboot fahren, im Auto auf dem Weg in den Campingurlaub, im Gottesdienst – mein Vater immer knapp daneben, aber mit Inbrunst) und zu anderen, in denen wir gemeinsam gelacht haben. Sie passt zu den Momenten, in denen wir Neues ausprobiert haben und zu denen, in denen er Gedichte und Passagen aus Lieblingsbüchern auswendig aufsagen konnte. Und dann sind da noch so viele andere Momente, Erinnerungen. Manche, die ich sowieso immer schon mit mit trage und andere, die plötzlich wieder auftauchen, beim gemeinsamen Erzählen und Schweigen und Umarmen wieder lebendig werden, aus längst verschollen geglaubten Tiefen auftauchen. Manche lassen sich festhalten, andere sind kaum ganz zu erhaschen.

Nach Wochen der Trauer, der auch räumlichen Gemeinschaft mit anderen, die ihn vermissen, nach Tagen des Weinens und Lachens, des Wachliegens und Organisierens, des Loslassens und Festhaltens fühle ich mich aus der Zeit gefallen. Als wäre ich einmal hinausgepurzelt aus dem Lauf der Zeit und irgendwie damit durcheinandergekommen. Die Gezeitenuhr an der Wand fühlt sich deutlich realer an, sagt mir mehr und wesentlicheres als Kalender und Uhrzeit.

Das liegt sicher an den Umständen, den freien Tagen, den Ortswechseln und Begegnungen. Das liegt aber auch und besonders an den Erinnerungen aus meinen 46 Jahren und den geteilten Erinnerungen weit darüber hinaus, die jetzt so lebendig  sind und die ich lebendig halten will. Sie bringen Vergangenheit und Gegenwart durcheinander, vermischen sie zu einer großen Gleichzeitigkeit und lassen diese, wenn der übliche Einkaufen-Putzen-Arbeiten-Freunde treffen-Alltag sich Raum greift, wieder in viele kleine Einheiten zerfallen, nur um sich in der nächsten Ruhepause zu einer neuen großen Zeitblase zusammensetzen.

„Das ist heute“ heißt es in der Liturgie des Triduums am Gründonnerstag. Seit vielen Jahren mag ich diese kurz gefasste Vergegenwärtigung des Geschehens besonders. Erinnerungen halten Menschen, Gefühle, Geräusche und Musik, Gerüche und Gedanken lebendig oder werden von Gerüchen und Geräuschen oder anderen Auslösern neu zum Leben erweckt. Proust weiß davon ausgiebig zu erzählen. Ich trinke meinen Kaffee zwar immmer noch schwarz, aber wenn es irgendwo Kaffeesahne gibt, werde ich wohl in Zukunft still lächeln, mit einer Träne im Auge und ganz viel Liebe im Herzen. Auf dich, Papa.

Schweres Gepäck

Es ist irgendein Tag, erst kurz nach 10 und es ist schon schwierig. „Das ist kein guter Tag“, sagt die eine. „Kann ja noch werden, der Tag ist ja noch lang“, sage ich. „Man soll den Tag nicht vor dem Abend verdammen“ stellt die dritte fest. Manchmal reicht der Galgenhumor derer, die jemanden auf seinem letzten Weg begleiten, gerade noch so für das Verballhornen Erfinden neuer Sprichwörter.

„Hoffnungstrotz“ habe ich kürzlich irgendwo gelesen und das Wort nicht mehr vergessen. Sicher meint es vor allem „trotzdem hoffen“, aber ich klaue es mir und fülle es mit „dem Leben so viel Hoffnung abtrotzden, wie es geht“. Und ich denke, dass es vielleicht genau darum geht: Gegensätze nicht auflösen wollen, sondern nebeneinander stellen und aushalten. Und wenn es für ein Lächeln nicht mehr reicht, dann eben mit einem trotzigen Gesicht.

Hoffnung und Trotz – sie sind keine Gegensätze, die sich natürlicherweise anziehen. Eigentlich existieren sie an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Hier hat sie aber jemand einfach zusammengeschoben, das Raum-Zeit-Kontinuum so zurechtgebogen, dass die zwei zusammenstehen und es eben trotzdem miteinander aushalten müssen. Keine Liebeshochzeit, aber ein überraschend gut funktionierendes Tandem.

Ich schaue nach, wie KI das Gegensatzpaar ins Französische übersetzt: Troc d’espoir, schlägt Deepl mir vor, Hoffnungs-Tauschhandel oder auch Trousse d’espoir, Hoffnungs-Tasche.

Ich bewundere den Pragmatismus der Technologie. Und so packe ich nun also meinen Koffer und lege Hoffnung hinein. Viel davon. Trotz natürlich auch. Und Liebe. Bergeweise. Wo noch Platz ist, fülle ich mein hoffnungstrotziges Reisegepäck mit Geduld auf. Auch Traurigkeit darf mit. Dankbarkeit auch und Tapferkeit – ungebügelt und ziemlich mitgenommen, aber immerhin. Freundschaft und Hilfsbereitschaft muss ich nicht selber packen, die schieben die wunderbaren Menschen meines Lebens mir durch alle verfügbaren Ritzen und ich bin unendlich dankbar dafür.

Den Tag nicht vor dem Abend verdammen – mal schauen, was Morgen bringt.

Erinnerungen einer starken Frau

Zwei Jahre hatte sie schon im Stall gearbeitet. Der Vater im Krieg vermisst, der Bruder noch ein kleines Kind. Zwei Jahre hatte sie Geld dazu verdient. Nicht viel, aber immerhin genug, damit es mit dem Lohn der Mutter zum Überleben reichte. Nach der Flucht aus Schlesien war ihnen nichts geblieben als die Kraft ihrer Hände. Und dann gab es da diesen Kurs für Jugendliche, die die Schule nicht hatten abschließen können. Und die Empfehlung der Lehrerin, sie solle doch den Realschulabschluss nachholen.

Ob ich das noch kann? Lernen? Ich bin doch schon zwei Jahre weg von der Schule und davor war es auch oft schwierig, im Krieg. Hatte sie gedacht und laut gesagt. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich niemals ein Internat hätte leisten können. Doch die Lehrerin hatte der Mutter und ihr immer wieder Mut gemacht, sich anzumelden in der bayerischen Schule. Doch die Post brachte keine Antwort auf die Anmeldung und so ging sie weiter auf den Bauernhof als Magd. Bis dann im Herbst ein Brief kam, wo sie denn bleibe, die Schule habe längst begonnen.

Der alte Holzkoffer wurde gepackt, mit dem letzten Bargeld eine Fahrkarte gekauft und eine kinderlose Tante versprach, die monatlichen Pensionsgebühren zu übernehmen. Und dann kam sie spät am Abend in der Kleinstadt an, weit weg vom hessischen Dorf, das ihr mittlerweile so etwas wie Heimat geworden war. 17 Jahre war sie, viel älter als die Klassenkameradinnen.

In der ersten Nacht – ich war ja noch nie in einem Schlafsaal – hatten sich die Mädchen schlafend gestellt, als die Leiterin sie in den Raum führte und ihr flüsternd zeigte, welches ihr Bett sei. Kaum war die Tür zu, da ging das Geschnatter los und ich wurde eingeführt in die Eigenheiten des Hauses. Sie bekam noch im hohen Alter Lachfältchen um die Augen, wenn sie sich daran erinnerte.

Am ersten Tag dann eine Lehrerin, die sie vorführte: Buchhaltung sollte sie an der Tafel vorrechnen. Davon hatte sie noch nie etwas gehört. So hart waren die Worte, dass sie weinend auf dem Bett saß. Ich hatte ja alles Geld für die Fahrkarte ausgegeben. Wenn ich nur genug gehabt hätte, wäre ich gleich zurückgefahren, so entmutigt war ich. Aber sie wurde getröstet von den jungen Mädchen – und bei der Lehrerin verteidigt von der Direktorin. Ich sollte dann mit einem Heft zu ihr gehen, am Nachmittag. Und dann hat sie mir stundenlang beigebracht, was ich nicht konnte.

Am Ende machte sie den Abschluss als eine der besten. Und sollte aufs Gymnasium gehen. Doch Latein hatte sie nicht gelernt und hätte in der unteren Mittelstufe wieder anfangen sollen. Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich war ja schon fast großjährig und musste auch Geld verdienen. Zwar wussten sie mittlerweile, dass der Vater überlebt hatte und nach Hause kommen würde, aber für ihren Lebensunterhalt wollte und musste sie selbst sorgen. Und so ging sie zur Lehrerinnenakademie und wurde Volksschullehrerin.

Aber das war ja ein bayerisches Diplom und ich konnte nicht zurück nach Hessen, denn da war das nichts wert. Also bewarb sie sich als Lehrerin „bei den Englischen“, diesem Orden voller Frauen, die ihr imponiert hatten. Als Lehrerinnen ihrer Schule, als Pförtnerin, Näherin, Köchin, Betreuerin im Internat. Und als Mitschülerinnen bei der Lehrerinnenausbildung. Eine kam immer mit so einem alten Motorrad über die Autobahn zur Schule gerutscht, das hat mir imponiert. Eine andere ging in Zivil, in einem schlichten Kostüm und sogar die Männer hörten auf zu reden, wenn sie etwas zu sagen hatte. Die lachten und arbeiteten und beteten und lebten. Hatten ein offenes Ohr und offene Herzen für die Schülerinnen. Glaubten daran, dass die Mädchen mehr konnten als putzen und waschen, dass sie etwas lernen und etwas werden könnten. Das hat mir gefallen, da wollte ich unterrichten – und schauen, ob ich da nicht vielleicht ganz hingehöre.

Aus dem vielleicht wurde ein überzeugtes Ja. Rund 70 Jahre gehörte sie schließlich ganz dorthin. Hat Generationen von Schülerinnen ausgebildet – erst in der Volksschule, nach einer Weiterbildung dann auch in der Mittelschule. Englisch hätte sie gern unterrichtet, das sprach sie gut, mochte die Grammatik und die Literatur. Aber dafür hätte sie zur Ausbildung nach England gehen müssen. Also Deutsch und Musik. Fächer, die den meisten erstmal nicht so gefielen, die sie ihnen mit Leidenschaft zu vermitteln versuchte, mit zusammen singen und diskutieren über Geschichten und Gedichte. Manche der Schülerinnen aus den zahlreichen Jahren schrieben ihr bis zum Ende, andere besuchten sie regelmäßig, erzählten von Klassentreffen, was aus den anderen alles geworden ist. Viele starke Frauen sind darunter. Dass am Ende aus einer schwierigen, verworrenen Situation etwas Gutes geworden ist, das machte sie glücklich.

Und mich, dass sie mir ihre Geschichte einst beim Frühstück erzählte. Ich schrieb sie damals schon auf und teile ihre Erinnerungen nun, da sie bei dem ist, dem ihre größte Sehnsucht galt.

Diese Zeit des Jahres

Es ist wieder die Zeit des Jahres, in der das Siebengebirge mir am Morgen entgegenblaut, wenn ich zur Arbeit aufbreche. Dieses ganz spezielle Februar-Blau vor grau-rosa-orangem Hintergrund der bald aufgehenden Sonne. Auf dem Weg vom Bahnhof ins Büro leuchten mir die Türme von St. Gereon verlässlich ockergelb entgegen und die Zeit, ab der der Posaunenengel über dem Seiteneingang lange Schatten auf das Kirchenschiff wirft, so dass ich sie aus dem Bürofenster der Kollegin sehen kann, beginnt jeden Tag ein paar Minuten später.

Ich sauge diese vertrauten, verlässlichen Schönheiten in mich auf. Auch die Farben der Tulpen auf dem Homeoffice-Schreibtisch und den Geschmack von Käse auf frischem Brot. Dinge von denen ich weiß, dass sie meiner Seele eine zuverlässige Stütze sind, stabile Haltegriffe im allgemeinen und nun auch ganz speziellen Wahnsinn der Welt.

Ich schaue in diesem Internet das Video von Rihannas Halftimeshow nach und freue mich darüber, dass da diese wunderbare, starke Frau die Welt rockt und trotz der allgemeinen Weltlage noch ein Baby bekommen wird. Und ich staune darüber, wie ikonisch einige ihrer Hits auch für mich sind, das war mir Chart-Noob gar nicht so klar. Auch das hilft, den Kopf über Wasser zu halten – manchmal ist das alles, was zählt.

 

 

Was schön war

Neulich bin ich nachts wachgeworden von einem mir unvertrauten Geräusch. Ich war in einer mir fremden Wohnung (der Freund wohnt da noch nicht lange und ich blieb zum ersten Mal über Nacht) und lauschte vorsichtig ins Dunkle, um zu orten, woher das Geräusch wohl komme und ob ich etwas dagegen unternehmen sollte. Ich muss mich dabei bewegt haben, zumindest die Füße, denn das Geräusch verstummte kurz, kam dann näher, kuschelte sich an meinen Hals und da war dann klar, dass es von einer laut schnurrenden Katze kommt und ich auf keinen Fall etwas dagegen unternehmen wollte.

Ein Mensch, den ich sehr, sehr gern hatte, ist verstorben und das passt natürlich überhaupt nicht in diese Rubrik. Aber dass in dem Moment, in dem ich davon erfuhr, jemand in meiner Nähe war, für den ich keine gesellschaftsfähige Fassade aufsetzen musste, dem ich nichts erklären brauchte und der mich einfach so annahm, wie es eben war, das war schön.

Gleich zwei Adventsüberraschungen steckten letzte Woche in unserem Briefkasten, kleine Aufmerksamkeiten und liebe Nachrichten. Nun denke ich also bis Weihnachten jeden Morgen beim ersten Kaffee an die Absenderinnen und darauf freue ich mich schon jetzt.

Das Telefon klingelt mit einer vertrauten Nummer, eine der wenigen, für die ich noch ein Festnetztelefon habe. Wir telefonieren den Akku leer, ganz wie in alten Zeiten und geografische Ferne verblasst gegen Herzensnähe. Was bin ich dankbar für diese Menschin, die den Faden auch in schwierigen Zeiten immer fest- und unsere Freundschaft zusammengehalten hat. Du weißt, wer du bist und es ist so schön, dass es dich gibt.

Auf dem Weg ins Büro in der Stadt macht ein Windstoß, dass ich aufblicke und die Bäume mit überraschend vielen und wunderbar in der Sonne leuchtenden Blättern am Straßenrand bewusst sehe, trotz morgendlicher Müdigkeit und dem Kopf schon halb im ersten Meeting. „Straßenbegleitgold“ schrieb Herr Buddenbohm vor einiger Zeit. Auch das fällt mir ein. Und wie liebenswert dieses Dorf hier in diesem Internet doch ist.

Ich backe Vanillekipferl nach dem Rezept einer der Besten und mit echter Madagaskarvanille, die eine Freundin von einem Nothilfeeinsatz von dort mitgebracht hat. Eine Katastrophe, die es für kaum ein paar Stunden in die öffentliche Wahrnehmung geschafft hatte; eine Hilfe, über die viel zu wenig berichtet wurde. Der Vanilleduft in unserer Küche ruft mir die Bilder wieder ins Gedächtnis – die der Zerstörung und die von denen, die beim Aufräumen und Neuanfangen mit angepackt haben. Bei allem Schweren – das war schön.

Die Weltlage am Boden

Auf dem Domplatte vor dem Kölner Dom sitzen seit ich denken kann Maler, die mit Kreide Bilder auf die Steine zeichnen. Manchmal ganz kunstvoll, Zitate berühmter Gemäle. Meist aber Dinge, die den Tourist*innen das Herz erwärmen sollen, weil sie an zu Hause erinnern. In letzter Zeit sehe ich ständig Flaggen in Herzform. Passant*innen legen Geld auf den Bildern ab und da liegen die meisten Münzen seit Wochen auf der ukrainischen Flagge. Seit einige Zeit auch auf der iranischen. Heute auch auf der amerikanischen und eine Regenbogenflagge ist auch dabei und wird still mit Spenden für den Künstler bedacht.

Es sind hilflose kleine Zeichen – aber eben doch genau das. Zeichen, dass die Menschen, die hier vorbeigehen, kurz stehen bleiben und nach ein paar Münzen kramen, dass diese Menschen nicht einverstanden sind mit dem Wahnsinn der Welt. Und dass sie das tun, was sie eben können – kleine gute Dinge in ihrer Umgebung. Das macht den Wahnsinn an Tagen wie diesen etwas besser auszuhalten.

Das Schlimmste

Im Vierer neben mir in der Regionalbahn sitzt eine Handvoll Jugendlicher. Sie wollen unbedingt cool sein, das sieht und das hört man, „digga“. Sie berichten sich lautstark von den ersten Erfahrungen in der Liebe. Wer da mit wem Händchen gehalten hat, wer wen küssen und wer wem die Hand unters T-Shirt schieben durfte. „Kannste nicht einfach so machen, digga, musste fragen“, erklären sie einem, der ein wenig jünger aussieht und mein Herz wird warm. Wie das denn geht, wenn eine nein sagt, fragt der zurück. „Was machste dann, digga?“ Sie sagen wirklich in jedem Satz Digga, manchmal auch am Anfang und am Ende des gleichen Satzes. Wallah sagen sie auch. Und, ja wirklich, „Digga wallah, digga“.

„Wenn eine nein sagt, dann musste aufhören. Auch wenn du dich schlimm fühlst“, sagt einer und die anderen nicken. „Wenn du abblitzt, furchtbar. Darfste aber nicht zeigen. Ist mir passiert, digga. Die Jasmin hat gesagt, dass sie nicht mit mir gehen will, digga. Digga, das war das Schlimmste“, sagt einer. Es ist kurz still und dann sagt einer der anderen: „War sicher furchtbar, digga, aber schlimste war die Flucht zu Fuß aus Afghanistan, wo sie die Mutter vom X erschossen haben.“

Man klopft ihm kurz auf die Schulter. „Mein Vater ist Kurde, digga, wenn der von früher redet, könnt ich heulen“, sagt einer, bevor sie darüber sprechen, wo sie sich bewerben wollen und dann noch, ob jetzt eigtlich jemand anderes die Jasmin fragen kann, ob sie mit ihm gehen will. „Mir egal, digga“, sagt der, der abgeblitzt ist. Und der andere: „Digga, ich nehm ’ne Frau, die versteht, dass  ich mein erstes Gehalt meiner Mutter geb, digga, weil die hat verdient“. Alle nicken, sie zücken die Handys und zeigen sich Musikvideos als wäre nichts gewesen.

Im Alltag

Ich sitze in der Bahn und fahre zu einer Konferenz. Der Fahrgastbefragersucht anscheinend gezielt nach Menschen, die nicht nach Vielfahrer*innen aussehen. Um Erkenntnisse zu gewinnen, wie man den eigenen Service verbessern könnte, fragt man lieber nicht die Expert*innen. Das ist ja nicht nur bei der Bahn so.

Die Skyline von Frankfurt ist von Nebel umgeben, die Enden der Türme sieht man nicht. Auch das ein Bild für den Zustand der Welt. Das Schwere, Graue, Nach- unten-ziehende fällt mir zuerst ins Auge. Die himmelweisenden Spitzen, die Wegweiser zum Licht, die sehe ich oft genug nicht und muss sie mir dazu denken. „Ich will mir meine Hoffnung nicht kleinreden lassen, aber ich muss zugeben, ich bin pessimistischer als früher“ habe ich mir neulich bei einer anderen Konferenz mitgechrieben. I feel you, Redner auf dem Podium, I feel you.

Das schwarze Herz ist in der Liste meiner meistgenutzten Emojis schon das ganze Jahr viel zu weit vorne. Ich nutze die Fahrt zum Erinnern an Menschen, für die ich früher hier ausgestiegen wäre – um zusammen zu arbeiten, einen Kaffee in der Bahnhofshalle zu trinken, sich wenigstens kurz in den Arm zu nehmen. Und ich denke an andere, die aktuell mit Krankheit ringen. Ich versende den Link zum ASB-Wünschewagen, weil da Menschen sind, die im wahrsten Sinn des Wortes letzte Wünsche haben. An anderen Tagen freue ich mich, dass ich einige der Menschen, die solche Wünsche ehrenamtlich in die Tat umsetzen, Kolleg*innen nennen kann. Heute macht die Tatsache, dass ich so viele potentielle Fahrgäst*innen kenne, mein Herz schwer.

Ein Freund schreibt, dass er am Wochenende bei einem Umzug geholfen und noch Muskelkater hat. Ich richte mein neues Mastodon-Wohnzimmer ein und kriege auch Kater; Online-Umzugs-Seelenkater.

Jemand aus meiner angeliebten Familie schickt einen Link zu eMusik, zu der wir im Sommer ausgelassen getanzt haben. Ich kann die Leichtigkeit dieser Abende noch spüren, die Freude über die wildromantischen Sonnenuntergänge und die Möglichkeit, diese Zeit miteinander zu teilen. Und ich denke an das Kinderbuch von Frederick der Maus, die Sonnenstralen und Farben für den Winter einlagert. Wie ich mir wohl etwas von meinem Sommer-Ich bewahren kann?

Überhaupt: Wie geht das mit dem Erinnerungen bewahren? Eie große Frage nicht nur an diesem geschichtsträchtigen 9. November. Wo waren meine Verwandten 1938? Was taten sie? Wie kann ich das herausfinden, wenn niemand rechtzeitig gefragt hat? Was ist aus der Freude von 1989 geworden? Welche Hoffnungen haben sich erfüllt, welche sind unerfüllt geblieben, welche sind laut gestorben und welche leise? Ich schreibe einer Freundin, die im Osten groß geworden ist. Vielleicht können wir ab und an über solche Fragen reden, den Alltag unterbrechen, neue Perspektiven einüben.

Vor dem Fenster ist es Franken geworden. Mein Sitznachbar telefoniert in passender Mundart. Auch die kleinen Zeichen von Vielfalt sehen und schätzen.

So ein Tag war das heute

Ich verlasse das Haus im Dunkeln. Der Herbst schickt die Nacht vor, es ist gar nicht so früh und doch noch tiefschwarze Nacht. Wobei, so tiefschwarz ist sie gar nicht, der volle Mond und überraschend viele Sterne funkeln mir den Weg zum Bahnhof. Über diesem leuchtet der große Wagen – einen zusätzlichen Waggon stellt er der zu spät heranrollenden Bahn mit dem fehlenden Wagen zwar nicht, doch dank Herbstferien muss ich nicht gruppenkuscheln.

Am großen Umsteigebahnhof suchen Menschen nach leeren Flaschen in Mülleimern. Die Idee, Pfand daneben zu stellen, hat sich leider noch immer nicht durchgesetzt. Ich habe meine kleine Thermoskanne dabei und kann leider kein Pfand abgeben. Auch mit einer Spende kann ich nicht helfen. Ich nehme mir vor, wieder Kleingeld einzustecken. Dass mir nach zweieinhalb Jahren Pandemie zum ersten Mal bewusst auffällt, dass das bargeldlose Bezahlen auch solche Folgen hat, macht mich nachdenklich – bin ich tatsächlich so unaufmerksam?

Am Arbeitsort angekommen habe ich genug Zeit, um den Bus zu nehmen und den letzten Kilometer zu Fuß zu gehen. Nicht, weil ich früher aussteige, sondern weil es keinen ÖPNV bis zu den Kolleg*innen gibt. Die Saboteur*innen, die dafür verantwortlich sind, sitzen vermutlich eher in Amtsstuben und haben andere Motive als die, die am Wochenende den Bahnverkehr lahmgelegt haben. Aber heute beschwere ich mich nicht, sondern gehe frohen Sinnes durch die Sonne, unter leuchtend rot-orange-braun-gelben Bäumen und an strahlend schönen Herbsthecken vorbei.

Wir tagen hybrid – mit zugeschalteten Menschen und anderen in Präsenz. Wir sprechen über konkrete Projekte und große und kleine Herausforderungen der digitalen Transformation. Einige hier kenne ich schon lang, andere sind neu dabei. Es sind gute Gespräche, vertrauensvoll, ehrlich, ohne Visier. Ich stelle fest: Es geht nicht nur mir so, dass ich Halt und Kraft finde im nahen Umfeld, in ermutigenden Erfahrungen mit Neuem und neu gedachtem Altem und mit engagierten Mitmenschen. Auch die anderen berichten davon – und gleichzeitig von einer Ernüchterung und Aussichtslosigkeit im Großen und Ganzen, die uns alle überrascht. Es sind überall Menschen wie die hier versammelten, die in den vergangenen Jahren so oft die Ärmel hochgekrempelt haben und die große Wirklichkeit durch kleine Einsätze in Bewegung brachten. Ob diese Zukunftsskepsis uns wieder verlassen wird?

In der Pause schreibe ich einer Freundin in der Ferne, die ihren ersten Arbeitstag nach langer Pause genießt. Ich freue mich über eine kleine gute Nachricht eines anderen lieben Menschen, buche eine Fahrkarte fürs Wochenende und lasse mir von einem neu geborenen Erdenbürger berichten.

Auf dem Heimweg treibt der Wind mich vor sich her Richtung Bahnhof. Ich bin nicht schnell genug, um den ersten Regentropfen zu entkommen. Er kann es noch, der Herbst.

Der Zug,, den ich zur Rückfahrt nehme, ist eine Alternativlösung, weil die bessere Strecke wegen Bauarbeiten gesperrt ist. Und er ist zu spät – wie immer, quasi. Reservierungen werden nicht angezeigt, die Wagenreihung ist geändert, Menschen rennen mit Kinderwagen übers Gleis, um den richtigen Zugteil zu erwischen. Wie traurig, dass diese wundervolle Art der Fortbewegung in der Vergangenheit so sehr vernachlässigt wurde, dass es nun wirkt, als sei sie kaum noch zu retten. Vom Preis ganz abgesehen – selbst mit der günstigsten Variante kostet die Fahrt mich noch immer deutlich mehr als eine Autofahrt zu den aktuellen Spritpreisen. Der politische Wille hinter solchen Entscheidungen erschließt sich mir nach wie vor nicht. Immerhin funktioniert das Internet leidlich und ich kann diesen Text schreiben. Über die kleinen Dinge in der Nähe freuen, um die Ernüchterung in Schach zu halten …

Der Lieblingsmensch ändert die Pläne fürs Abendessen, so dass sie zu meiner verspäteten Ankunft passen, eine Freundin kündigt ihren Besuch für den Abend an und Carrie Newcomer singt mir von starken Frauen und leisen Tönen ins Ohr uns ins Herz. Ich schreibe eine letzte Mail, mache den Computer aus, wechsle zu Klaviermusik  und zähle die Regentropfen auf der Zugfensterscheibe.