Ich öffne das Fenster zum Lüften und schaue ins morgenkalte Schwarz. Vor ein paar Tagen war es draußen noch orange-gelb-rosa, als ich aufstand. Zum Meditieren setze ich mich vor das große Fenster und lasse mich vom immer heller werdenden Blau umscheinen. Ganz dunkel wie eine Decke ist es. Umfängt mich wie der Schlaf. Das Licht der Straßenlaterne reicht nicht bis zum Fenstersims und so sitze ich still und lasse mich umhüllen, bis das Blau auch in mir Raum nimmt, mich ausfüllt und mit jedem Atemzug hinein und hinausströmt.
Als würde mein Atem die Dunkelheit ein und wieder aussaugen und dabei einen Teil davon verschlucken, wird es langsam und fast unmerklich heller. Ich habe die Augen geschlossen und ahne die Veränderung von tiefem dunkelblau zu blaugrauem meerblau, zu brechende-wellen-grün-blau und schließlich zu nebeldurchzogenem himmelgraublau mehr als dass ich sie sehe.
Als ich aufstehe ist es eindeutig Tag geworden. Ein junger Tag noch, aber eindeutig ein Tag. Auf dem Weg zu Bahnhof spielt die Sonne mit dem Frühnebel Verstecken und verrät dabei ständig ihren Standort, weil sie auf dem Weg hinter die nächste Nebelschwade rote, gelbe, rosafarbene und orange Spuren hinterlässt.
Beim Warten auf die Bahn wird klar, wer das Spiel gewonnen hat und die Sonne färbt die Backsteinfassade der Konservenfabrik mit diesem besonderen Herbstgold, das es nur im Oktober gibt. Fast mag ich nicht einsteigen, doch auch der Blick aus dem Bahnfenster beschenkt mich mit Farben und Licht. Der kleine Schlossteich hat nur wenig Wasser, doch es reicht, um das Sonnengold und die Rot-Gelb-Beige-Braun-Töne der Bäume um den Teich herum glitzernd zu reflektieren.
Im Büro muss ich die Sonne ein wenig ausschließen, damit ich den Bildschirm sehen kann. Früher als noch vor wenigen Wochen ist sie hinter die Fassade des gegenüberliegenden Bürohauses gewandert, so dass nicht mehr Lichtstreifen, sondern sanftes goldenes Leuchten das Büro und die Domspitzen umfängt. Kurz bricht sich das Nachmittagsgold in einem Fenster im Innenhof und zeigt deutlich, dass es verwandt ist mit dem Gold über der Fabrikhalle am Morgen, aber es ist eher eine Cousine als eine Zwillingsschwester und blitzt frech, um die ihm zustehende eigene Bewunderung abzubekommen.
Wie eine Waffel mit Puderzucker ist die Stadt mit Abendlicht überzogen, als ich wieder zum Bahnhof gehe. Ich lasse mir Zeit, nehme nicht die Straßenbahn, sondern bummle durch das rötlicher werdende Licht in Richtung Zug. Unterwegs kommt das Blau zurück und mischt sich langsam und unauffällig unter das Rot und Gold und färbt es zu Rosa um. Je nähe ich den Gleisen komme, desto größer wird das Blau und desto verwunschener werden die rosa-grau-dunkelblauen Farbbänder.
Als ich aussteige, ist die blaue Stunde ganz dunkelblau geworden. Durch das samtene Licht lasse ich mich über einen Umweg über die Felder nach Hause treiben. Die Äste der Bäume verstecken sich immer weiter im Blau, nur das leise Rascheln einzelner fallender Blätter verrät sie noch. Als ich die Tür aufschließe, atme ich wieder schwarze Ruhe ein. Doch nicht lange. Drinnen umfängt mich die Helligkeit der Leselampe und das noch wärmere Licht eines Lächelns.