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Beauvais: Größenwahn, Sternengeschichten und Stützpfeiler

Alles ist machbar. Immer höher, weiter, schneller, größer. Immer besser. Das klingt verlockend, stimmt aber nicht. Ein Ort, an dem einem klar wird, dass Manches eben nicht geht, dass nicht alles machbar ist, so sehr man es auch will und so viel Geld man auch investiert, dass „besser“ nicht immer auch die richtige Alternative ist, ein solcher Ort ist Beauvais.

Denn in Beauvais steht die Kathedrale Saint Pierre, in der genau das bis heute von außen und innen mehr als deutlich sichtbar wird. Kathedrale Saint-Pierre von außen. Da, wo das Kirchenschiff war, ist der Chorraum zugemauert.

Ja genau, Saint Pierre ist keine vollständige Kirche. Denn Saint Pierre ist zusammengekracht. Und das nicht nur einmal. Zwar hat die Kirche bis heute das höchste gotische Gewölbe (über 48 Meter), aber der Preis, den man dafür gezahlt hat, ist eben, dass die Kirche nicht hielt. Irgendwann ging das Geld aus und die Gotik war aus der Mode gekommen und so blieb das alte, kleine Kirchenschiff von „Notre Dame de la basse œuvre“ einfach stehen, der Chorraum der Kathedrale ist das einzige, was noch da steht. Und auch das nur mit großen Anstrengungen, sprich: Stützbalken außen…Pfeiler der Kathedrale von Beauvais von außen - mit vielen Stahlstützen dazwischen

… und natürlich auch innen. Gar nicht mal so klein und gar nicht mal so wenige.Großer Holzstützpfeiler in der Kathedrale von Beauvais, für den sogar der Boden aufgerissen werden musste

Sehr große, hölzerne Stützpfeiler zwischen den Säulen in der Kathedrale von BeauvaisWenn man drinnen steht und die vielen Stützen sieht, kann einen schon ein etwas mulmiges Gefühl beschleichen. Mich jedenfalls, der Lieblingsmensch war da etwas zuversichtlicher.

Bewundert haben wir die astronomische Uhr aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die eine wunderbare Figuren-, Flammen- und Musikparade bietet. Und auch wenn die Erklärung, die es zu den Spielzeiten gibt, als furchtbar kitschiger Dialog zwischen Künstler und neugieriger Besucherin gestaltet ist, erfährt man eine Menge über das Wissen, die Theologie und das Leben der Menschen, die die Reste der Kirche im 19. Jahrhundert nutzten.astronmische Uhr aus den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Kathedrale von Beauvais

Direkt neben der „neuen“ Uhr hängt übrigens ihre mittelalterliche Vorgängerin – auch sehr schön.Mittelalterliche Uhr in der Kathedrale von Beauvais

Wenn man den Blick von den Uhren (und den Stützbalken) abwendet, sieht man, wie das Gesamtgebäude geplant war. Man hat einen Eindruck vom Reichtum an Perspektiven, vom Spiel mit Licht und Farben, die hier entstehen sollten.

Wir haben den Gegensatz zwischen schmalen Säulen und massiven Pfeilern bewundert, über filigrane Details gestaunt, die Baukunst der damaligen Zeit ringt einem mehr ab als nur kognitiven Respekt. Die schiere Höhe, die Ornamente, der Detailreichtum berühren auch das Herz. Kunst eben. Wir stehen da mit offenen Mündern und selbst wenn ich weiß, wie damals gebaut wurde (zumindest kann ich es nachlesen oder nachsehen), schlägt mein Herz ein paar Schläge schneller ob der Schönheit.

Man erfährt in St. Pierre aber auch ganz deutlich, im wahrsten Sinne am eigenen Leib, was passiert, wenn hochfliegende Träume abstürzen. „Ikarus“ sei ein Wort, das Kunsthistoriker in Verbindung mit Beauvais häufig verwenden, ist auf einer Infotafel zu lesen. Die Experten sind sich bis heute uneins, was genau der Grund für die beiden Einstürze (des Kirchengewölbes und des Vierungsturms) war. Aber egal, ob falsche Planung oder Pfusch am Bau zum Fiasko führten, die unvollendete Kathedrale ist ein Zeichen für Machbarkeits- und Größenwahn.  Und ich weiß bis heute nicht, ob ich den Mut und die Kühnheit,  die Phantasie, die Leidenschaft und die Verrücktheit der Bauherren bewundern oder ihre Selbstüberschätzung betrauern soll. Teil des sehr hohen Chorgewölbes der Kathedrale von BeauvaisBögen und Fenster des Kapellenkranzes in St. Pierre de BeauvaisKunstvoll geschnitzte Köpfe am hölzernen Chorgestühl in der Kathedrale on BeauvaisBlick auf den Alterraum und das hohe Gewölbe der Kathedrale in BeauvaisKathedrale und historisches Stadttor in BeauvaisKunstvolle Außenfassafe der Kathedrale in Beauvais

Licht und Schatten: Spiel mit Perspektiven in der Kathedrale von Amiens

Es gibt Tage, da finde ich Kunst beruhigend. Eintauchen in eine andere Dimension des Seins. Daher bekommt ihr heute etwas richtig Schönes. Aus Gründen.

Wir waren ja kürzlich in Amiens. Die ganze Stadt ist klasse. Besonders schön ist aber die Kathedrale. Sie ist eine der größten gothischen Kathedralen überhaupt (Notre Dame de Paris würde zweimal hineinpassen) und gilt als Vorbild für den Kölner Dom. Aber ich will euch hier gar nicht mit Daten und Fakten langweilen. Wenn euch die interessieren, könnt ihr sie zum Beispiel hier nachlesen.Kathedrale von Amiens von außen - Portal und Türme

Rückseite der Kathedrale von Amiens mit Kapellenkranz und Rippenbögen von außenWas mich in der Kathedrale von Amiens besonders beeindruckt hat, ist das Spiel mit Licht und Schatten, mit Weite und Enge, mit großen Linien und kleinen Details. Egal wo man steht, man sieht immer mehr als einen Lichteinfall.Seitenschiff in der Kathedrale von Amiens

An vielen Stellen hat man das Gefühl, die Perspektiven multiplizierten sich. Hinter einem Pfeiler, auf dessen einer Seite die nächste Mauer nicht mehr weit ist, eröffnet sich ein langes Kirchenschiff, in dem sich das Licht an vielen Säulen bricht. Etwas weiter zur anderen Seite sieht man wiederum zwei unterschiedlich lange Linien Richtung Seitenschiff und Kapellenkranz. Und legt man den Kopf in den Nacken kommen gleich noch ein paar Perspektiven dazu.Hohe Gotische Bögen, Fenster und Chorumgang in der Kathedrale von Amiens

Blick durch die gusseiserne und teilweise vergoldete Chorschranke auf das historische Chorgestühl in der Kathedrale von Amiens

Der Lieblingsmensch und ich konnten gar nicht aufhören, herumzugehen, das Licht und die Perspektiven auf uns wirken zu lassen. Dazusitzen und zu bewundern, wie das Licht so gebündelt ist, dass es den Chor- und Altarraum besonders erhellt.Blick durch das Hauptschiff auf den hellen Chorraum der Kathedrale von Amiens

Und neben der Bewunderung für die Architekturkunst, der Begeisterung für den Mut, so ein Gebäude überhaupt zu errichten, nebem dem Stillwerden an einem Ort, an dem unzählige Menschen über die Jahrhunderte hinweg ihre Sorgen, ihre Klagen, ihre Freude und Hoffnungen, ihr Gebet vor Gott getragen haben, neben dem Staunen über die vielen wundervollen Details (wie zum Beispiel die in vielen Metern Höhe quasi die gesamte Kathedrale umlaufende Blumengirlande, die an das direkt nebenan liegende Sumpfgelände der Hortillonages anspielt, die übrigens auch der Grund dafür sind, dass es keine Krypta gibt, da der Boden unterhalb der Kathedrale zu feucht dafür ist) – neben all dem konnte ich nicht anders als denken, dass die vielen Persepktiven, die sich an jedem Standort in der Kathedrale eröffnen, ein Sinnbild für unser Leben sind.Säulen, Pfeiler und Lichtspiele in der Kathedrale von Amiens

Wenn wir unseren Standpunkt verändern, können wir neue Linien, neue Zusammenhänge, neue Details sehen. Wenn wir unsere Blickrichtung ändern, auch mal unbequeme Perspektiven einnehmen, sehen wir neue Zusammenhänge, stellen wir fest, dass unser vorheriger Blick uns nur einen Teil der Wahrheit gezeigt hat. Erst wenn wir uns darauf einlassen, einmal ganz herum zu gehen (innen und außen), bekommen wir einen Eindruck vom Gesamten.

Verstärkt hat sich dieser Eindruck abends. Bei einem „Son et lumières“ wurden die Statuen am Hauptportal mithilfe von Strahlern in leuchtenden Farben angestrahlt. So, wie sie früher einmal ausgesehen haben mögen. Ein wunderschöner Anblick. Aber eben auch eine Erinnerung daran, dass Dinge sich verändern können, dass es unterschiedliche (von der jeweiligen Zeit geprägte) Auffassungen von schön und angemessen, von passend und unpassend, von falsch und richtig geben kann. Und dass hinter manchen Dingen, die auf den ersten Blick schlicht aussehen, so viel mehr stecken kann.

Ihr könnt jetzt also ein wenig über Analogien nachdenken. Oder einfach die (laienhaft festgehaltenen) Eindrücke vom farbigen Abendschauspiel genießen. Oder beides. Ich bin fest davon überzeugt, dass genau das sich lohnt.Die Kathedrale von Amiens in bunten Farben angestrahlt

 

 

Durch Licht bunt eingefärbte Figuren und Statuen an der Kathedrale von Amiens - DetailaufnahmeFarbig angestrahlte Apostelstatuen an der Kathedrale von Amiens