In den letzten Wochen komme ich donnerstags Abends immer an den gleichen Bäumen vorbei. Mitten in Köln. In einer kleinen, eher schmalen Straße mit großen Häusern. Einige schmucke Altbauten, daneben Schnellbausünden aus den 50ern. Nicht wirklich lichtdurchflutet, aber genug Himmel, um hell zu sein. Und am Straßenrand wachsen Bäume.
Der herrlich frühe Frühling hat die ersten schon vor Wochen zum Sprießen gebracht. Jede Woche ein wenig mehr. Erst waren es nur kleine Knospen, dann gab es immer mehr hellgrüne Spitzen, dann kleine Bätter, letzte Woche ging ich zum ersten Mal durch ein Blätterdach.
Nur ein Baum sah aus, als hätte es den Frühlingsbeginn nicht gegeben. Auch Wochen, nachdem seine Nachbarn neue Triebe und Knospen entwickelt hatten, ragte er leer und grau in den Himmel. Alle seine Nachbarn waren mittlerweile erblüht. Nur „mein“ Baum machte keine Anstalten, beim Frühling mitzumachen. Jede Woche schaute ich ihn mir genau an, ob es nicht irgendein Anzeichen von Veränderung gäbe. Aber immer sah ich: nichts.
Ich machte mir so meine Gedanken. Stand der langsame Baum nicht auch für das Leben? Wo oft von mir erwartet wird, Stärke zu zeigen und schnelle Entscheidungen zu treffen. Wo es oft genug darum geht, attraktiv zu sein, zu glänzen, sich zu entwickeln und andere zu begeistern. Trends nicht zu verpassen. Selbstbewusst voranzugehen.Wo ich seltsam beäugt werde, wenn ich nicht das mache, was gerade alle tun.
Und dieser Baum macht da einfach nicht mit. Bekommt er zu wenig Sonne? Ist sein Boden zu trocken, zu feucht, nicht genug Erde, zu wenig Platz für die Wurzeln? Muss ich mir Sorgen machen, dass er vielleicht nicht wieder austreibt? Hat er den Winter nicht überlebt? Oder hat er irgendeine Baumkrankheit oder seltsame Tiere, die seine Rnde und auch ihn auffressen (ich bin keine Expertin auf dem Gebiet, merkt ihr ja). Geht er am Ende gar ein? Oder wird er, weniger poetisch, von der Stadtgärtnerei entsorgt?
Aber ist es überhaupt schlimm, dass er nicht austreibt? Er ist doch auch so schön, mit seinen vielen Ästen, seinem starken Stamm, der rauen, unebenen Rinde. Im Winter habe ich ihn gerade darum gemocht – weil seine Krone so ausladend ist und sein Geäst so fein verzweigt.
Was bedeutet das für mich? Bedeutet es etwas für mich? Vielleicht, dass ich mich frage, ob es immer notwendig ist, mich an den Erwartungen anderer auszurichten. Dass ich meine eigenen Erwartungen immer wieder überprüfe. Auch mal Tempo rausnehme. Abwarte, bis es an der Zeit ist für Entscheidungen, Veränderungen. Sie dann aber auch angehe. Denn auch mein Baum ist nicht einfach unverändert geblieben. Er ist nicht gestorben. Er hat einfach ein wenig länger gebraucht. Vorgestern habe ich die ersten kleinen Knospen gesehen. Wie geht es weiter? Es bleibt spannend. Bei „meinem“ Baum und bei mir.
PS: Neulich habe ich von Anne (vielen Dank nochmal!) Schreiben auf Reisen geschenkt bekommen. Die Verbindung von Beobachtungen beim Spazierengehen mit Gedanken über mein Leben ist von dessen erstem Kapitel inspiriert.