Diese Zeit des Jahres

Es ist wieder die Zeit des Jahres, in der das Siebengebirge mir am Morgen entgegenblaut, wenn ich zur Arbeit aufbreche. Dieses ganz spezielle Februar-Blau vor grau-rosa-orangem Hintergrund der bald aufgehenden Sonne. Auf dem Weg vom Bahnhof ins Büro leuchten mir die Türme von St. Gereon verlässlich ockergelb entgegen und die Zeit, ab der der Posaunenengel über dem Seiteneingang lange Schatten auf das Kirchenschiff wirft, so dass ich sie aus dem Bürofenster der Kollegin sehen kann, beginnt jeden Tag ein paar Minuten später.

Ich sauge diese vertrauten, verlässlichen Schönheiten in mich auf. Auch die Farben der Tulpen auf dem Homeoffice-Schreibtisch und den Geschmack von Käse auf frischem Brot. Dinge von denen ich weiß, dass sie meiner Seele eine zuverlässige Stütze sind, stabile Haltegriffe im allgemeinen und nun auch ganz speziellen Wahnsinn der Welt.

Ich schaue in diesem Internet das Video von Rihannas Halftimeshow nach und freue mich darüber, dass da diese wunderbare, starke Frau die Welt rockt und trotz der allgemeinen Weltlage noch ein Baby bekommen wird. Und ich staune darüber, wie ikonisch einige ihrer Hits auch für mich sind, das war mir Chart-Noob gar nicht so klar. Auch das hilft, den Kopf über Wasser zu halten – manchmal ist das alles, was zählt.

 

 

Was schön war

Neulich bin ich nachts wachgeworden von einem mir unvertrauten Geräusch. Ich war in einer mir fremden Wohnung (der Freund wohnt da noch nicht lange und ich blieb zum ersten Mal über Nacht) und lauschte vorsichtig ins Dunkle, um zu orten, woher das Geräusch wohl komme und ob ich etwas dagegen unternehmen sollte. Ich muss mich dabei bewegt haben, zumindest die Füße, denn das Geräusch verstummte kurz, kam dann näher, kuschelte sich an meinen Hals und da war dann klar, dass es von einer laut schnurrenden Katze kommt und ich auf keinen Fall etwas dagegen unternehmen wollte.

Ein Mensch, den ich sehr, sehr gern hatte, ist verstorben und das passt natürlich überhaupt nicht in diese Rubrik. Aber dass in dem Moment, in dem ich davon erfuhr, jemand in meiner Nähe war, für den ich keine gesellschaftsfähige Fassade aufsetzen musste, dem ich nichts erklären brauchte und der mich einfach so annahm, wie es eben war, das war schön.

Gleich zwei Adventsüberraschungen steckten letzte Woche in unserem Briefkasten, kleine Aufmerksamkeiten und liebe Nachrichten. Nun denke ich also bis Weihnachten jeden Morgen beim ersten Kaffee an die Absenderinnen und darauf freue ich mich schon jetzt.

Das Telefon klingelt mit einer vertrauten Nummer, eine der wenigen, für die ich noch ein Festnetztelefon habe. Wir telefonieren den Akku leer, ganz wie in alten Zeiten und geografische Ferne verblasst gegen Herzensnähe. Was bin ich dankbar für diese Menschin, die den Faden auch in schwierigen Zeiten immer fest- und unsere Freundschaft zusammengehalten hat. Du weißt, wer du bist und es ist so schön, dass es dich gibt.

Auf dem Weg ins Büro in der Stadt macht ein Windstoß, dass ich aufblicke und die Bäume mit überraschend vielen und wunderbar in der Sonne leuchtenden Blättern am Straßenrand bewusst sehe, trotz morgendlicher Müdigkeit und dem Kopf schon halb im ersten Meeting. „Straßenbegleitgold“ schrieb Herr Buddenbohm vor einiger Zeit. Auch das fällt mir ein. Und wie liebenswert dieses Dorf hier in diesem Internet doch ist.

Ich backe Vanillekipferl nach dem Rezept einer der Besten und mit echter Madagaskarvanille, die eine Freundin von einem Nothilfeeinsatz von dort mitgebracht hat. Eine Katastrophe, die es für kaum ein paar Stunden in die öffentliche Wahrnehmung geschafft hatte; eine Hilfe, über die viel zu wenig berichtet wurde. Der Vanilleduft in unserer Küche ruft mir die Bilder wieder ins Gedächtnis – die der Zerstörung und die von denen, die beim Aufräumen und Neuanfangen mit angepackt haben. Bei allem Schweren – das war schön.

Die Weltlage am Boden

Auf dem Domplatte vor dem Kölner Dom sitzen seit ich denken kann Maler, die mit Kreide Bilder auf die Steine zeichnen. Manchmal ganz kunstvoll, Zitate berühmter Gemäle. Meist aber Dinge, die den Tourist*innen das Herz erwärmen sollen, weil sie an zu Hause erinnern. In letzter Zeit sehe ich ständig Flaggen in Herzform. Passant*innen legen Geld auf den Bildern ab und da liegen die meisten Münzen seit Wochen auf der ukrainischen Flagge. Seit einige Zeit auch auf der iranischen. Heute auch auf der amerikanischen und eine Regenbogenflagge ist auch dabei und wird still mit Spenden für den Künstler bedacht.

Es sind hilflose kleine Zeichen – aber eben doch genau das. Zeichen, dass die Menschen, die hier vorbeigehen, kurz stehen bleiben und nach ein paar Münzen kramen, dass diese Menschen nicht einverstanden sind mit dem Wahnsinn der Welt. Und dass sie das tun, was sie eben können – kleine gute Dinge in ihrer Umgebung. Das macht den Wahnsinn an Tagen wie diesen etwas besser auszuhalten.

Das Schlimmste

Im Vierer neben mir in der Regionalbahn sitzt eine Handvoll Jugendlicher. Sie wollen unbedingt cool sein, das sieht und das hört man, „digga“. Sie berichten sich lautstark von den ersten Erfahrungen in der Liebe. Wer da mit wem Händchen gehalten hat, wer wen küssen und wer wem die Hand unters T-Shirt schieben durfte. „Kannste nicht einfach so machen, digga, musste fragen“, erklären sie einem, der ein wenig jünger aussieht und mein Herz wird warm. Wie das denn geht, wenn eine nein sagt, fragt der zurück. „Was machste dann, digga?“ Sie sagen wirklich in jedem Satz Digga, manchmal auch am Anfang und am Ende des gleichen Satzes. Wallah sagen sie auch. Und, ja wirklich, „Digga wallah, digga“.

„Wenn eine nein sagt, dann musste aufhören. Auch wenn du dich schlimm fühlst“, sagt einer und die anderen nicken. „Wenn du abblitzt, furchtbar. Darfste aber nicht zeigen. Ist mir passiert, digga. Die Jasmin hat gesagt, dass sie nicht mit mir gehen will, digga. Digga, das war das Schlimmste“, sagt einer. Es ist kurz still und dann sagt einer der anderen: „War sicher furchtbar, digga, aber schlimste war die Flucht zu Fuß aus Afghanistan, wo sie die Mutter vom X erschossen haben.“

Man klopft ihm kurz auf die Schulter. „Mein Vater ist Kurde, digga, wenn der von früher redet, könnt ich heulen“, sagt einer, bevor sie darüber sprechen, wo sie sich bewerben wollen und dann noch, ob jetzt eigtlich jemand anderes die Jasmin fragen kann, ob sie mit ihm gehen will. „Mir egal, digga“, sagt der, der abgeblitzt ist. Und der andere: „Digga, ich nehm ’ne Frau, die versteht, dass  ich mein erstes Gehalt meiner Mutter geb, digga, weil die hat verdient“. Alle nicken, sie zücken die Handys und zeigen sich Musikvideos als wäre nichts gewesen.

Im Alltag

Ich sitze in der Bahn und fahre zu einer Konferenz. Der Fahrgastbefragersucht anscheinend gezielt nach Menschen, die nicht nach Vielfahrer*innen aussehen. Um Erkenntnisse zu gewinnen, wie man den eigenen Service verbessern könnte, fragt man lieber nicht die Expert*innen. Das ist ja nicht nur bei der Bahn so.

Die Skyline von Frankfurt ist von Nebel umgeben, die Enden der Türme sieht man nicht. Auch das ein Bild für den Zustand der Welt. Das Schwere, Graue, Nach- unten-ziehende fällt mir zuerst ins Auge. Die himmelweisenden Spitzen, die Wegweiser zum Licht, die sehe ich oft genug nicht und muss sie mir dazu denken. „Ich will mir meine Hoffnung nicht kleinreden lassen, aber ich muss zugeben, ich bin pessimistischer als früher“ habe ich mir neulich bei einer anderen Konferenz mitgechrieben. I feel you, Redner auf dem Podium, I feel you.

Das schwarze Herz ist in der Liste meiner meistgenutzten Emojis schon das ganze Jahr viel zu weit vorne. Ich nutze die Fahrt zum Erinnern an Menschen, für die ich früher hier ausgestiegen wäre – um zusammen zu arbeiten, einen Kaffee in der Bahnhofshalle zu trinken, sich wenigstens kurz in den Arm zu nehmen. Und ich denke an andere, die aktuell mit Krankheit ringen. Ich versende den Link zum ASB-Wünschewagen, weil da Menschen sind, die im wahrsten Sinn des Wortes letzte Wünsche haben. An anderen Tagen freue ich mich, dass ich einige der Menschen, die solche Wünsche ehrenamtlich in die Tat umsetzen, Kolleg*innen nennen kann. Heute macht die Tatsache, dass ich so viele potentielle Fahrgäst*innen kenne, mein Herz schwer.

Ein Freund schreibt, dass er am Wochenende bei einem Umzug geholfen und noch Muskelkater hat. Ich richte mein neues Mastodon-Wohnzimmer ein und kriege auch Kater; Online-Umzugs-Seelenkater.

Jemand aus meiner angeliebten Familie schickt einen Link zu eMusik, zu der wir im Sommer ausgelassen getanzt haben. Ich kann die Leichtigkeit dieser Abende noch spüren, die Freude über die wildromantischen Sonnenuntergänge und die Möglichkeit, diese Zeit miteinander zu teilen. Und ich denke an das Kinderbuch von Frederick der Maus, die Sonnenstralen und Farben für den Winter einlagert. Wie ich mir wohl etwas von meinem Sommer-Ich bewahren kann?

Überhaupt: Wie geht das mit dem Erinnerungen bewahren? Eie große Frage nicht nur an diesem geschichtsträchtigen 9. November. Wo waren meine Verwandten 1938? Was taten sie? Wie kann ich das herausfinden, wenn niemand rechtzeitig gefragt hat? Was ist aus der Freude von 1989 geworden? Welche Hoffnungen haben sich erfüllt, welche sind unerfüllt geblieben, welche sind laut gestorben und welche leise? Ich schreibe einer Freundin, die im Osten groß geworden ist. Vielleicht können wir ab und an über solche Fragen reden, den Alltag unterbrechen, neue Perspektiven einüben.

Vor dem Fenster ist es Franken geworden. Mein Sitznachbar telefoniert in passender Mundart. Auch die kleinen Zeichen von Vielfalt sehen und schätzen.

So ein Tag war das heute

Ich verlasse das Haus im Dunkeln. Der Herbst schickt die Nacht vor, es ist gar nicht so früh und doch noch tiefschwarze Nacht. Wobei, so tiefschwarz ist sie gar nicht, der volle Mond und überraschend viele Sterne funkeln mir den Weg zum Bahnhof. Über diesem leuchtet der große Wagen – einen zusätzlichen Waggon stellt er der zu spät heranrollenden Bahn mit dem fehlenden Wagen zwar nicht, doch dank Herbstferien muss ich nicht gruppenkuscheln.

Am großen Umsteigebahnhof suchen Menschen nach leeren Flaschen in Mülleimern. Die Idee, Pfand daneben zu stellen, hat sich leider noch immer nicht durchgesetzt. Ich habe meine kleine Thermoskanne dabei und kann leider kein Pfand abgeben. Auch mit einer Spende kann ich nicht helfen. Ich nehme mir vor, wieder Kleingeld einzustecken. Dass mir nach zweieinhalb Jahren Pandemie zum ersten Mal bewusst auffällt, dass das bargeldlose Bezahlen auch solche Folgen hat, macht mich nachdenklich – bin ich tatsächlich so unaufmerksam?

Am Arbeitsort angekommen habe ich genug Zeit, um den Bus zu nehmen und den letzten Kilometer zu Fuß zu gehen. Nicht, weil ich früher aussteige, sondern weil es keinen ÖPNV bis zu den Kolleg*innen gibt. Die Saboteur*innen, die dafür verantwortlich sind, sitzen vermutlich eher in Amtsstuben und haben andere Motive als die, die am Wochenende den Bahnverkehr lahmgelegt haben. Aber heute beschwere ich mich nicht, sondern gehe frohen Sinnes durch die Sonne, unter leuchtend rot-orange-braun-gelben Bäumen und an strahlend schönen Herbsthecken vorbei.

Wir tagen hybrid – mit zugeschalteten Menschen und anderen in Präsenz. Wir sprechen über konkrete Projekte und große und kleine Herausforderungen der digitalen Transformation. Einige hier kenne ich schon lang, andere sind neu dabei. Es sind gute Gespräche, vertrauensvoll, ehrlich, ohne Visier. Ich stelle fest: Es geht nicht nur mir so, dass ich Halt und Kraft finde im nahen Umfeld, in ermutigenden Erfahrungen mit Neuem und neu gedachtem Altem und mit engagierten Mitmenschen. Auch die anderen berichten davon – und gleichzeitig von einer Ernüchterung und Aussichtslosigkeit im Großen und Ganzen, die uns alle überrascht. Es sind überall Menschen wie die hier versammelten, die in den vergangenen Jahren so oft die Ärmel hochgekrempelt haben und die große Wirklichkeit durch kleine Einsätze in Bewegung brachten. Ob diese Zukunftsskepsis uns wieder verlassen wird?

In der Pause schreibe ich einer Freundin in der Ferne, die ihren ersten Arbeitstag nach langer Pause genießt. Ich freue mich über eine kleine gute Nachricht eines anderen lieben Menschen, buche eine Fahrkarte fürs Wochenende und lasse mir von einem neu geborenen Erdenbürger berichten.

Auf dem Heimweg treibt der Wind mich vor sich her Richtung Bahnhof. Ich bin nicht schnell genug, um den ersten Regentropfen zu entkommen. Er kann es noch, der Herbst.

Der Zug,, den ich zur Rückfahrt nehme, ist eine Alternativlösung, weil die bessere Strecke wegen Bauarbeiten gesperrt ist. Und er ist zu spät – wie immer, quasi. Reservierungen werden nicht angezeigt, die Wagenreihung ist geändert, Menschen rennen mit Kinderwagen übers Gleis, um den richtigen Zugteil zu erwischen. Wie traurig, dass diese wundervolle Art der Fortbewegung in der Vergangenheit so sehr vernachlässigt wurde, dass es nun wirkt, als sei sie kaum noch zu retten. Vom Preis ganz abgesehen – selbst mit der günstigsten Variante kostet die Fahrt mich noch immer deutlich mehr als eine Autofahrt zu den aktuellen Spritpreisen. Der politische Wille hinter solchen Entscheidungen erschließt sich mir nach wie vor nicht. Immerhin funktioniert das Internet leidlich und ich kann diesen Text schreiben. Über die kleinen Dinge in der Nähe freuen, um die Ernüchterung in Schach zu halten …

Der Lieblingsmensch ändert die Pläne fürs Abendessen, so dass sie zu meiner verspäteten Ankunft passen, eine Freundin kündigt ihren Besuch für den Abend an und Carrie Newcomer singt mir von starken Frauen und leisen Tönen ins Ohr uns ins Herz. Ich schreibe eine letzte Mail, mache den Computer aus, wechsle zu Klaviermusik  und zähle die Regentropfen auf der Zugfensterscheibe.

Vom Verschwinden der Zeit

Die Tage eilen dahin und verschwinden, bevor ich sie festhalten kann. Als säße irgendwo ein Ungeheuer, das sich von Zeit ernährt und sie einfach so inhaliert, einsaugt, wegmampft. Die Zeit scheint keine gerade Linie mehr zu sein, sondern ein Strudel, der mit immer größerer Geschwindigkeit einen Tag nach dem anderen mit sich reißt. Ich stehe mitten drin und fühle mich gar nicht sturmumtost, doch ehe ich mich versehe, ist schon wieder eine Woche um, sind Tage verschwunden, die doch aber ganz sicher nicht 24 Stunden lang waren. Meine Wetter-App zeigt die gefühlte Temperatur an, die gefühlte Zeit wird nur in meinem Herzen gemessen.

In dieser gefühlten Zeit gibt es Erinnerungsleuchttürme: Ein Spaziergang auf Kindheitspfaden mit einem geliebten Menschen. Eine abenteuerliche Fahrt zu einem von Baustellen umgebenen Bahnhof mit der besten aller Schwestern. Ein Gespräch mit sehr alten und sehr wunderbaren Damen bei Kaffee und Kuchen. Eine junge Frau, die sich von einer schweren OP erholt und unser Lachen am Telefon. Eine technologische Entdeckung und eine gute berufliche Idee. Eine beeindruckende Rede eines mutigen Menschen. Eine Messenger-Nachricht mit einem besonders lieben Gruß. Ein Eichhörnchen, von dem mir am Telefon so lebhaft berichtet wird, dass ich es deutlich vor mir sehen kann (immerhin kenne ich jetzt den Wald, in dem es gesichtet wurde). Ein abendliches Treffen mit Frauen, die so viel mehr sind als Freundinnen. Die ersten bunten Blätter auf dem Feierabendspazierweg und ein neues Lesezeichen, das mich jedes Mal zum Lächeln bringt.

Ein Newsletter, den ich täglich bekomme (und in Phasen mit linearer Zeit auch regelmäßig lese) zählt die Tage seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine. Ich stolpere immer wieder über diese Zahl und kann sie nicht begreifen. Damals sprachen Menschen in wichtigen Positionen davon, dass die Zeit sich wende. Doch über die Menschen, die in einer Zeit, die sich diametral gewendet hat, nicht einfach geradeaus weiterleben können wie immer, darüber sagten sie nichts. Wie geht das mit dem menschlichen wenden, dem umkehren, dem verändern, dem neu denken und planen und mitfühlen, wenn die Zeit und das vertraute Leben sich umkehrt? Ich sehe Umfragen und Sonntagsfragen und bin ratlos.

Historische Momente

Manchmal weiß man es ja erst später, irgendwann, danach, wenn man zurücksieht oder jemand einen darauf aufmerksam macht, dass etwas, was man erlebt hat, ein historischer Moment war. Ich habe gerade das Privileg, an etwas teilhaben zu dürfen, von dem bereits jetzt klar ist, dass da Geschichte geschrieben wird. Geschicht mit einem ganz großen G. Frauengeschichte. Kirchengeschichte. Und in gewisser Weise auch eine Liebesgeschichte.

Ich teile hier einige Wochen mit Frauen, Ordensfrauen, die nicht den einfachen Weg wählen. Die miteinander und mit dem HERRN ringen um den richtigen Weg. Auch wenn das ein schmerzhafter Weg ist, auf dem einige von ihnen etwas hergeben, aufgeben, hinter sich lassen werden, das ihnen sehr am Herzen liegt. Und auf dem andere sich auf Neues einstellen, sich für Ungewohntes öffnen und Unsicherheiten aushalten werden müssen. Ein Weg, bei dem von vornherein klar ist, dass er eher steil, holprig und schwierig werden wird. Einer, auf dem niemand rosarote Brillen anreicht und Tränen vorprogrammiert sind – auch wenn er mit Freudentränen (vielen davon) beginnt. Auch in solchen Liebesgeschichten gibt es nämlich Liebeskummer. Denn auch wenn sie kein Eheversprechen abgelegt haben, wissen diese Frauen um diese Sache mit den guten und den weniger guten und auch den richtig schlechten Tagen.

Und trotzdem.

Trotzdem ducken sie sich nicht weg, laufen sie nicht davon. Es steht nirgendwo geschrieben, das sie sich dem aussetzen müssen, niemand zwingt sie dazu, ihr „weiter wie bisher“ aufzugeben – denn das „weiter so“ ist ja nicht schlecht, sie würden ja mit etwas Gutem weitermachen, mit vielen kleinen individuellen Einsätzen für Menschen und auch einem umfassenderen Guten. Trotzdem.

Trotzdem tun sie das, was sie als richtig erkannt haben. Ringen um Klarheit und Vertrauen, um Mut und Verständnis. Sie hören einander zu – auch das auf eine Art und Weise, die andernorts nicht selbstverständlich ist. Sie hören mit den Ohren, aber auch mit den Augen und dem Herzen. Sie scheuen den Konflikt nicht, klammern die wunden Punkte nicht aus. Sprechen offen über das, was drückt, über die „Steine im Schuh“, die sie am Vorankommen hindern, die scheuern, die Haut aufreiben, auch die auf der Seele.

Sie singen und tanzen miteinander, ausgelassen und mit ganzem Herzen. Und dann geben sie sich, einzeln und als Gruppe, den Prozess und die Menschen, für die ihre Schritte eine Auswirkung haben werden, in die Hand eines Größeren. Schweigen. Beten. Lassen sich neue Perspektiven öffnen, sich verwandeln, stärken. So werden Entscheidungen möglich, die ich von meiner Position etwas weiter außen erhofft haben mag, von denen ich aber trotzdem bewegt bin ob ihres Tempos, ihrer Klarheit und Entschlossenheit.

Ich bin sehr berührt – nicht nur von den Ergebnissen, sondern auch von dieser Art des ehrlichen Ringens, der Ernsthaftigkeit der Suche und der Fröhlichkeit des Beieinanderseins. Ich schaue auf das Bild Mary Wards, das auf meinem Schreibtisch steht und deren Vorbild diese Schwestern folgen, einer mutigen, tatkräftigen, visionären Frau zu Beginn des 17. Jahrhunderts. „Women in time to come will do much“, war sie schon vor mehr als 400 Jahren überzeugt. Eine dieser Zeiten ist jetzt.

Sommerabend

Es ist kurz vor 9 am Abend und das Thermometer zeigt noch immer über 30 Grad an. Ich sitze an der Würm und schaue aufs Wasser, in dem sich die Blätter und die untergehende Sonne spiegeln. Ein paar halbwüchsige Enten haben sich faul in den Fluss plumsen lassen, als ich an ihnen vorbei lief. Bloß keinen Flügelschlag zu viel machen. Träge und faul die trockene Hitze und die Abendsonne genießen. So ein Moment ist das.

Ein Moment zum Nachdenken und Loslassen, zum Meditieren und Träumen, zum Durchatmen und Zurücklegen und mit geschlossenen Augen den Bienen und anderen Insekten lauschen. Ein Moment zum tief Einatmen der rosenduftschweren Abendluft, die der träge Wind ab und an vorbeiweht. Ein Moment, in dem all die Probleme – die großen der Welt und meine kleinen – keinen Platz haben neben mir am Wasser.

Dabei sind sie nicht weit weg. Nur wenige Meter entfernt hat eine junge Mutter mit ihren Kindern Zuflucht gefunden. Die Beschilderung der Etage, in der mein Gästezimmer liegt, ist jetzt auch ukrainisch. Die Hitze und die Dürre, die nur ein kleines Zeichen dafür sind, dass der Klimawandel sich längst zu einer Klimakatastrophe ausgewachsen hat, ich sehe sie hier an meinem Uferplatz, ich habe sie durch die Zugfenster gesehen, wo statt grüner Wiesen so viele verdortte Felder, not-geerntete Getreidestoppeln und ausgetrocknete Bachläufe den Weg säumten. Eine Autobahn, auf der trotz all der guten Argumente kein Tempolimit gelten soll, ist ebenso wenig fern wie ein Krankenhaus, in dem Pflegekräfte am Rande der Erschöpfung immer mehr fehlendes Personal ausgleichen sollen – demnächst dann am besten auch noch mit positivem Corona-Test. Ich höre Glockenläuten und fühle mit denen, die in der Kirche Heimat hatten und durch den Umgang der Verantwortlichen mit Katastrophen und Krisen und deren Ursachen aus dieser Heimat vertrieben wurden. Von den Opfern ganz zu schweigen. Gar nicht weit ist eine der zahlreichen Schulen, deren Lehrer*innen und Schüler*innen immer nur dann eine Rolle spielen, wenn sie in wohlfeilen Reden instrumentalisiert werden können. Luftfilter haben sie bis heute nicht und auch sonst sind die Lehrer*innen und die Schülervertretung auf sich allein gestellt, wenn sie Lösungen suchen, die das Leben für die Schulgemeinschaft und auch ihre schwächeren Mitglieder lebenswert und lernenswert machen.

Aber jetzt, in diesem Moment, kann ich all das und so vieles andere ausblenden. Mitten im Jetzt sein, nur unterbrochen vom Verjagen der Stechmücken, die mich am Ende des Abends trotzdem aufgefressen haben werden. Ich weiß, dass ich solche Momente brauche, um mich danach wieder der Welt zu stellen und wenigstens an der einen oder anderen Stelle  meinen kleinen Beitrag zu leisten. Ich verstehe aber auch, wie verführerisch es ist, einfach sitzen zu bleiben – ganz konkret und natürlich auch im übertragenen Sinn. Die anderen mal machen zu lassen, irgendwer wird sich schon finden für die Probleme der Welt. Die Augen nur für die Schönheiten und die Vorteile zu öffnen und einfach zulassen, wenn sie Schwierigkeiten wahrnehmen und sich anrühren lassen müssten.

Irgendwann stehe ich auf, suche mir den Weg in der Dämmerung zurück, mache die Türen ganz leise auf und zu, denn nebenan schlafen Kinder, die Krieg erlebt haben (ich sehe die Bilder, lese die Nachrichten, seit mehr als 150 Tagen, und mein Herz kann es noch immer nicht fassen). Ich lasse das Handy aus, schaue mir keine Nachrichten an, lasse mein Buch zugeklappt und für den Moment die Wirklichkeit die Wirklichkeit sein. „Tu Gutes und tue es gut“, zitiert eines meiner liebsten Wandbilder die wunderbare Mary Ward. Morgen wieder.