Das Schlimmste

Im Vierer neben mir in der Regionalbahn sitzt eine Handvoll Jugendlicher. Sie wollen unbedingt cool sein, das sieht und das hört man, „digga“. Sie berichten sich lautstark von den ersten Erfahrungen in der Liebe. Wer da mit wem Händchen gehalten hat, wer wen küssen und wer wem die Hand unters T-Shirt schieben durfte. „Kannste nicht einfach so machen, digga, musste fragen“, erklären sie einem, der ein wenig jünger aussieht und mein Herz wird warm. Wie das denn geht, wenn eine nein sagt, fragt der zurück. „Was machste dann, digga?“ Sie sagen wirklich in jedem Satz Digga, manchmal auch am Anfang und am Ende des gleichen Satzes. Wallah sagen sie auch. Und, ja wirklich, „Digga wallah, digga“.

„Wenn eine nein sagt, dann musste aufhören. Auch wenn du dich schlimm fühlst“, sagt einer und die anderen nicken. „Wenn du abblitzt, furchtbar. Darfste aber nicht zeigen. Ist mir passiert, digga. Die Jasmin hat gesagt, dass sie nicht mit mir gehen will, digga. Digga, das war das Schlimmste“, sagt einer. Es ist kurz still und dann sagt einer der anderen: „War sicher furchtbar, digga, aber schlimste war die Flucht zu Fuß aus Afghanistan, wo sie die Mutter vom X erschossen haben.“

Man klopft ihm kurz auf die Schulter. „Mein Vater ist Kurde, digga, wenn der von früher redet, könnt ich heulen“, sagt einer, bevor sie darüber sprechen, wo sie sich bewerben wollen und dann noch, ob jetzt eigtlich jemand anderes die Jasmin fragen kann, ob sie mit ihm gehen will. „Mir egal, digga“, sagt der, der abgeblitzt ist. Und der andere: „Digga, ich nehm ’ne Frau, die versteht, dass  ich mein erstes Gehalt meiner Mutter geb, digga, weil die hat verdient“. Alle nicken, sie zücken die Handys und zeigen sich Musikvideos als wäre nichts gewesen.

Im Alltag

Ich sitze in der Bahn und fahre zu einer Konferenz. Der Fahrgastbefragersucht anscheinend gezielt nach Menschen, die nicht nach Vielfahrer*innen aussehen. Um Erkenntnisse zu gewinnen, wie man den eigenen Service verbessern könnte, fragt man lieber nicht die Expert*innen. Das ist ja nicht nur bei der Bahn so.

Die Skyline von Frankfurt ist von Nebel umgeben, die Enden der Türme sieht man nicht. Auch das ein Bild für den Zustand der Welt. Das Schwere, Graue, Nach- unten-ziehende fällt mir zuerst ins Auge. Die himmelweisenden Spitzen, die Wegweiser zum Licht, die sehe ich oft genug nicht und muss sie mir dazu denken. „Ich will mir meine Hoffnung nicht kleinreden lassen, aber ich muss zugeben, ich bin pessimistischer als früher“ habe ich mir neulich bei einer anderen Konferenz mitgechrieben. I feel you, Redner auf dem Podium, I feel you.

Das schwarze Herz ist in der Liste meiner meistgenutzten Emojis schon das ganze Jahr viel zu weit vorne. Ich nutze die Fahrt zum Erinnern an Menschen, für die ich früher hier ausgestiegen wäre – um zusammen zu arbeiten, einen Kaffee in der Bahnhofshalle zu trinken, sich wenigstens kurz in den Arm zu nehmen. Und ich denke an andere, die aktuell mit Krankheit ringen. Ich versende den Link zum ASB-Wünschewagen, weil da Menschen sind, die im wahrsten Sinn des Wortes letzte Wünsche haben. An anderen Tagen freue ich mich, dass ich einige der Menschen, die solche Wünsche ehrenamtlich in die Tat umsetzen, Kolleg*innen nennen kann. Heute macht die Tatsache, dass ich so viele potentielle Fahrgäst*innen kenne, mein Herz schwer.

Ein Freund schreibt, dass er am Wochenende bei einem Umzug geholfen und noch Muskelkater hat. Ich richte mein neues Mastodon-Wohnzimmer ein und kriege auch Kater; Online-Umzugs-Seelenkater.

Jemand aus meiner angeliebten Familie schickt einen Link zu eMusik, zu der wir im Sommer ausgelassen getanzt haben. Ich kann die Leichtigkeit dieser Abende noch spüren, die Freude über die wildromantischen Sonnenuntergänge und die Möglichkeit, diese Zeit miteinander zu teilen. Und ich denke an das Kinderbuch von Frederick der Maus, die Sonnenstralen und Farben für den Winter einlagert. Wie ich mir wohl etwas von meinem Sommer-Ich bewahren kann?

Überhaupt: Wie geht das mit dem Erinnerungen bewahren? Eie große Frage nicht nur an diesem geschichtsträchtigen 9. November. Wo waren meine Verwandten 1938? Was taten sie? Wie kann ich das herausfinden, wenn niemand rechtzeitig gefragt hat? Was ist aus der Freude von 1989 geworden? Welche Hoffnungen haben sich erfüllt, welche sind unerfüllt geblieben, welche sind laut gestorben und welche leise? Ich schreibe einer Freundin, die im Osten groß geworden ist. Vielleicht können wir ab und an über solche Fragen reden, den Alltag unterbrechen, neue Perspektiven einüben.

Vor dem Fenster ist es Franken geworden. Mein Sitznachbar telefoniert in passender Mundart. Auch die kleinen Zeichen von Vielfalt sehen und schätzen.

So ein Tag war das heute

Ich verlasse das Haus im Dunkeln. Der Herbst schickt die Nacht vor, es ist gar nicht so früh und doch noch tiefschwarze Nacht. Wobei, so tiefschwarz ist sie gar nicht, der volle Mond und überraschend viele Sterne funkeln mir den Weg zum Bahnhof. Über diesem leuchtet der große Wagen – einen zusätzlichen Waggon stellt er der zu spät heranrollenden Bahn mit dem fehlenden Wagen zwar nicht, doch dank Herbstferien muss ich nicht gruppenkuscheln.

Am großen Umsteigebahnhof suchen Menschen nach leeren Flaschen in Mülleimern. Die Idee, Pfand daneben zu stellen, hat sich leider noch immer nicht durchgesetzt. Ich habe meine kleine Thermoskanne dabei und kann leider kein Pfand abgeben. Auch mit einer Spende kann ich nicht helfen. Ich nehme mir vor, wieder Kleingeld einzustecken. Dass mir nach zweieinhalb Jahren Pandemie zum ersten Mal bewusst auffällt, dass das bargeldlose Bezahlen auch solche Folgen hat, macht mich nachdenklich – bin ich tatsächlich so unaufmerksam?

Am Arbeitsort angekommen habe ich genug Zeit, um den Bus zu nehmen und den letzten Kilometer zu Fuß zu gehen. Nicht, weil ich früher aussteige, sondern weil es keinen ÖPNV bis zu den Kolleg*innen gibt. Die Saboteur*innen, die dafür verantwortlich sind, sitzen vermutlich eher in Amtsstuben und haben andere Motive als die, die am Wochenende den Bahnverkehr lahmgelegt haben. Aber heute beschwere ich mich nicht, sondern gehe frohen Sinnes durch die Sonne, unter leuchtend rot-orange-braun-gelben Bäumen und an strahlend schönen Herbsthecken vorbei.

Wir tagen hybrid – mit zugeschalteten Menschen und anderen in Präsenz. Wir sprechen über konkrete Projekte und große und kleine Herausforderungen der digitalen Transformation. Einige hier kenne ich schon lang, andere sind neu dabei. Es sind gute Gespräche, vertrauensvoll, ehrlich, ohne Visier. Ich stelle fest: Es geht nicht nur mir so, dass ich Halt und Kraft finde im nahen Umfeld, in ermutigenden Erfahrungen mit Neuem und neu gedachtem Altem und mit engagierten Mitmenschen. Auch die anderen berichten davon – und gleichzeitig von einer Ernüchterung und Aussichtslosigkeit im Großen und Ganzen, die uns alle überrascht. Es sind überall Menschen wie die hier versammelten, die in den vergangenen Jahren so oft die Ärmel hochgekrempelt haben und die große Wirklichkeit durch kleine Einsätze in Bewegung brachten. Ob diese Zukunftsskepsis uns wieder verlassen wird?

In der Pause schreibe ich einer Freundin in der Ferne, die ihren ersten Arbeitstag nach langer Pause genießt. Ich freue mich über eine kleine gute Nachricht eines anderen lieben Menschen, buche eine Fahrkarte fürs Wochenende und lasse mir von einem neu geborenen Erdenbürger berichten.

Auf dem Heimweg treibt der Wind mich vor sich her Richtung Bahnhof. Ich bin nicht schnell genug, um den ersten Regentropfen zu entkommen. Er kann es noch, der Herbst.

Der Zug,, den ich zur Rückfahrt nehme, ist eine Alternativlösung, weil die bessere Strecke wegen Bauarbeiten gesperrt ist. Und er ist zu spät – wie immer, quasi. Reservierungen werden nicht angezeigt, die Wagenreihung ist geändert, Menschen rennen mit Kinderwagen übers Gleis, um den richtigen Zugteil zu erwischen. Wie traurig, dass diese wundervolle Art der Fortbewegung in der Vergangenheit so sehr vernachlässigt wurde, dass es nun wirkt, als sei sie kaum noch zu retten. Vom Preis ganz abgesehen – selbst mit der günstigsten Variante kostet die Fahrt mich noch immer deutlich mehr als eine Autofahrt zu den aktuellen Spritpreisen. Der politische Wille hinter solchen Entscheidungen erschließt sich mir nach wie vor nicht. Immerhin funktioniert das Internet leidlich und ich kann diesen Text schreiben. Über die kleinen Dinge in der Nähe freuen, um die Ernüchterung in Schach zu halten …

Der Lieblingsmensch ändert die Pläne fürs Abendessen, so dass sie zu meiner verspäteten Ankunft passen, eine Freundin kündigt ihren Besuch für den Abend an und Carrie Newcomer singt mir von starken Frauen und leisen Tönen ins Ohr uns ins Herz. Ich schreibe eine letzte Mail, mache den Computer aus, wechsle zu Klaviermusik  und zähle die Regentropfen auf der Zugfensterscheibe.

Vom Verschwinden der Zeit

Die Tage eilen dahin und verschwinden, bevor ich sie festhalten kann. Als säße irgendwo ein Ungeheuer, das sich von Zeit ernährt und sie einfach so inhaliert, einsaugt, wegmampft. Die Zeit scheint keine gerade Linie mehr zu sein, sondern ein Strudel, der mit immer größerer Geschwindigkeit einen Tag nach dem anderen mit sich reißt. Ich stehe mitten drin und fühle mich gar nicht sturmumtost, doch ehe ich mich versehe, ist schon wieder eine Woche um, sind Tage verschwunden, die doch aber ganz sicher nicht 24 Stunden lang waren. Meine Wetter-App zeigt die gefühlte Temperatur an, die gefühlte Zeit wird nur in meinem Herzen gemessen.

In dieser gefühlten Zeit gibt es Erinnerungsleuchttürme: Ein Spaziergang auf Kindheitspfaden mit einem geliebten Menschen. Eine abenteuerliche Fahrt zu einem von Baustellen umgebenen Bahnhof mit der besten aller Schwestern. Ein Gespräch mit sehr alten und sehr wunderbaren Damen bei Kaffee und Kuchen. Eine junge Frau, die sich von einer schweren OP erholt und unser Lachen am Telefon. Eine technologische Entdeckung und eine gute berufliche Idee. Eine beeindruckende Rede eines mutigen Menschen. Eine Messenger-Nachricht mit einem besonders lieben Gruß. Ein Eichhörnchen, von dem mir am Telefon so lebhaft berichtet wird, dass ich es deutlich vor mir sehen kann (immerhin kenne ich jetzt den Wald, in dem es gesichtet wurde). Ein abendliches Treffen mit Frauen, die so viel mehr sind als Freundinnen. Die ersten bunten Blätter auf dem Feierabendspazierweg und ein neues Lesezeichen, das mich jedes Mal zum Lächeln bringt.

Ein Newsletter, den ich täglich bekomme (und in Phasen mit linearer Zeit auch regelmäßig lese) zählt die Tage seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine. Ich stolpere immer wieder über diese Zahl und kann sie nicht begreifen. Damals sprachen Menschen in wichtigen Positionen davon, dass die Zeit sich wende. Doch über die Menschen, die in einer Zeit, die sich diametral gewendet hat, nicht einfach geradeaus weiterleben können wie immer, darüber sagten sie nichts. Wie geht das mit dem menschlichen wenden, dem umkehren, dem verändern, dem neu denken und planen und mitfühlen, wenn die Zeit und das vertraute Leben sich umkehrt? Ich sehe Umfragen und Sonntagsfragen und bin ratlos.

Historische Momente

Manchmal weiß man es ja erst später, irgendwann, danach, wenn man zurücksieht oder jemand einen darauf aufmerksam macht, dass etwas, was man erlebt hat, ein historischer Moment war. Ich habe gerade das Privileg, an etwas teilhaben zu dürfen, von dem bereits jetzt klar ist, dass da Geschichte geschrieben wird. Geschicht mit einem ganz großen G. Frauengeschichte. Kirchengeschichte. Und in gewisser Weise auch eine Liebesgeschichte.

Ich teile hier einige Wochen mit Frauen, Ordensfrauen, die nicht den einfachen Weg wählen. Die miteinander und mit dem HERRN ringen um den richtigen Weg. Auch wenn das ein schmerzhafter Weg ist, auf dem einige von ihnen etwas hergeben, aufgeben, hinter sich lassen werden, das ihnen sehr am Herzen liegt. Und auf dem andere sich auf Neues einstellen, sich für Ungewohntes öffnen und Unsicherheiten aushalten werden müssen. Ein Weg, bei dem von vornherein klar ist, dass er eher steil, holprig und schwierig werden wird. Einer, auf dem niemand rosarote Brillen anreicht und Tränen vorprogrammiert sind – auch wenn er mit Freudentränen (vielen davon) beginnt. Auch in solchen Liebesgeschichten gibt es nämlich Liebeskummer. Denn auch wenn sie kein Eheversprechen abgelegt haben, wissen diese Frauen um diese Sache mit den guten und den weniger guten und auch den richtig schlechten Tagen.

Und trotzdem.

Trotzdem ducken sie sich nicht weg, laufen sie nicht davon. Es steht nirgendwo geschrieben, das sie sich dem aussetzen müssen, niemand zwingt sie dazu, ihr „weiter wie bisher“ aufzugeben – denn das „weiter so“ ist ja nicht schlecht, sie würden ja mit etwas Gutem weitermachen, mit vielen kleinen individuellen Einsätzen für Menschen und auch einem umfassenderen Guten. Trotzdem.

Trotzdem tun sie das, was sie als richtig erkannt haben. Ringen um Klarheit und Vertrauen, um Mut und Verständnis. Sie hören einander zu – auch das auf eine Art und Weise, die andernorts nicht selbstverständlich ist. Sie hören mit den Ohren, aber auch mit den Augen und dem Herzen. Sie scheuen den Konflikt nicht, klammern die wunden Punkte nicht aus. Sprechen offen über das, was drückt, über die „Steine im Schuh“, die sie am Vorankommen hindern, die scheuern, die Haut aufreiben, auch die auf der Seele.

Sie singen und tanzen miteinander, ausgelassen und mit ganzem Herzen. Und dann geben sie sich, einzeln und als Gruppe, den Prozess und die Menschen, für die ihre Schritte eine Auswirkung haben werden, in die Hand eines Größeren. Schweigen. Beten. Lassen sich neue Perspektiven öffnen, sich verwandeln, stärken. So werden Entscheidungen möglich, die ich von meiner Position etwas weiter außen erhofft haben mag, von denen ich aber trotzdem bewegt bin ob ihres Tempos, ihrer Klarheit und Entschlossenheit.

Ich bin sehr berührt – nicht nur von den Ergebnissen, sondern auch von dieser Art des ehrlichen Ringens, der Ernsthaftigkeit der Suche und der Fröhlichkeit des Beieinanderseins. Ich schaue auf das Bild Mary Wards, das auf meinem Schreibtisch steht und deren Vorbild diese Schwestern folgen, einer mutigen, tatkräftigen, visionären Frau zu Beginn des 17. Jahrhunderts. „Women in time to come will do much“, war sie schon vor mehr als 400 Jahren überzeugt. Eine dieser Zeiten ist jetzt.

Sommerabend

Es ist kurz vor 9 am Abend und das Thermometer zeigt noch immer über 30 Grad an. Ich sitze an der Würm und schaue aufs Wasser, in dem sich die Blätter und die untergehende Sonne spiegeln. Ein paar halbwüchsige Enten haben sich faul in den Fluss plumsen lassen, als ich an ihnen vorbei lief. Bloß keinen Flügelschlag zu viel machen. Träge und faul die trockene Hitze und die Abendsonne genießen. So ein Moment ist das.

Ein Moment zum Nachdenken und Loslassen, zum Meditieren und Träumen, zum Durchatmen und Zurücklegen und mit geschlossenen Augen den Bienen und anderen Insekten lauschen. Ein Moment zum tief Einatmen der rosenduftschweren Abendluft, die der träge Wind ab und an vorbeiweht. Ein Moment, in dem all die Probleme – die großen der Welt und meine kleinen – keinen Platz haben neben mir am Wasser.

Dabei sind sie nicht weit weg. Nur wenige Meter entfernt hat eine junge Mutter mit ihren Kindern Zuflucht gefunden. Die Beschilderung der Etage, in der mein Gästezimmer liegt, ist jetzt auch ukrainisch. Die Hitze und die Dürre, die nur ein kleines Zeichen dafür sind, dass der Klimawandel sich längst zu einer Klimakatastrophe ausgewachsen hat, ich sehe sie hier an meinem Uferplatz, ich habe sie durch die Zugfenster gesehen, wo statt grüner Wiesen so viele verdortte Felder, not-geerntete Getreidestoppeln und ausgetrocknete Bachläufe den Weg säumten. Eine Autobahn, auf der trotz all der guten Argumente kein Tempolimit gelten soll, ist ebenso wenig fern wie ein Krankenhaus, in dem Pflegekräfte am Rande der Erschöpfung immer mehr fehlendes Personal ausgleichen sollen – demnächst dann am besten auch noch mit positivem Corona-Test. Ich höre Glockenläuten und fühle mit denen, die in der Kirche Heimat hatten und durch den Umgang der Verantwortlichen mit Katastrophen und Krisen und deren Ursachen aus dieser Heimat vertrieben wurden. Von den Opfern ganz zu schweigen. Gar nicht weit ist eine der zahlreichen Schulen, deren Lehrer*innen und Schüler*innen immer nur dann eine Rolle spielen, wenn sie in wohlfeilen Reden instrumentalisiert werden können. Luftfilter haben sie bis heute nicht und auch sonst sind die Lehrer*innen und die Schülervertretung auf sich allein gestellt, wenn sie Lösungen suchen, die das Leben für die Schulgemeinschaft und auch ihre schwächeren Mitglieder lebenswert und lernenswert machen.

Aber jetzt, in diesem Moment, kann ich all das und so vieles andere ausblenden. Mitten im Jetzt sein, nur unterbrochen vom Verjagen der Stechmücken, die mich am Ende des Abends trotzdem aufgefressen haben werden. Ich weiß, dass ich solche Momente brauche, um mich danach wieder der Welt zu stellen und wenigstens an der einen oder anderen Stelle  meinen kleinen Beitrag zu leisten. Ich verstehe aber auch, wie verführerisch es ist, einfach sitzen zu bleiben – ganz konkret und natürlich auch im übertragenen Sinn. Die anderen mal machen zu lassen, irgendwer wird sich schon finden für die Probleme der Welt. Die Augen nur für die Schönheiten und die Vorteile zu öffnen und einfach zulassen, wenn sie Schwierigkeiten wahrnehmen und sich anrühren lassen müssten.

Irgendwann stehe ich auf, suche mir den Weg in der Dämmerung zurück, mache die Türen ganz leise auf und zu, denn nebenan schlafen Kinder, die Krieg erlebt haben (ich sehe die Bilder, lese die Nachrichten, seit mehr als 150 Tagen, und mein Herz kann es noch immer nicht fassen). Ich lasse das Handy aus, schaue mir keine Nachrichten an, lasse mein Buch zugeklappt und für den Moment die Wirklichkeit die Wirklichkeit sein. „Tu Gutes und tue es gut“, zitiert eines meiner liebsten Wandbilder die wunderbare Mary Ward. Morgen wieder.

Bemerknisse in einer Welt aus den Fugen

Es ist Tag 31 des Kriegs gegen die Ukraine, in der Ukraine. Noch immer fällt das geschriebene Wort mir schwer. Gleichzeitig schätze ich meinen Alltag mit all seinen kleinen Belanglosigkeiten und Selbstverständlichkeiten so innig wie schon sehr lange nicht mehr und notiere mir ein paar unverbundene Bemerknisse aus diesem Alltag.

Beim Facharzt möchte ich nur ein Rezept abholen. Im Treppenhaus gibt es eine Warteschlange. Zu voll sei es drinnen, daher müsse man draußen warten – egal ob auf einen Termin oder ein Rezept, teilen mit die vor mir Wartenden mit. Ich stehe also über eine halbe Stundein einem fensterlosen, schlecht beleuchteten und natürlich nicht belüfteten Treppenhaus dicht an dicht mit einer immer größer werdenden Menge von Wartenden, immerhin alle mit Maske. Als ich dran bin, trete ich einzeln in die Praxis ein. Im doch komfortabel großen Foyer mit der Anmeldung (und mit Fenster zum Lüften) sitzt mir eine Mitarbeiterin hinter einer kleinen Plexiglasscheibe gegenüber, die OP-Maske träge sie als Ohrring. „Entschuldigen Sie die lange Wartezeit, wir tun hier unser Bestes, um eine Ansteckung in den Praxisräumen zu vermeiden“. Ich denke an Picards epische Double-Facepalm und daran, das jemand auf YouTube eine zehnstündige Dauerschleife davon gebaut hat. Dann geht es fast wieder.

Schwestern der Ordensgemeinschaft, der ich mich als Laiin und Gefährtin verbunden fühle, schicken Nachrichten aus Kyiv und Ushhorod, von der Grenze in der Slowakei und in Ungarn. Sie bedanken sich für unser Gebet und alle Hilfe und berichten in schlichten Worten von dem, was sie tun. Die unermüdliche Hilfe, die sie so ganz selbstverständlich leisten – mit hochgekrempelten Ärmeln und dem, was eine australische Schwester kürzlich „bold humility“ nannte, Bescheidenheit, aber in ihrer kühnsten Ausprägung; dieser Einsatz rührt mich an.

Auch die Tatkraft meiner ASB-Kolleg*innen rührt mein Herz. Mit einem Kollegen, den ich schon bei der Impfkampagne digital unterstützt habe, verlängere ich unser Abkommen: Für alles, was schief gegangen sein wird, für alle kurzfristigen Arbeitsaufträge nach Feierabend, für die fehlende Anerkennung für das, was der oder die andere außer der Reihe  getan hat, werden wir uns entschuldigen. Aufrichtig. Hinterher. „Dass wir den Pakt verlängern, bevor wir auf das Ende des ersten anstoßen konnten, ist ja nicht optimal. Aber was können wir denn anderes tun als helfen“ sagt der Kollege. <3

Für einen unserer Spaziergänge (zählt das eigentlich immer noch als Trendsportart oder haben die Querdenker den Begriff für alle Zeit zerstört?) wählen der Lieblingsmensch und ich einen Rundweg um kleine Seen in der Umgebung. Ein Erdrutsch beim Hochwasser im letzten Sommer hatte dort ziemlichen Schaden angerichtet. Längst kann man den Rundweg wieder gehen – mit einigen Umwegen und kleinen Klettereien über Wurzeln und Steine. Aber die klaffenden Lücken im Hang sind noch da. Dafür gibt es jetzt an einem der Seen einen kleinen Strand – da, wo der Hang hineingerutscht ist. Wie nah Leid und (in diesem Fall: nahende Sommer-Bade-) Freude beieinanderliegen.

Eine Dienstreise führt mich in den Norden. Auf der Hinfahrt im Zug helfe ich bei der Koordination von Hilfe für eine neue Notunterkunft. Wir hinken hier im Lande so sehr hinterher bei digitaler Infrastruktur und allein schon beim Verständnis dessen, was das alles sein könnte. Aber was ich da vom Zug aus regeln konnte, wäre vor 2 Jahren noch nicht möglich gewesen. Ich freue mich über die kleinen Fortschritte – und wundere mich über meine Milde. Zu dringlich ist es, dass hier strukturell endlich mehr passiert, dass Bewusstseinswandel nicht nur gefordert, sondern auch Maßnahmen zu seiner Durchsetzung angegangen werden. Ist die Freude am Reisen der Grund? Oder die neue Wertschätzung für meinen Alltag (den die Menschen in Kyiv und Charkiv, in Mariupol und Chernivtsi und Lviv und Odessa und …  vor 32 Tagen ja auch noch gelebt haben)? Ich will mir merken: Die kleinen Fortschritte sehen und davon berichten kann vielleicht andere unterstützen auf ihren Wegen hin zu einer menschenfreundlichen, menschengerechten, menschenunterstützenden Digitalisierung. Zumindest im Kleinen.

Ich wurde zur Wahlhelferin bei der Landtagswahl ernannt, genauer gesagt zur Schriftführerin, und kann die notwendigen Formulare per Mail zurücksenden. (Nachdem ich sie vorher ausgedruckt, per Hand unterschrieben und dann eingescannt habe.) Eine ehemalige Studienfreundin in Frankreich lacht mich aus – gibt es dafür bei euch kein Onlineportal? Meine neue Milde bringt mich doch tatsächlich dazu, diesen E-Mail-Quatsch -Unsinn -Vorgang als Fortschritt zu verteidigen; aber dann lachen wir doch zusammen darüber und sie freut sich, dass ihr mein Bericht Gelegenheit gibt, ein Vorurteil zu revidieren („Ich dachte, in Deutschland seid ihr bei digitaler Bürokratie viel weiter vorne als wir“).

Eine Bekannte schickt Fotos von der großen Fridays for Future-Demo in Bonn, eine andere postet Fotos aus Afghanistan, wo sie lange gearbeitet hat und wo Frauen mutig dafür kämpfen, dass sie und ihre Töchter weiterhin Bildung bekommen. Per DM wünsche ich einem Freund im Nordirak ein frohes Nevroz. Eine ehemalige Kollegin schickt ein Update aus dem Trockengürtel in Mittelamerika, wohin ich einst eine Journalistenreise zu den Folgen des Klimawandels begleitet habe. Eine Kerze brennt während einer Krebs-OP eines lieben Menschen, eine Freundin wird Tante und ich bewundere die Nichtenfotos. Ich kaufe für einen Freund in Isolation ein und erkundige mich nach dem Befinden von immer mehr positiv getesteten Menschen im Bekanntenkreis. Ich freue mich über unheimlich viele, liebe Geburtstaggrüße, über eine Tasse, die die Welt beschimpft, eine Geburtstagsgirlande und noch immer jeden Tag über die Kaffeemaschine, die der Lieblingsmensch und ich uns gegenseitig zu Weihnachten geschenkt haben. Freund*innen mit Kindern berichten vom Irrsinn an Schulen in Zeiten einer Pandemie, bei dem auch nach zwei Jahren kein Fortschritt zum Guten zu erkennen ist. Habe ich sie früher nur einfach nicht so extrem wahrgenommen, die Gleichzeitigkeit all dieser Realitäten? Oder hat die „neue Normalität“ meinen Fokus dafür geschärft?

An einer unserer Wände hängt nun eine Gezeitenuhr, die mir anzeigt, wie hoch das Wasser gerade an meinem Lieblingsende der Welt steht. Eine liebevolle Aufmerksamkeit eines Freundes, ein ganz unerwartetes Geschenk. Wenn ich von Videokonferenzen im Homeoffice aufschaue, sehe ich nun auf die Gezeitenuhr – und kann den Blick weiten von meiner kleinen Welt auf das Größere, das Meer, das Mehr. Sie hängt da erst seit ein paar Stunden und schon jetzt macht mich das froh – und demütig. Ich hoffe, dass es diese kühne, mutige, ein wenig kecke, aber immer klare und deutliche Art von Demut ist. Die, die Mary-Ward-Frauen auszeichnet.

Fassungslos, unsortiert

Seit gestern am frühen Morgen fällt es mir schwer, meine Gedanken zu sortieren. So unvorstellbar es ist, geht mein Alltag weiter. Es scheint so absurd zu sein, dass ich meinen alltäglichen Aufgaben nachgehe, Projekte plane, Dinge auf den Weg bringe, kreativ bin, arbeite, esse, trinke, rede wie immer – mitten in einem Krieg. Krieg in Europa.

Zwei Menschen, mit denen ich verbunden fühle, haben geschrieben, dass sie noch leben. Sie sind in Kiew und hätten die Möglichkeit gehabt, sich letzte Woche in Sicherheit zu bringen. Sie haben es abgelehnt zu gehen – ihr Aufgabe sei es, bei den Menschen zu sein, die Not leiden. Weglaufen sei für sie keine Option. Mein Herz schlägt schnell und warm, während ich das schreibe. Die beiden haben, so sagt es die Nachricht, gemeinsam mit anderen, in einem Bunker Zuflucht gefunden. Von Menschen, die ich in Charkiw kennengelernt habe, habe ich keine Nachricht. Die Nachrichten und Bilder, die ich von unbekannten Menschen sehe, gehen mir genauso nah. Ich denke an die, die helfen, die nicht weglaufen, die mitten im Wahnsinn für andere da sind und –

In all meiner fassungslosen Hilflosigkeit fallen mir im Nachrichtenstrom deutliche Worte unserer Außenministerin positiv auf. Auch von Herrn Habeck. Es kommt mir seltsam nachtragend vor, aber kurz durchzuckt mich der Gedanke, wie froh ich bin, dass dort nicht Herr Laschet sitzt und spricht. Und dann sitze ich doch wieder ratlos vor den Berichten, dass unsere Regierung zu denen gehört, die härtere Sanktionen verhindern und –

Ich bin gläubig und also tue ich, was so viele andere gläubige Menschen aller Religionen tun: Ich bete. Ich rufe, weine, schreie und verstumme den Herrn an, der uns doch die Freiheit gelassen hat, uns zu entscheiden. Dabei wird mir wieder einmal klar, dass ich es einfach nicht verstehe, wie sich irgendwer wissentlich für Krieg entscheiden kann. Also: Ich höre die Argumente und mein Verstand versucht, irgendeine verquere Logik aus ihnen herauszulesen. Die Abfolge der Ereignisse. Die Hoffnung und die Lügen. Aber wo mein Hirn schon Schwierigkeiten hat, kann mein Herz nicht mehr folgen. Wie man bewusst eine solche Entscheidung treffen kann, das –

Wer mich kennt, weiß, dass mir nicht so schnell die Worte ausgehen, aber –

Gedanken über Autos, individuelles Reisen und meine großartige Oma

In den letzten Wochen ergab es sich, dass ich mit verschiedenen Menschen über Verkehr und Verkehrsplanung sprach. Also genauer gesagt über Individualverkehr und ÖPNV. Wir wohnen auf dem Land zwischen zwei Großstädten und der ÖPNV hier ist – freundlich formuliert – eher unterirdisch. Ohne Auto komme man da doch gar nicht klar, sagen viele und habe ich auch bis vor gar nicht so langer Zeit gesagt. Und es stimmt, wollte man mit Bussen (seltener Takt, wenig einkaufs- und überhaupt erledigungstaugliche Fahrtstrecken) und Bahnen (dreimal die Stunde, extrem oft verspätet, häufiger Ausfall, immer überfüllt, so dass man gar nicht so selten erst überhaupt nicht hinein kommt) unterwegs sein, wäre man hier aufgeschmissen. Zum Getränkemarkt fährt kein öffentliches Verkehrsmittel, auch nicht zum Einkaufszentrum auf der grünen Wiese. Nur alle 2 Stunden zum Ärztehaus mit den Fachärzten ein paar Dörfer weiter und nach 18 Uhr sowieso kaum noch was.

Wir haben nur ein Auto – eine seltene Ausnahme in unserem Bekanntenkreis hier im Dorf. Und es steht meist in der Garage (auch so ein Luxus). Denn der Lieblingsmensch ist ein großer zu-Fuß-Geher und erledigt Vieles per pedes und ich habe mir im ersten Pandemiesommer ein eBike gekauft, mit dem ich nun auch ins rund 25 Kilometer entfernte Büro pendle – wenn ich denn überhaupt dort arbeite. Der Ehrlichkeit halber: Bei weniger als 7 Grad und bei Regen, der über ein bisschen nieseln hinausgeht, nehme ich das Auto. Wobei sich für den Weg durch die große Stadt der Hybrid wirklich auszahlt. Beim Spritverbrauch und beim Senken meines Gereiztheitsheitsfaktor. Seit ich beim Stop and Go durch den Berufsverkehr kaum noch Abgase ausstoße, nervt mit das deutlich weniger. Und: Es gibt nun auch in unserem kleinen Dorf eine Carsharingstation in der Dorfmitte und Leih-eBikes am Bahnhof. Da kommt also etwas in Bewegung.

Über was ich allerdings häufiger nachdenke, ist eine Erinnerung aus meiner Kindheit. Ich bin am Fuße des Schwarzwalds großgeworden und meine Großeltern lebten im Saarland. Weder meine Großmutter noch mein Großvater hatten einen Führerschein. Und natürlich auch kein Auto. Eine Bahnstation gab es in ihrem Dorf nicht und Busse zum nächsten Bahnhof waren eine teure Rarität. Trotzdem waren meine Großeltern in meiner Kindheit häufig bei uns. Möglich wurde das durch die Kreativität und die großartige Chuzpe meiner Oma.

Die hatte nämlich herausgefunden – wahrscheinlich durch Freundinnen und Bekannte, die solche Touren schon mitgemacht hatten – dass Kaffeefahrten in den „schönen Schwarzwald“ meist in einem der deutlich weniger grandiosen Orte rund um mein Heimatdorf Station machten, um in irgendeinem Weinlokal Heizdecken und Co. zu verkaufen. Meine Oma buchte also eine Kaffeefahrt, freute sich an der Tour durch die Pfalz, den Odenwald und dann durch schöne Fachwerkdörfer und an der durchs Busfenster vorgeführten Schwarzwaldromantik. Sobald der Bus an einem der Ausflugslokale anhielt und die Verkaufsschau begann, setze sie sich ab, rief von einer Telefonzelle meine Eltern an, beschrieb, wo sie war und wir konnten sie abholen. Bei der nächsten Kaffeefahrt bucht sie wieder einen Platz und fuhr damit zurück.
Ganz im Ernst, was hatte ich für eine coole Oma.

Eine andere Option war der Schülerbus. In meinem Heimatdorf gab es ein Internat, in das viele Schüler aus dem Saarland gingen und eben auch einige aus dem Dorf meiner Großeltern. Am Ende der Ferien sammelte ein Busunternehmen die Schüler (gendern unnötig, es war eine Einrichtung nur für Jungs) ein und brachte sie ins Internat. Meist war noch Platz im Bus und so fuhren meine Großeltern mit lauter jungen Menschen gen Süden. Meine Eltern brachten sie dann einige Zeit später zurück und verbanden das mit einem Besuch bei alten Freunden. Eine andere Option war es, mit dem leeren Bus vor Beginn der Ferien zu uns zu fahren – zum Beispiel zu Beginn der Osterferien. Während der Bus die heimfahrenden Schüler einsammelte, gingen meine Eltern, meine Schwester und ich an die Bushaltestelle vor der Schule und sammelten Oma und Opa ein. Am Ende der Ferien spuckte der Bus die zurückkehrenden Schüler aus und nahm meine Großeltern mit zurück.

Im Eifeldorf, in dem mein Vater groß wurde und in dem ich oft Sommerferienzeit verbrachte, wurde das ÖPNV-Problem anders gelöst. Da mussten nicht die Dorfbewohner schauen, wie sie zum Einkaufen fahren konnten, da kam der Einauf zu ihnen – in Form eines LKWs der regionalen Milchunion. Der wurde aufgeklappt und da stand ein kleiner, aber gut ausgestatteter Supermarkt auf dem Dorfplatz. Natürlich gab es frische Milchprodukte, aber auch Brot und alles andere, was man so für den Alltag brauchte. Als Kind fand ich es großartig, mit meiner Tante dort einkaufen zu dürfen. Aber auch in der Sonne zu sitzen und zuzuschauen, was andere so kauften und dabei ab und zu eine der streundenden Katzen zu streicheln, die auf eine zerplatzte Milchtüte oder ein Stückchen Wurst hoffend auf dem Platz herumlungerten, war ein wunderbarer Zeitvertreib.

Damals war also viel weniger Individualverkehr und mehr individuelle Initiative. Ich frage mich, wie wir Möchte-Gern-Klimaschützer*innen uns von diesem Einfallsreichtum hier und heute die ein oder andere Scheibe abschneiden könnten.

 

Bemerknisse aus einer analogen Welt

Die Nachricht an sich ist schon schockierend genug: Ein geliebter Mensch muss notoperiert werden. Das ist schon in „normalen“ Zeiten schwer. Und jetzt ist da auch noch eine Pandemie. Und Feiertage. Ein paar Bemerknisse aus dem überraschend analogen Wahnsinn drumherum.

Der Hospitalisierungsindex am Zielort klingt nicht besonders beunruhigend, 2,4 (leicht steigend) – das ist der niedrigste von allen Orten, die ich in der Corona-Warn-App gespeichert habe, um mir schnell ein Bild über die Lage am Wohnort von lieben Menschen machen zu können. Ein gutes Stück unter dem Bundesdurchschnitt. Ähnlich sieht es bei der Zahl der Neuinfizierten aus.  Trotzdem ist die Intensivstation so voll, dass ein älterer Patient mit hohem Überwachungsbedarf schon nach einer Nacht nicht mehr dort bleiben kann. Was ich mehr oder weniger als erstes verstehe: Der „niedrige“ Hospitalisierungsindex bedeutet in der Realität absolut nicht das, was ich mir darunter vorgestellt hatte.

Dass dieser Patient, der mir so sehr am Herzen liegt, überhaupt in dem kleinen, seinem Wohnort nahen Krankenhaus operiert und behandelt werden konnte, gleicht einem Wunder. Andere Patienten mussten im gleichen Zeitraum abgelehnt, weitergeschickt, an andere Orte verwiesen werden. Geplante Operationen wurden auch dort verschoben. Dass diese eine sich nicht planen ließ, sondern wie ein Blitz über uns hereinbrach – wer hätte gedacht, dass so etwas mal was Positives sein sollte.

Die Station ist nur mäßig besetzt. Das liegt, wie an so vielen ähnlichen Orten auch, nicht an fehlenden Betten, sondern an fehlendem Personal. Abgezogen, umbesetzt. Auf die Intensivstation. Auf die Isolierstation. Das mit dem Hospitalisierungsindex und der großen Differenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit hatten wir ja schon.

Das Personal ist unglaublich freundlich und geduldig. Bei Genesungsspaziergängen über den Flur sehe ich aber auch, wie schnell sie laufen müssen, um allen Klingeln und roten Lichtern gerecht zu werden. Meine Bewunderung für diese Menschen war schon vorher enorm und ist noch gewachsen.

Zum Einlass ins Krankenhaus braucht man:

  • Impfnachweis (vollständig)
  • Negativen Testnachweis  in Papierform (!) – Schnelltest nicht älter als 24, PCR nicht älter als 48 Stunden
  • Ausweis
  • einen ausgefüllten Zettel mit den persönlichen Daten sowie Infos zum besuchten Patienten für eine mögliche Kontaktnachvervollgung

Ich finde die Zugangsvoraussetzungen an sich ganz wunderbar und unbedingt unterstützenswert. Aber dass ich das Testergebnis nicht digital vorzeigen kann, ist doch ein wenig frustrierend. Die Papierpflicht bringt mit sich, dass ich bei einem der (zum Glück in der Stadt zahlreich vorhandenen) Testzentren bei Kälte, Regen oder Hagel unter einem schon leicht zerfetzten Sonnenschirm oder in einem kleinen Wartezelt mit unangenehm vielen Menschen auf engem Raum auf mein Testergebnis warte und nach gut 15 Minuten ein vom Regen klammes und einmal gar von Hagelkörnern durchschlagenes Papier in die Hand gedrückt bekomme. Die Empfangsmenschen in der Klinik müssen das dann einscannen, speichern und irgendwann händisch wieder löschen. Impfnachweis und Ausweis werden in Augenschein genommen und der Besuch beim Patienten im System vermerkt. Einchecken mit der Corona-Warn-App, die Möglichkeit, einen digitalen Testnachweis vorzuzeigen oder irgendeine Lösung, die den vermutlich sowieso bis zum Anschlag belasteten Mitarbeiter*innen die Arbeit erleichtern würden? Fehlanzeige. Es funktioniert alles, aber praktisch ist doch irgendwie anders.

Das Testzentrum zu Hause mit seiner Online-Terminbuchungsoption, Benachrichtigungmail, sobald das Testergebnis vorliegt und QR-Code zum Abrufen des Ergebnisses, das bei entsprechender Zustimmung direkt heruntergeladen und in die Corona-Warn-App eingetragen werden kann, sowie der Zusicherung, dass die gespeicherte Daten nach den gesetzlich vorgeschriebenen Speicherfristen automatisch gelöscht werden, wirkt dagegen wie aus einem Science-Fiction-Film entsprungen.

Das Gegenteil von Science-Fiction bietet der Parkautomat auf dem Krankenhausparkplatz. Nach dem Ende der Besuchszeit bildet sich dort eine kleine Schlange. Die Dame vor mir kann nicht bezahlen, da ihr Kleingeld fehlt. Ich habe selbst nur gerade eben genug, um mein Ticket zu bezahlen. Ein freundlicher Herr mit Hut spaziert vorbei. Der rät der Dame, doch einfach mit Karte zu zahen. Doch ach: Der Automat hat gar keine Kartenzahloption eingebaut. Scheine nimmt er auch nicht (ein entsprechendes Fach ist zwar vorhanden, aber nicht funktionsfähig) und eine digitale Lösung zur Bezahlung wird nirgends angeboten. Der Herr kramt sein Portemonnaie hervor und kann tatsächlich einen 5-Euro-Schein in Münzen wechseln. „Das ist ja wie im Mittelalter“ schimpft er, als er weitergeht.

Beim abendlichen Nachrichtenschauen fällt mir dann noch auf: Testzentrum ist nicht gleich Testzentrum. Während die einen pflichtbewusst die Stäbchen tief in Nase und/oder Rachen stecken, geht es bei anderen so ruckizucki, dass es an ein Wunder grenzt, wenn das Testgerät überhaupt mit der Schleimhaut in Berührung gekommen sein sollte. Wird das überhaupt irgendwie kontrolliert? Wenigstens stichprobenartig? Und was bedeutet die Antwort für die in diesen Tagen von der MPK beschlossenen neuen Quarantäneregelungen? Ich versuche, nicht darüber nachzudenken und empfehle derweil gerne anderen, die einen Test brauchen, die Stationen, wo ich mich  gewissenhaft getestet gefühlt habe – und wo man meinen Namen und das Testergebnis nicht laut durch die Reihe der Wartenden gerufen hat.

Eins noch zum Schluss: In Anbetracht des allerbesten Bemerknisses der Woche, des Monats, vermutlich des ganzen Jahres, wird das alles irrelevant. Denn: Die wunderbaren Menschen in der Klinik haben dafür gesorgt, dass unsere Sorgen in wenigen Tagen zusammenschrumpfen konnten. Dafür bin ich allen Beteiligten sehr, sehr dankbar.