Erinnerungen – alte und neue

50 Jahre ist es her, dass meine Tante meiner Mutter unbedingt die Haare auf Lockenwickler drehen wollte – an einem besonderen Tag braucht man doch auch eine besondere Frisur. 50 Jahre, dass mein Vater einen Anzug mit Krawatte anzog (das tat er nur äußerst selten). 50 Jahre ist es her, dass da zwei Menschen aus voller Überzeugung und gegen alle Widerstände JA zueinander sagten. Ich war nicht dabei, aber ich kenne viele Erzählungen, Es muss ein Tag gewesen sein, der in keinem Bilderbuch gezeichnet werden würde. Eine Hochzeit, die das Brautpaar wollte und die manche der Gäste eben hinnehmen mussten. Ein ziemlich ruckeliger Hochzeitstag, der aber seinen Zweck erfüllte und die zwei Menschen, die ihn geplant hatten, rundum glücklich machte. Ein Tag, dessen Versprechen mit den guten, den weniger guten und den richtig besch schlechten Tagen an jedem Tag der Zukunft gelten sollte.

Mein Vater ist vor zwei Jahren verstorben, also wäre diese Tag der Goldenen Hochzeit für meine Mutter vermutlich ein schwerer Tag gewesen. Ein Tag voller Trauer und schmerzender Erinnerungen. Das wollten wir ihr unbedingt ersparen und so haben wir eine spinnerte Idee, die wir irgendwann im Winter gemeinsam hatten, kurzentschlossen in die Tat umgesetzt und eine Tagestour organisiert. Nicht, um alte Erinnerungen wegzuwischen, ganz im Gegenteil. Wir haben einen Tag geplant, an dem schöne Erinnerungen, Erzählungen von händchenhaltenden Eltern (für pubertierende Jugendliche peeeeiiiinlich) und Gedanken an lustige Begebenheiten ihren Platz haben sollten. Einen Tag, an dem Tränen dazugehören dürfen, an dem wir aber vor allem das Leben und die Liebe feiern. Ein Tag, in etwa so verrückt wie die Hochzeit vor 50 Jahren – nur eben in der Version von heute. Wir haben Felix de Luxe beim Wort genommen und sind mit einem Taxi Zug nach Paris gefahren, nur für einen Tag. Stadt der Liebe – plötzlich ergibt der ausgelutschte Slogan Sinn.

Meine Mutter und zwei Freundinnen (alle zwischen Mitte 70 und Mitte 80) stiegen am Fuß des Schwarzwalds in eine Bahn und dann in einen TGV, der Lieblingsmensch und ich in Köln in den Eurostar. Wir kamen an der Gare du Nord an, die drei Damen an der Gare de l’Est. Da sammelten wir sie ein, gratulierten zum Hochzeitstag und dirigierten die ganze Truppe zum  Taxistand. Irgendwo in diesem Tag muss dieses Gefährt ja schließlich vorkommen. Ein Großraumtaxi brachte uns auf die Ile de la Cité. In strahlendem Sonnenschein bummelten wir ein bisschen über die Insel, bestaunten den Blick die Seine hinauf und hinab, warfen einen Blick auf Conciergerie und Sainte Chapelle (von außen), sahen zu, wie der Marché des Fleurs seine Pforten öffnete, tauschten Erinnerungen aus, was jede:r von uns in dieser Ecke der Stadt schon erlebt hatte. Wir erinnerten uns daran, wie wir vom Brand von Notre Dame erfahren hatten und ich konnte berichten, wie es im Dezember, wenige Tage vor der Wiedereinweihung, auf der Baustelle ausgesehen hatte. Meine Mutter trug die Ohrringe, die ich um die Ecke auf dem Weihnachtsmarkt erstanden hatte, so dass Erinnerungen und Gegenwart sich die Hand reichen konnten.

Am Seineufer spazierten wir an den Bouquinistes vorbei und meine Mutter verliebte sich in ein farbenfrohes Ölgemälde, das ein Pärchen unter dem Regenschirm auf einem Boulevard zeigt. Sie erinnerte sich an Spaziergänge mit meinem Vater unter dem Regenschirm, an einen Familienausflug in eine andere Großstadt, bei dem eine Gruppe asiatischer Touristen meinem Vater nachlief, der seinen Schirm über der Schulter trug. Lehrer, Familienvater oder Guide – passt schon. Wir lachten, mein Mann machte Fotos von den Damen, während ich ein wenig mit dem Künstler plauderte (bien évidemment konnte das Bild da nicht einfach hängen bleiben). Der junge Mann hätte uns gerne abends auf ein Glas Wein eingeladen, als er hörte, wir seien aus Deutschland. Er hatte mal eine Ausstellung in Berlin und hätte gerne ausprobiert, ob sein Deutsch noch was taugt. Er lachte laut, als er hörte, wir seien nur für diesen einen Tag in der Stadt – ein bisschen verrückt, das mag ich“ -, verpackte seine Leinwand reisesicher und wünschte uns viel Spaß.

Den hatten wir beim Mittagessen in einem kleinen Restaurant in einem Hinterhaus um die Ecke. Gerichte wie von Oma standen auf der Tageskarte und alle freuten sich daran, keine überkandidelten Menüs, sondern Essen wie im Schüleraustausch zu bekommen. Zu den Klängen eines Saxophonspielers schwangen die Seniorinnen ihre Walkingstöcke, der Lieblingsmensch und ich die Hüften zurück zur Kathedrale der Herzen.

Drei Tage vorher hatte ich bei einem Spieleabend um Punkt Mitternacht eine kurze Pause eingelegt und in der offiziellen App für alle kostenfreie Tickets für Notre Dame reserviert, so dass wir uns die lange Warteschlange sparen und zur passenden Uhrzeit direkt hineingehen konnten. Hingerissenes Staunen prägte die nächste Stunde. Fliegende Haare und der Duft nach Sonnencreme die Zeit danach. In Paris gibt es Hop On/Off Busse mit e-Antrieb. Fast geräuschlos cruisen sie durch die Stadt und wir freuten uns an dem vielen Grün und den Fahrrädern, die Intra Muros so schnell erobert haben. Von oben kann man alles sehen, die Handykameras klickten eifrig, nicht nur bei den bekannten Sehenswürdigkeiten. Freude über Kleinigkeiten wie die LV-Zentrale, die wie ein Koffer eingerüstet ist, brachte unsere kleine Reisegruppe zum Lachen. Dass der Fahrtwind mir zwischendurch die Kopfbedeckung entriss, natürlich auch.

Wir bummelten um den Eifelturm und tranken Kaffee in seinem Schatten. Wir schauten auf die Tour Montparnasse und erzählten den Freundinnen meiner Mutter, wie wir beim ersten Familienausflug nach Paris auf der Tour standen und mein Vater nicht bis zum Rand der Aussichtsplattform gehen konnte, weil die Höhe ihn schwindelig machte. Und wie meine Mutter, die oben noch locker gelacht hatte, sich nach der Rückkehr auf die Erde hinsetzen musste, als sie den Turm entlang nach oben sah und sich vorstellte, dass sie gerade dort oben gestanden hatte. Weißt du noch … mischte sich mit Wohin gehen wir jetzt? Erinnerungen an fröhliche Tage in der Vergangenheit mit Lachen aus der Gegenwart.

Wir machten einen Abstecher auf Montmartre und bewunderten Paris von oben. Und weil die Zeit dann doch schon zu Ende ging, nahmen wir ein Taxi zurück zum Bahnhof. Die Seniorinnen flirteten hemmungslos mit dem fröhlichen Taxifahrer und hielten zu dessen großer Freude in genau den richtigen Momenten bei seinen Fahrmanövern theatralisch den Atem an. An roten Ampeln zeigte  er ihnen begeistert aktuelle Nachrichten-Videos auf seinem Smartphone und half ganz Gentlemen allen beim Aussteigen inkl. Komplimenten für ihren Wagemut.

Der Lieblingsmensch und ich brachten die drei zum Gleis, gingen zu unserem Bahnhof, sprangen in den Eurostar und bekamen unterwegs die Nachricht, dass der andere Teil unserer Hochzeitstagsreisegruppe gut wieder zu Hause angekommen war.

In den Tagen danach brannte am Grab meines Vaters eine Kerze aus Notre Dame. Und in der Messenger-Gruppe, die jede gute Reise heute haben muss, wurden Fotos und Erinnerungen geteilt. In der kleinen Wohnung  meiner Mutter hängt demnächst ein frisch gerahmtes Kunstwerk mit einem Liebespaar im Regen. Ich bin überzeugt, es ist ein warmer Mairegen, der schön macht, außen und innen.

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