Der 29. Juni ist einer der Heiligentage, deren Datum ich auswendig weiß. Ein paar sind es geworden in den vergangenen Jahren: Mary Wards Todestag am 30. Januar und natürlich ihr Geburtstag am 23. Januar und dann der 23. eines jeden Monats, an dem ihre Freund*innen ihrer besonders gedenken. Der Ignatiustag am 31.7., Dominikus am 8.8., Katharina von Siena am 29. April. Die verschiedenen Marienfeiertage. Und dann Peter und Paul am 29. Juni.
Wobei dieser Tag bei uns in der Familie nicht „Peter und Paul“ heißt, sondern „Peter und sein Kamerad“. Es ist eine dieser Familiengeschichten, die immer mal wieder erzählt wurde und die mir schon sehr früh im Gedächtnis geblieben ist. Sie handelt von Menschen mitten im Krieg. Von meinem Großvater in der Eifel, auf dessen Schoß ich die Märchen der Brüder Grimm und Eifler Sagen gehört habe. Auf dessen Knien ich saß und lauschte, wenn er von früher erzählte. Der die besten „Pädscher“ machte – Brotstücke mit Butter und ein wenig Salz, mit denen wir Enkel flüssiges Eigelb aus dem Frühstücksei auftunken konnten. Der immer ein wenig nach Heu roch und der die Arme so auf den Lehnen seines Stuhl ablegen konnte, dass es aussah, als sei er damit verwachsen.
Von diesem Großvater also, der mit seinem kaputten Bein nicht in den zweiten Krieg ziehen musste. Der auf seinem Bauernhof schuftete und dazu einen Kriegsgefangenen zugeteilt bekam. Der diesem später das Leben rettete, unter Einsatz seines eigenen, ohne dass je ein Aufhebens darum gemacht worden wäre. Dieser Opa Christoph wunderte sich also an einem 29. Juni, dass sein Knecht, Stallbursche, Hofhelfer – wie mag er ihn genannt haben? – morgens nicht zum Melken erschien. War er krank? Hatte er sich verletzt? Als man ihn suchte und fand und um Auskunft bat, erklärte der junge Mann in seinem zusammengeklaubten Deutsch: Nix arbeiten Maria flieg in die Luft, nix arbeiten Peter und sein Kamerad. Im Vorjahr hatte er also an Mariä Himmelfahrt freigehabt. Und da für ihn Peter und Paul ein mindestens ebenso bedeutsamer Feiertag war, ging er davon aus, dass er nun ebenfalls frei habe.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob und wie die Geschichte weiterging. Habe ich je nachgefragt, ob der junge Mann aus Russland dann doch noch arbeiten musste? Oder ob er den Tag wirklich als Feiertag verbringen konnte?
Was sich mir aber eingeprägt hat, neben dem lustigen Namen für den Tag, ist das Gefühl, dass es noch eine andere Wirklichkeit gibt. Dass Menschen ganz verschieden sein können. Dass es dadurch zu Missverständnissen kommen kann. Und dass diese sich mit einem Lachen auflösen lassen, auch wenn der ursprüngliche Anlass für das Problem in keinster Weise beseitigt oder geklärt ist.
Mein Vater, der die Geschichte auch nur vom Hörensagen kannte – 1941 geboren war er zu klein, um sich selbst daran zu erinnern -, erzählte die Geschichte immer mit einem Lächeln in Augen und Mundwinkeln. Mit Grübchen und Lachfalten. Ein wenig verschmitzt. Er hätte sie auch empört erzählen können. Mit deutlich sichtbarem Unverständnis über diesen Faulpelz, dem jede Gelegenheit recht war, sich vor der Arbeit zu drücken. Mit Häme. Mit schlecht verborgener Abneigung gegen Menschen, die Dinge anders kennen und anders machen.
In diesem Jahr, wo meine Nerven nach mehr als 3 Monaten Pandemie ein wenig dünn geworden sind, ruft mir dieser 29. Juni also das gemeinsame Lachen ins Gedächtnis. Wir können die Ursache für die Probleme, über die wir täglich stolpern, für die Sorgen und Nöte, nicht mal eben im Handstreich erledigen. Aber anstelle von Empörung und Unwillen können wir Fragen stellen. Gemeinsam lachen. Ab und an einen Tag Auszeit nehmen. Und dann zusammen weitermachen. Bis Maria flieg in die Luft am 15. August. Und auch darüber hinaus.