Da sitze ich mit der ehemaligen Arbeitskollegin, die eine Freundin geworden ist. Längst arbeiten wir beide woanders – ich in der gleichen Stadt, sie noch nicht einmal im gleichen Land wie damals. Aus Asien kommt sie gerade, macht einen Zwischenstopp, um die Schwiegerfamilie in Spe zu besuchen. Fliegt dann weiter, die Kinder in Sommercamps in zwei weiteren Ländern einsammeln, den Liebsten dazusammeln und dann auf in die neue Heimat, immerhin sind wir diesmal auf dem selben Kontinent.
Wir sehen uns selten, verfolgen die Wege der anderen – die immer ähnlichen bei mir und die weltweiten bei ihr – online, winken uns ab und an virtuell zu und genießen die wenigen Stunden beim Kaffee, beim Mittagessen oder wie heute beim Frühstück. Unausgeschlafen beide, aber nur eine gejetlagged.
Wir erzählen uns von unseren Erfahrungen, unseren Leben. Wir zeigen uns Fotos, knüpfen an gemeinsame Erinnerungen an und kommen vom Austausch der Eckdaten schnell zu Wesentlicherem. Wir gleichen unsere Erfahrungen mit Gleichberechtigung ab, staunen darüber, welche tollen Menschen und vor allem Frauen wir kennen und darüber, dass wir dazugehören, zu diesen Frauen. Wir berichten uns von Träumen und Projektideen, von kleinen Alltagsstreitereien und den große Konflikten, die entstehen, wenn unterschiedliche Weltanschauungen so aufeinanderprallen, dass der eine dem anderen die seine nicht lassen will oder kann. Wir erzählen uns von den bitteren Momenten, die man online so selten zeigen mag und davon, wie wir sie durchschritten haben. Wir lachen zusammen, bekommen Gänsehaut von dem, was die jeweils andere erzählt und zwischendurch schweigen wir einfach und genießen es, Zeit miteinander zu teilen.
Das Auftauen und Annähern überspringen wir und sind quasi direkt wieder vertraut, als hätten wir erst letzte Woche einen langen Abend miteinander verbracht. Die Grenzen, die das Leben zwischen uns legt, wir überspringen sie mühelos.
Mit den geographischen Grenzen ist das hingegen ganz anders. Mit ihrem Pass, den kein EU-Land ausgegeben hat, überwindet die Freundin die Grenzen eben nicht mühelos. Die Stempel darin erzählen die Geschichte immer nur von der Erfolgsseite, zeigen, wo Grenzen sich geöffnet haben, überwunden wurden. Sie sagen nichts darüber aus, wie sehr die weniger Privilegierten sich anstrengen müssen, um diese Grenzen zu überwinden. Sie erzählen nichts von den nagenden Fragen bei der Einreise, von der allzu oft klebrigen Neugier und den unverhohlen feindlichen Blicken.
Sie halten die bohrenden Fragen nicht fest. Nur einen Tag in unserem Land? Was wollen Sie denn hier? Haben Sie ein Ticket, mit dem Sie auch sicher wieder verschwinden? Geht das hier alles mit rechten Dingen zu? Wo waren Sie vorher? Oha, ist das nicht dieses Land in dem [hier beliebiges abwertendes Vorurteil einsetzen]? Und was haben Sie da alles dabei? Ist die Reisetasche nicht verdächtig klein oder groß? In jedem Fall verdächtig.
Als ich selbst noch zum humanitären Reiseclub gehörte, und sei es nur als Gast-Außenseiterin, war das anders. Zum einen hatte mein Pass das richtige Titelbild, zum anderen waren die Blicke eher anerkennend, so, als stünde ich auf der richtigen Seite. Heute stuft man sie als ‚Gutmensch‘ ein, eine seltsam Verrückte, die man misstrauisch beäugt.
Und die Moral von der Geschicht‘? Was weiß denn ich. Aber heute ist mal wieder einer dieser Tage, an denen ich es noch weniger verstehe als sowieso schon, wieso das Abgrenzen und Ausschließen so in Mode gekommen sind. Und an denen ich mir wünsche, dass wir Wege zueinander finden, egal ob die Grenzen geographische sind oder solche, die wir in unseren Köpfen und Herzen errichtet haben.