Archiv für den Monat: Oktober 2018

Lichtspiel im Rheintal und darüber hinaus

Nebel liegt über dem Rheintal. Nicht leichte, glitzernde Schwaden direkt über dem Wasser, wie sie vor wenigen Wochen die Luft mit den ersten Strahlen der Morgensonne zum Funkeln und Meckerfreunde in der Bahn zum Verstummen brachten. Nein, dichter, weißer Nebel ist es, der das Tal und die gegenüberliegenden Hügel einhüllt. Nur der Fluss ist zu sehen oder das, was von ihm übrigblieb.

Vergebens halten die Kinder in meinem Waggon Ausschau nach den berühmten Burgen. Gut getarnt verstecken sie sich hinter der Nebelwand. Sie haben ein altes, abgeliebtes Bilderbuch dabei, das kitschig gezeichnet das Rheintal zeigt, auf dem sie die Finger hin und her schieben. Anhand der Uhrzeit versuchen sie zu schätzen, an welcher Burg wir gerade vorbeifahren könnten und wie diese aussieht. Ist es die mit dem großen, runden Turm? Oder doch die mit den vielen kleineren Türmchen?

Ab und an blitzen am gegenüberliegenden Ufer die im Tal gelegenen Häuser auf, lässt sich eine Fachwerkfassade oder ein Restaurant-Schriftzug erahnen. Einer hat den Nebel aber so weit vertrieben, dass man ihn ansehen kann: Ein kleiner, in sich zusammengesunkener Vater Rhein fließt langsam in die entgegengesetzte Richtung. In seiner Mitte stehen trockenen Fußes Menschen mit Messgeräten. Sie mussten kein Boot nehmen, so weit ist das Wasser zurückgewichen. Fast hat man den Eindruck, sie könnten die roten Bojen, die die Fahrtrinne markieren, mit einem langen Arm ans provisorische Ufer ziehen.

Alt geworden sieht er aus, der Fluss, an dem ich so oft schon vorbei gefahren bin; erschöpft, resigniert. Von seiner sonstigen Erhabenheit ist nichts übriggeblieben. Auch von der Menge der Schiffe, die man sonst mit dem Zug überholt, ist kaum etwas zu sehen. Und die, die noch da sind, sind kaum beladen, niedrig sind sie, die Kohle- und Kiesladungen.

Der Nebel hüllt uns ein, die kleine Gemeinschaft in dem übervollen Eurocity. Kein Internetempfang, kein Telefonnetz – fast fühlt es sich an, als gebe es sonst nichts auf der Welt als die Menschen in diesem kleinen Raum und den kleingewordenen Fluss.

Doch dann, ganz plötzlich, kurz vor Sankt Goarshausen, bricht die Nebelwand auseinander. Ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen kitzeln sich ihren Weg durch die kalten Glieder des Nebelkönigs und hüllen die Loreley in helles Licht. Stolz wirft Vater Rhein das Glitzern aus seinen stillen Wellen zurück. Im Zug wird es zwei Stufen stiller, Blicke heben sich aus Büchern und von Displays, Lächeln schleichen sich in Gesichter, die Großeltern der burgenliebenden Kinder zeigen flüsternd auf die Felsnase und die Überdachung der großen Freileichtbühne, die man von unten sehen kann.

Heute würde hier kein Fischer, kein Kahn in den Fluten versinken. Zu deutlich sind die Felsen zu sehen, von denen die in güldenes Haar gehüllte Sirene die Unglücklichen abzulenken versuchte. Hart und hoch und schwarz ragen sie aus dem Wasser, wie von Riesenhänden ins Gestein gekratzt.

Die Sonne bricht sich in den Fahnenmasten auf dem Gipfel und ich muss daran denken, wie wir als Schülerinnen dort oben mit den Blockflöten die Geschichte der Nymphe mit dem goldenen Haar und dem verlockenden Kamm spielten und die Klassenkameraden dazu sangen. Mit einem Sonderzug für die ganze Schule sind wir damals angereist und während die Großen nach Köln oder Bonn ins Museum weiterratterten, stiegen wir Kleinen hinauf auf den Felsen und picknickten mit Blick auf das Rheintal. Zum ersten Mal hörte ich damals von den Reisen des jungen Goethe, von Rheinromantik und den Nibelungen. Die gleiche Lehrerin, die meine Liebe fürs Französische und für Frankreich weckte, die Neugier auf andere Menschen und Meinungen unterstützte und uns lehrte, dass Sprachenlernen manchmal auch über das Nachkochen von Rezepten und Besichtigen von Käsereien gelingt, sie verstand es, Zusammenhänge zwischen Literatur und Kunst und Musik und Natur für einen kurzen Moment in mir wach werden zu lassen. Und eine Ahnung davon, dass es möglich ist, dies mit Worten festzuhalten und sich von den Worten in neue, fremde Welten und Gedanken mitziehen zu lassen. Ich erinnere mich noch an das Leuchten ihrer Augen, als sie uns oben auf dem Berg, den Rhein im Rücken, von Siegfried und dem Rheingold erzählte. Schnell war das damals vergessen, in keiner Weise rechnete ich damit, dass mir dieser Moment bleiben würde. Doch seit einigen Jahren muss ich jedes Mal, wenn ich auf der Lieblingsbahnstrecke unterwegs bin, wieder daran denken. Auch in grauen Stunden und schweren Tagen ist es eine schöne, frohe Erinnerung. Ob sie es wohl ahnt, dass ein Ausflug vor fast 30 Jahren noch immer nachhallt?

Auch, dass ich abends von einer Nachbarin am Bahnhof abgeholt wurden, weil mein Vater einen Radunfall hatte und wir statt der üblichen Ausflugsende-Bratkartoffeln Krankenhausbrote bekamen, weiß ich noch und erinnere es doch viel seltener. Erfahrungen wie die auf der Loreley  haben Spuren in mir hinterlassen wie die Narbe es auf Papas Arm tat: Etwas habe ich mitgenommen, was im Alltag kaum auffällt, sich aber immer wieder in Erinnerung ruft.

Noch heute weiß ich den Text der Loreley-Ballade in Gänze auswendig und singe in inwendig vor mich hin, während der Zug sich durch die nächsten Tunnel schlängelt. Am Ende der Röhrenreihe hat der Nebelkönig das Regiment wieder an sich gerissen, doch nicht für lange. Kaub – auf einer übergroßen Insel, wie ich sie in all den Jahren nicht gesehen habe – reckt den Sonnenstrahlen seine weiß-roten Farben und sein leuchtend schwarzes Dach entgegen.

In Bingen leuchtet der Mäuseturm schon in der Sonne, der graue Himmel hat aber noch nicht ganz begriffen, dass er die Schlacht verloren hat und sein Blau nun nicht mehr lange verbergen kann. Die Weinberge erzählen es ihm mit leuchtend gelb-orange-roten Blättern und dem ein oder anderen Hang, an dem noch taufeuchte, in der Sonne leuchtende Trauben auf den ersten Frost und die Eisweinlese warten.

Zwischen Mannheim und Vaihingen schaue ich dem Fangenspiel zwischen Nebelkönig und den Sonnenkindern zu. Der König hat seinen dicken Mantel abgelegt und lässt aus seinen Fingerspitzen spielerische Wolkenbänder schlängeln. Wie mit einem groben Schwamm zu einem eigenwilligen Muster verwischt zeigt der Himmel sich in grau-blau. Des Königs Schwager Wind hat hier noch keine Audienz gegeben und so toben die Sonnenkinder durch tausendfarbig bunte, dicht belaubte Blätterreihen. Schnell werden sie erwachsen und in Göppingen tun sie schon ganz ernst wie ein echter Spätsommertag, als seien sie nicht gerade erst den Kinderschuhen entwachsen.

Farbenrausch

Ich öffne das Fenster zum Lüften und schaue ins morgenkalte Schwarz. Vor ein paar Tagen war es draußen noch orange-gelb-rosa, als ich aufstand. Zum Meditieren setze ich mich vor das große Fenster und lasse mich vom immer heller werdenden Blau umscheinen. Ganz dunkel wie eine Decke ist es. Umfängt mich wie der Schlaf. Das Licht der Straßenlaterne reicht nicht bis zum Fenstersims und so sitze ich still und lasse mich umhüllen, bis das Blau auch in mir Raum nimmt, mich ausfüllt und mit jedem Atemzug hinein und hinausströmt.

Als würde mein Atem die Dunkelheit ein und wieder aussaugen und dabei einen Teil davon verschlucken, wird es langsam und fast unmerklich heller. Ich habe die Augen geschlossen und ahne die Veränderung von tiefem dunkelblau zu blaugrauem meerblau, zu brechende-wellen-grün-blau und schließlich zu nebeldurchzogenem himmelgraublau mehr als dass ich sie sehe.

Als ich aufstehe ist es eindeutig Tag geworden. Ein junger Tag noch, aber eindeutig ein Tag. Auf dem Weg zu Bahnhof spielt die Sonne mit dem Frühnebel Verstecken und verrät dabei ständig ihren Standort, weil sie auf dem Weg hinter die nächste Nebelschwade rote, gelbe, rosafarbene und orange Spuren hinterlässt.

Beim Warten auf die Bahn wird klar, wer das Spiel gewonnen hat und die Sonne färbt die Backsteinfassade der Konservenfabrik mit diesem besonderen Herbstgold, das es nur im Oktober gibt. Fast mag ich nicht einsteigen, doch auch der Blick aus dem Bahnfenster beschenkt mich mit Farben und Licht. Der kleine Schlossteich hat nur wenig Wasser, doch es reicht, um das Sonnengold und die Rot-Gelb-Beige-Braun-Töne der Bäume um den Teich herum glitzernd zu reflektieren.

Im Büro muss ich die Sonne ein wenig ausschließen, damit ich den Bildschirm sehen kann. Früher als noch vor wenigen Wochen ist sie hinter die Fassade des gegenüberliegenden Bürohauses gewandert, so dass nicht mehr Lichtstreifen, sondern sanftes goldenes Leuchten das Büro und die Domspitzen umfängt. Kurz bricht sich das Nachmittagsgold in einem Fenster im Innenhof und zeigt deutlich, dass es verwandt ist mit dem Gold über der Fabrikhalle am Morgen, aber es ist eher eine Cousine als eine Zwillingsschwester und blitzt frech, um die ihm zustehende eigene Bewunderung abzubekommen.

Wie eine Waffel mit Puderzucker ist die Stadt mit Abendlicht überzogen, als ich wieder zum Bahnhof gehe. Ich lasse mir Zeit, nehme nicht die Straßenbahn, sondern bummle durch das rötlicher werdende Licht in Richtung Zug. Unterwegs kommt das Blau zurück und mischt sich langsam und unauffällig unter das Rot und Gold und färbt es zu Rosa um. Je nähe ich den Gleisen komme, desto größer wird das Blau und desto verwunschener werden die rosa-grau-dunkelblauen Farbbänder.

Als ich aussteige, ist die blaue Stunde ganz dunkelblau geworden. Durch das samtene Licht lasse ich mich über einen Umweg über die Felder nach Hause treiben. Die Äste der Bäume verstecken sich immer weiter im Blau, nur das leise Rascheln einzelner fallender Blätter verrät sie noch. Als ich die Tür aufschließe, atme ich wieder schwarze Ruhe ein. Doch nicht lange. Drinnen umfängt mich die Helligkeit der Leselampe und das noch wärmere Licht eines Lächelns.

Urlaubserinnerungen

Wirbelnd treibt der Wind den feinen Sand vor sich her, die Gischt der Wellen spritzt so hoch, dass sie die Spaziergänger auf dem Pier von unten durch die Ritzen zwischen den Planken durchweicht und sie kichernd zur Seite springen.

Auch beim Spaziergang durch das Belle-Epoque-Innenstädtchen werden wir ordentlich durchgepustet. Der Wind wechselt die Seiten, kommt von vorne und hinten, rechts und links, sogar von oben und unten. Er wirbelt alles durcheinander, außen wie innen, und nimmt das Gedankenchaos mit. Vielleicht ist er genau darum gekommen, um uns in den den kurzen Urlaubstagen so viel Erholung zu schenken, wie möglich. Mit seinen kräftigen Böen pustet er den Stress, die Erschöpfung, das Ausgelaugtsein und den Gedankenmischmasch erst durcheinander und dann davon, bis wir nur noch im Jetzt da sind und an nichts anderes denken als an das Rauschen des Meeres und die Schreie der Vögel, an die vorbeitreibenden Wolken und das immer neue Heranrollen der Wellen.

Auf dem Rückweg zur Strandpromenade hat Herr Wind sich in der kleinen, steil ansteigenden Gasse fangen lassen und bläst so stark, dass wir uns gegen ihn stemmen und mit ihm kämpfen müssen, um voranzukommen. Wir ziehen die Jacken fest um uns, um keine zusätzliche Angriffsfläche zu bieten. Die Köpfe eingezogen und die Schultern in den Wind gestemmt, sehen wir aus wie Bäume, die lange im Wind standen – schief und gebeugt.

Oben angekommen lässt der Druck plötzlich nach und fast fallen wir nach vorne und purzeln übereinander. Stolpernd und gegeneinander taumelnd schaffen wir es gerade so, auf den Beinen zu bleiben. Unser Lachen nutzt der dreiste Wind, um uns Sandkörnchen und Gischtfetzen in den Mund zu pusten.

Außer Atem retten wir uns auf den Balkon unseres Zimmers und freuen uns daran, wie der Wind nicht mehr uns, sondern nur noch die Nordseewellen in Wallung bringt.

Des einen Freud…

Wir fühlen uns, als wären wir in eine lebende Kitschpostkarte gefallen. Dabei wussten der Lieblingsmensch und ich doch genau, was uns erwartet, wenn wir nach Brügge fahren. Wie in fast allen alten flämischen Städten gibt es hier Spätmittelalter-Romantik in Hülle und Fülle. Prachtvolle Backsteinhäuser, einen beeindruckenden Belfried, reich verzierte Fassaden und prachtvolle Kirchen. Das kennt man j aus Brüssel (OK, das ist nicht flämisch), aus Gent, aus Leuven, … In Brügge fühlt sich das alles allerdings tausendfach potenziert an.Häuer und eine Gracht in Brügge

Schon als ich Anfang der 2000er Jahre bei einem Praktikum dort war, gab es Touristen ohne Ende in der Stadt. Seit es in Zeebrügge das große Kreuzfahrtterminal gibt, hat sich auch die Zahl der Touristen potenziert, sie kommen busladungsweise und eilen freizeituniformierten Ausflugsbegleitern mit Schirmchen in Unternehmensfarben hinterher.

Wären da nicht die vielen Touristen und die dazugehörige Infrastruktur (Pommesbuden, Souvenirläden, Waffelstände), man könnte meinen, in Brügge wäre die Zeit stehengeblieben. Kein Krieg, kein großflächiges Feuer hat die Altstadt zerstört.Oude Markt, der Alte Markt, in Brügge

In Hamm wurde unsere Hochzeitsgesellschaft darauf hingewiesen, dass wir in einem von nur einer Handvoll historischen Häusern getraut würden ;der Rest ein Opfer des Krieges – Kunstpause – des dreißigjährigen Krieges. Die Kölner Innenstadt ist seit 1945 nicht wiederzuerkennen. In Rennes hatte ein Feuer einen großen Teil der Altstadt hinweggerafft – am Kranz der Fachwerkhäuser um die Innenstadt kann man die Brandlinie noch heute gut erkennen. Nur in Brügge ist noch fast alles, wie es war. Zeugt von Macht (der Herzöge von Burgund), von Reichtum (durch die Textilindustrie) und wirtschaftlichem Selbstbewusstsein (selten habe ich so schlecht gelaunte steinerne Türwächter gesehen wie am Rathaus von Brügge, die Mitglieder der Handelskontore umschmeicheln – hier nicht).Häuser in der Altstadt von Brügge

Zur Wahrheit gehört aber auch: Dass das alles so gut erhalten ist, zeugt auch von Machtverlust, Armut und Bedeutungslosigkeit. Denn mit der Neuzeit kam die Versandung des Zwin, ohne Nordseezugang kein Handelszentrum, ohne Handelskontore und Adelssitz keine Einnahmen, ohne renommierte Universität keine wissenschaftliche Bedeutung. Jahrhundertelang lebte man nicht mehr in Brügge, sondern überlebte, mit Ach und Krach.

Gerne hätte man wohl teilgehabt an der Industrialisierung. Aber ach, Antwerpen und all die anderen mit sandfreien Meereszugängen, mit großen, schiffbaren Flüssen und attraktiven Konditionen für Investoren, waren so viel attraktiver. Fabriken und Arbeitsplätze? Entstehen andernorts. Kanalisation? Wird zuerst woanders gebaut. Gut gefüllte Marktstände? Nur dort, wo auch Menschen waren, die die Produkte bezahlen konnten.Altstadt von Brügge

Wer durch die Straßen und Gässchen schlendert, über die Brücken der Reies (so heißen hier die Grachten) geht, im Café am Oude Markt eine der besten Waffeln ever isst, sieht diesen Teil der Geschichte nicht. Dabei hat gerade sie die heutige Pracht möglich gemacht. Wer arm ist, reißt die bestehenden Häuser nicht ein, um neue, dem aktuellen Zeitgeist entsprechende zu bauen. Wer ums Überleben kämpft, zieht keine Stararchitekten an. Wer am Hungertuch nagt, bewahrt Traditionen und klöppelt Spitze – und ist gezwungen, sie zu einem Hungerlohn zu verkaufen.

Sollen wir also alle mit einem schlechten Gewissen durch das Schmuckkästchen spazieren? Natürlich nicht. Aber der Gedanke, dass das, was wir als schon immer dagewesene Tradition begreifen, das, was wir auf den ersten Blick schnell als romantisch und verwunschen einstufen, bei einem zweiten Blick vielfältiger, vielschichtiger, komplexer ist als wir vermuteten – dieser Gedanke könnte uns auch begleiten, wenn wir zurückgekehrt sind in unseren weniger kitschigen, aber immer wieder auch auf den ersten Blick erfassbar scheinenden Alltag.