Nebel liegt über dem Rheintal. Nicht leichte, glitzernde Schwaden direkt über dem Wasser, wie sie vor wenigen Wochen die Luft mit den ersten Strahlen der Morgensonne zum Funkeln und Meckerfreunde in der Bahn zum Verstummen brachten. Nein, dichter, weißer Nebel ist es, der das Tal und die gegenüberliegenden Hügel einhüllt. Nur der Fluss ist zu sehen oder das, was von ihm übrigblieb.
Vergebens halten die Kinder in meinem Waggon Ausschau nach den berühmten Burgen. Gut getarnt verstecken sie sich hinter der Nebelwand. Sie haben ein altes, abgeliebtes Bilderbuch dabei, das kitschig gezeichnet das Rheintal zeigt, auf dem sie die Finger hin und her schieben. Anhand der Uhrzeit versuchen sie zu schätzen, an welcher Burg wir gerade vorbeifahren könnten und wie diese aussieht. Ist es die mit dem großen, runden Turm? Oder doch die mit den vielen kleineren Türmchen?
Ab und an blitzen am gegenüberliegenden Ufer die im Tal gelegenen Häuser auf, lässt sich eine Fachwerkfassade oder ein Restaurant-Schriftzug erahnen. Einer hat den Nebel aber so weit vertrieben, dass man ihn ansehen kann: Ein kleiner, in sich zusammengesunkener Vater Rhein fließt langsam in die entgegengesetzte Richtung. In seiner Mitte stehen trockenen Fußes Menschen mit Messgeräten. Sie mussten kein Boot nehmen, so weit ist das Wasser zurückgewichen. Fast hat man den Eindruck, sie könnten die roten Bojen, die die Fahrtrinne markieren, mit einem langen Arm ans provisorische Ufer ziehen.
Alt geworden sieht er aus, der Fluss, an dem ich so oft schon vorbei gefahren bin; erschöpft, resigniert. Von seiner sonstigen Erhabenheit ist nichts übriggeblieben. Auch von der Menge der Schiffe, die man sonst mit dem Zug überholt, ist kaum etwas zu sehen. Und die, die noch da sind, sind kaum beladen, niedrig sind sie, die Kohle- und Kiesladungen.
Der Nebel hüllt uns ein, die kleine Gemeinschaft in dem übervollen Eurocity. Kein Internetempfang, kein Telefonnetz – fast fühlt es sich an, als gebe es sonst nichts auf der Welt als die Menschen in diesem kleinen Raum und den kleingewordenen Fluss.
Doch dann, ganz plötzlich, kurz vor Sankt Goarshausen, bricht die Nebelwand auseinander. Ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen kitzeln sich ihren Weg durch die kalten Glieder des Nebelkönigs und hüllen die Loreley in helles Licht. Stolz wirft Vater Rhein das Glitzern aus seinen stillen Wellen zurück. Im Zug wird es zwei Stufen stiller, Blicke heben sich aus Büchern und von Displays, Lächeln schleichen sich in Gesichter, die Großeltern der burgenliebenden Kinder zeigen flüsternd auf die Felsnase und die Überdachung der großen Freileichtbühne, die man von unten sehen kann.
Heute würde hier kein Fischer, kein Kahn in den Fluten versinken. Zu deutlich sind die Felsen zu sehen, von denen die in güldenes Haar gehüllte Sirene die Unglücklichen abzulenken versuchte. Hart und hoch und schwarz ragen sie aus dem Wasser, wie von Riesenhänden ins Gestein gekratzt.
Die Sonne bricht sich in den Fahnenmasten auf dem Gipfel und ich muss daran denken, wie wir als Schülerinnen dort oben mit den Blockflöten die Geschichte der Nymphe mit dem goldenen Haar und dem verlockenden Kamm spielten und die Klassenkameraden dazu sangen. Mit einem Sonderzug für die ganze Schule sind wir damals angereist und während die Großen nach Köln oder Bonn ins Museum weiterratterten, stiegen wir Kleinen hinauf auf den Felsen und picknickten mit Blick auf das Rheintal. Zum ersten Mal hörte ich damals von den Reisen des jungen Goethe, von Rheinromantik und den Nibelungen. Die gleiche Lehrerin, die meine Liebe fürs Französische und für Frankreich weckte, die Neugier auf andere Menschen und Meinungen unterstützte und uns lehrte, dass Sprachenlernen manchmal auch über das Nachkochen von Rezepten und Besichtigen von Käsereien gelingt, sie verstand es, Zusammenhänge zwischen Literatur und Kunst und Musik und Natur für einen kurzen Moment in mir wach werden zu lassen. Und eine Ahnung davon, dass es möglich ist, dies mit Worten festzuhalten und sich von den Worten in neue, fremde Welten und Gedanken mitziehen zu lassen. Ich erinnere mich noch an das Leuchten ihrer Augen, als sie uns oben auf dem Berg, den Rhein im Rücken, von Siegfried und dem Rheingold erzählte. Schnell war das damals vergessen, in keiner Weise rechnete ich damit, dass mir dieser Moment bleiben würde. Doch seit einigen Jahren muss ich jedes Mal, wenn ich auf der Lieblingsbahnstrecke unterwegs bin, wieder daran denken. Auch in grauen Stunden und schweren Tagen ist es eine schöne, frohe Erinnerung. Ob sie es wohl ahnt, dass ein Ausflug vor fast 30 Jahren noch immer nachhallt?
Auch, dass ich abends von einer Nachbarin am Bahnhof abgeholt wurden, weil mein Vater einen Radunfall hatte und wir statt der üblichen Ausflugsende-Bratkartoffeln Krankenhausbrote bekamen, weiß ich noch und erinnere es doch viel seltener. Erfahrungen wie die auf der Loreley haben Spuren in mir hinterlassen wie die Narbe es auf Papas Arm tat: Etwas habe ich mitgenommen, was im Alltag kaum auffällt, sich aber immer wieder in Erinnerung ruft.
Noch heute weiß ich den Text der Loreley-Ballade in Gänze auswendig und singe in inwendig vor mich hin, während der Zug sich durch die nächsten Tunnel schlängelt. Am Ende der Röhrenreihe hat der Nebelkönig das Regiment wieder an sich gerissen, doch nicht für lange. Kaub – auf einer übergroßen Insel, wie ich sie in all den Jahren nicht gesehen habe – reckt den Sonnenstrahlen seine weiß-roten Farben und sein leuchtend schwarzes Dach entgegen.
In Bingen leuchtet der Mäuseturm schon in der Sonne, der graue Himmel hat aber noch nicht ganz begriffen, dass er die Schlacht verloren hat und sein Blau nun nicht mehr lange verbergen kann. Die Weinberge erzählen es ihm mit leuchtend gelb-orange-roten Blättern und dem ein oder anderen Hang, an dem noch taufeuchte, in der Sonne leuchtende Trauben auf den ersten Frost und die Eisweinlese warten.
Zwischen Mannheim und Vaihingen schaue ich dem Fangenspiel zwischen Nebelkönig und den Sonnenkindern zu. Der König hat seinen dicken Mantel abgelegt und lässt aus seinen Fingerspitzen spielerische Wolkenbänder schlängeln. Wie mit einem groben Schwamm zu einem eigenwilligen Muster verwischt zeigt der Himmel sich in grau-blau. Des Königs Schwager Wind hat hier noch keine Audienz gegeben und so toben die Sonnenkinder durch tausendfarbig bunte, dicht belaubte Blätterreihen. Schnell werden sie erwachsen und in Göppingen tun sie schon ganz ernst wie ein echter Spätsommertag, als seien sie nicht gerade erst den Kinderschuhen entwachsen.