Mitten im Nirgendwo, auf einem einsamen Hügel mit einem grandiosen Blick auf die Bucht von Audierne stehen wir bei strahlendem Sonnenschein und versuchen uns vorzustellen, wie es hier in der Mitte des 15. Jahrhunderts ausgesehen hat. Damals war Saint-Jean-Trolimon eine pulsierende Metropole mit mehr als 10.000 Einwohnern, einem florierenden Handelsleben und einem stinkreichen Dominikanerkonvent. Das erzählt uns zumindest die freundliche Kunstgeschichtsstudentin, die uns herumführt.
Ganz kostenlos, übrigens. Das gibt es an vielen französischen Orten in den Sommermonaten und wenn ihr irgendwo seid, wo solche Freiwilligen ihre Dienste anbieten, dann macht das ruhig. Man erfährt wunderbare Dinge, die zwar auch im Reiseführer stehen – aber der beantwortet keine Rückfragen. Und natürlich wissen die Menschen, die sowas als Hobby machen, mehr als jedes noch so schlaue Buch und machen aus euren Besuchen eine persönliche Erfahrung.
Julie geht also zweimal mit uns um den Calvaire in Tronoën herum und zeigt uns, in welche Richtung man die in Stein gefassten Geschichten und Bibelszenen lesen muss. Sie weiß, dass der Kalvarienberg aus zwei verschiedenen Steinarten besteht und kennt sich mit deren Eigenschaften aus, so dass sie uns erklären kann, was an welchen Stellen zu Verwitterungen geführt hat. An einer Stelle ist ein Teil eines Kopfes abgebrochen, was vermutlich daher rührt, dass die Menschen früher versucht haben, in die zweite Geschichtenreihe hochzuklettern, um Details besser sehen zu können. „Vielleicht war es auch einer der Mönche oder Priester, der hochgeklettert ist, um der Gemeinde seine Meinung zu sagen und eindrucksvoll mit Zeigen auf die Figuren zu untermalen.“
Wir können den etwas übermotivierten Geistlichen fast vor uns sehen. Genauso wie die entblößten Brüste der jungen Maria, die gerade ein Kind geboren hat – eine durchaus seltene Darstellung, wie Julie fröhlich betont. Ebenso selten wie die doppelte Taufszene, von der man nicht so genau weiß, ob Jesu Taufe einfach zweimal dargestellt wird, ob einmal Johannes der Täufer dargestellt ist oder ob die doppelte Szene eine ganz andere Bedeutung hat. Dafür weiß man dank historischer Zeichnungen deutlich genauer, wie die Szene der Verführung von Adam und Eva im Paradies vor der starken Verwitterung ausgesehen hat – so bunt bemalt wie die alte Zeichnung war der gesamte Calvaire.
Dass Jesus in allen Szenen am größten dargestellt ist, wäre uns vermutlich alleine ebenso wenig aufgefallen wie die Tatsache, dass die Kleidung der heiligen drei Könige der Mode der Bauzeit des steinernen Religionsunterrichts entspricht.
Auch die Tatsache, dass der tote Jesus in den Armen seiner Mutter (die Darstellung der Pieta am mittleren Kreuz), mit der ausgestreckten Hand auf die darunter dargestellte Auferstehungsszene zeigt, ist ein Details, das ich alleine vermutlich nicht erkannt hätte.
Und vermutlich hätten wir den „Guetteur“, den Späher an der Kirche auch nicht gefunden – schließlich wurde er vom Eingangsportal fast komplett zugebaut und erspäht seither höchstens die eine oder andere Flechte auf dem Granit. Trotzdem erinnert er an die Zeit, als man hier oben – aus gutem Grund – Ausschau nach den Angelsachsen halten musste.
Der Calvaire ist nicht der bekannteste, dafür aber der älteste Kalvarienberg der Bretagne. Wir haben in den vergangenen Jahren einige große und kleinere Calvaires besucht und der in Tronoën ist durchaus einer meiner Liebsten.
Im Sommer ist übrigens montags vormittags rund um die Kirche ein kleiner Kunsthandwerkermarkt, bei dem man bei live Harfenmusik mit den Ausstellern ins Gespräch kommen kann. Und so erfährt man dann, dass es in dem heute kleinen Ort Saint-Jean-Trolimon gleich zwei Bronzegießer gibt und dass einer von ihnen mit den Wissenschaftlern der Uni in Rennes gemeinsam experimentiert. Eine andere Künstlerin zeigte uns, wie sie ihre Radierungen erstellt und ein Imker ließ die Besucher seinen Honig probieren. Kein Vergleich mit dem lebendigen Handelsleben im ausgehenden Mittelalter, aber eine durchaus angemessene Remineszenz. Große Empfehlung!