Wie skaliert man Menschlichkeit? (aus traurig aktuellem Anlass)

Auch wer weder jüdisch noch christlich aufgewachsen ist, kennt vermutlich die sprichwörtliche babylonische Sprachverwirrung. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel, an deren Ende die Menschen sich nicht mehr verstehen können, weil jede:r eine andere Sprache spricht.

Ich habe neulich mal wieder festgestellt, dass das mit dem Nicht-Verstehen gar nicht unbedingt an der Sprache liegen muss. Ich saß mit fünf anderen Frauen an einem Tisch. Wir hatten keine gemeinsame Sprache, also keine Sprache, die wir alle beherrscht hätten. Zwei sprachen Slowakisch, eine Koreanisch, zwei Deutsch und eine Hindi als Muttersprache. Manche sprachen italienisch, andere spanisch, wieder andere englisch und mache der Sprachen verstand die eine oder andere, solange die anderen langsam sprachen.

Und wir hatten alle Hände und Füße und gute Laune. Mehr brauchte es nicht, um einen wunderbaren Abend zu verbringen. Wir haben viel voneinander erfahren – von unseren aktuellen Lebensabschnitten, von dem, was uns bewegt, was wir erhoffen, wovon wir träumen. Da war nicht nur Small Talk, wir wurden ganz schnell wesentlich. Wir kannten uns teilweise vorher, teilweise „nur“ online. Aber trotz des Sprachwirrwarrs habe ich keinen Graben wahrgenommen.

Ich habe diesen Abend, diese Tage sehr genossen. Und ich habe darüber nachgedacht, warum das so gut funktioniert hat. Mit Sicherheit hatte einen wichtigen Anteil, dass wir nicht einfach zufällig zusammenfanden, sondern alle zur Mary-Ward-Familie gehören. Wir lassen uns inspirieren vom Vorbild dieser Frau im 17. Jahrhundert, die neue Wege ging, wo vorher keine waren. Die Grenzen überwand und andere damit ansteckte. Die Solidarität lebte und erfuhr. Und wir wollen das auch.

Ein weiterer wichtiger Grund war sicher, dass dies für uns alle nicht unsere erste internationale Erfahrung war. Wir hatten schon erlebt, dass Sprachbarrieren fallen oder überwunden werden können. Wir alle kannten und kennen das Gefühl, dass Erinnerungen nicht nur visuell sondern auch mit Worten und Sprachen gespeichert werden und unser Herz wärmen können. Wir haben uns getraut – und den anderen ohne Nachdenken zugemutet – zu sagen, wenn wir nicht mehr mitkamen, etwas Wichtiges verpasst hatten. Dann übersetzte eine andere in eine Sprache, die die Fragende verstand. Wir haben im Notfall mit den Händen erklärt und im Zweifel mit dem Herzen gesprochen. Und wir haben viel gelacht – trotz manch schwerer Themen.

Wir waren zudem alle für Technologie offen. Wenn wir irgendwo absolut stecken blieben, war es völlig OK, dass wir das Smartphone zückten und eine für unsere Sprache besonders geeignete App befragten. Das führte nicht zu wilden Diskussionen und grundsätzlicher Ablehnung, sondern war einfach ein Hilfsmittel, Punkt.

Vor allem aber war da eine Art stilles Einverständnis, dass wir wollten, dass unser Austausch gelingt. Es stand gar nicht infrage, dass unsere Neugier aufeinander, unser Wunsch, mehr voneinander zu erfahren, unsere Bereitschaft, Freundschaft entstehen und wachsen zu lassen, größer war als die sprachlichen und kulturellen Differenzen. Da saßen Menschen zusammen, die alle die Grundüberzeugung mitbrachten, dass Verständigung möglich ist, dass Konflikte gelöst werden können, dass Freundschaft – egal wie schwer sie errungen wird – immer weiter trägt als Feindschaft und Konkurrenz. Scheitern wir, die wir da saßen, immer wieder an diesem Anspruch? Na klar. Das hält uns aber nicht davon ab, es immer wieder neu zu versuchen.

Mein Herz hüpft bei solchen Begegnungen, weil eben so viel mehr möglich ist, als die aktuelle Welt- und Nachrichtenlage vermuten lässt.

Eine Frage aber bleibt: Wie lässt sich diese Art der Verständigung, des Einverständnisses, der Solidarität und Zugewandtheit skalieren? Was kann ich dazu beitragen, dass diese Möglichkeit nicht in meinem kleinen, privaten Rahmen bleibt, sondern in die Geschichtsbücher wandert? Auf der Arbeit würde ich fragen: Wie lässt sich diese Erfahrung skalieren? Wie kann aus vielen kleinen Barrieren-überwinden-„StartUps“ eine globale Marktmacht werden? Damit nicht nur die brutale Realität des Unverständnis überliefert wird und überlebt, sondern eine Wirklichkeit, in der Menschen einander die Hände halten, Tränen trocknen, Kälte wegwärmen, Freundschaften pflegen und Herzen. Egal in welcher Sprache.

Zug, Zug, Zug, die Eisenbahn …

„Lassen Sie das lieber bleiben“ sagt die Frau am DB-Schalter. Ich habe vor, mit dem Zug vom rheinischen Vorgebirge ins Urola-Tal mitten in den baskischen Bergen zu fahren. Ein Interrail Ticket (ja, das gibt es auch für Erwachsene) habe ich bereits, aber beim Buchen der passenden Verbindungen stoße ich auf den Hinweis, dass zwischen Irún und San Sebastián Schienenersatzverkehr herrsche und man sich an die Bahngesellschaft des Ausgangspunkts wenden soll, um entsprechende Reservierungen über deren System buchen zu lassen.

Ich frage also bei der Deutschen Bahn und schaue in erstaunte Augen. Ja, tatsächlich, die Dame mit den zahlreichen grauen Haaren und dem bürgerlichen Aussehen will einmal mit dem Rucksack durch halb Europa fahren. Und das auch noch einigermaßen kurzfristig. Nur 6 Wochen Vorlauf habe ich – denn die Anfrage, ob ich nach Loyola kommen möchte, kam einigermaßen überraschend. „Da kriegen Sie doch jetzt sowieso keine Plätze mehr“, werde ich informiert. Außerdem findet die Software der Bahn meinen Zielort nicht (die DB-Navigator-App zeigt ihn mir aber an). Da sei ein sicheres Ankommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln doch mehr als fraglich, höre ich. Und: „Nehmen Sie doch ein Flugzeug. Das ist sicher einfacher.“ Vermutlich hat die DB-Mitarbeiterin recht, denke ich, auch wenn es Direktflüge nach Bilbao nur ab Orten gibt, wo ich aufwändig mit der Deutschen Bahn hinfahren müsste (das größte Risiko, auf der Reise stecken zu bleiben) oder ich fliege von quasi vor der Haustür erstmal 2 Stunden gen Norden, warte dort lange am Flughafen und dann weiter nach Spanien. Auch nicht sehr verlockend.

Je mehr die Bahn-Dame mir die Zugfahrt ausreden will, desto sturer werde ich. Jetzt erst recht, sagt mein Kopf und mein Herz nickt begeistert. In diesem Moment fühle ich mich abenteuerlich und ein wenig verrückt. Auch mal schön.

Ich lade mir also die Interrail-App herunter, suche passende Züge aus, mache die notwendigen Reservierungen für den Eurostar und den TGV für Hin- und Rückfahrt und vertraue auf meine Sprachkenntnisse, um mit dem spanischen Schienenersatzverkehr irgendwie klar zu kommen. Auf dem Papier (ok, auf dem digitalen Papier meiner App), sieht das alles ganz einfach aus: Mit der Regionalbahn nach Köln, mit dem Eurostar nach Paris, dort mit der Métro von der Gare du Nord zur Gare de Montparnasse, dann mit dem TGV nach Hendaye, von da nach San Sebastián und das letzte Stück mit dem Bus nach Loyola. Ich möchte gerne an Allerheiligen ankommen. An Feiertagen nimmt der Eurostar aber keine Interrail-Reisenden mit, also fahre ich am Vorabend und übernachte in Paris, ein paar Schritte von der Gare de Montparnasse entfernt. So weit, so gut.

Passend zu Halloween fängt die Fahrt gruselig an: Der Eurostar meldet, dass er nicht ab Köln, sondern erst ab Brüssel fährt. Um irgendwie nach Brüssel zu kommen, muss ich in dem Moment, in dem die Meldung bei mir ankommt, quasi direkt in die Schuhe schlüpfen, den Rucksack schultern (gut, dass er fertig gepackt bereit steht), die Handtasche mit Portemonnaie und Sonenbrllle schnappen und mit schnellen Schritten zum Bahnhof im Heimatdorf laufen. Ich bekomme zum Glück nach wenigen Minuten eine verspätete Regionalbahn nach Köln. Ich spurte auf Gleis 6 und springe in den ICE nach Brüssel – fast zwei Stunden vor der geplanten entspannten Abfahrt, aber immerhin im Zug.

Der ist erwartungsgemäß total überfüllt. Ich stehe also und lache gemeinsam mit den umstehenden Reisenden über die Durchsage, dass in den Wagen 21 bis 23 etwas mehr Platz in den Fluren sei als im Rest des Zuges. Vor Aachen halten wir außerplanmäßig. Personen im Gleis. Bundespolizei ist informiert. Ein paar Leute steigen aus zum Rauchen. Irgendwann pfeift jemand und es geht weiter. In Aachen geht dem Bordbistro das Wasser aus, für quengelnde Kinder gibt es aber Kinderfahrkarten und supergeduldige Mitarbeiter:innen – die sind an diesem Nachmittag wirklich großartig.

Irgendwann erreichen wir Brüssel. Ich sehe auf der Anzeige, dass ich dort tatsächlich einen früheren Eurostar nach Paris bekommen könnte – der kommt verspätet aus London. Ich frage beim Schalter nach. Der freundliche Herr wundert sich überhaupt nicht. Interrail-Passagiere habe er hier häufig. Er findet direkt die gewünschte Auskunft – dass im früheren Zug zwar Plätze frei seien, aber keine mehr für Interrail-Reisende. Umbuchen daher nicht möglich. Wenn ich trotzdem in den Zug hüpfen möchte, könnte ich den Aufpreis der Reservierung zum Preis der regulären Fahrt zahlen. Ein nettes Angebot, aber ich verzichte, setze mich in den Wartebereich, beobachte das bunte Bahnhofstreiben und freue mich am leckeren Duft der belgischen Pralinen aus dem Shop nebenan.

Der Eurostar steht überpünktlich am Gleis bereit. „Wir kommen ja nicht aus Deutschland“ witzelt die Zugbegleiterin, die beim Einsteigen unsere Tickets kontrolliert. Ich komme pünktlich in Paris an, kaufe mir ein Métro-Ticket und als ich zum Bahnsteig komme, fährt passend die Bahn ein. Darin gibt es viele aufwendig geschminkte Gespenster, Piratinnen und Hexen, die Herren, die dabei stehen, tragen Einheitslook: dunkle Jeans, helles Hemd, Lederjacke oder Teddymantel. Nur einer hat eine Narbe über die Wange geschminkt. Die große Halloweenparty scheint irgendwo bei Les Halles zu steigen, denn dort strömen die Gruselgestalten laut schnatternd aus der Bahn.

Im Hotel bekomme ich die Karte zu meinem Zimmer, die Dusche ist herrlich, ich stelle einen frühen Wecker und falle ins Bett. Am nächsten Morgen nutze ich die Kaffeemaschine im Zimmer, laufe zum Bahnhof, besteige den pünktlichen TGV nach Hendaye, trinke einen weiteren Kaffee an Bord, frühstücke ein Brioche und Äpfel von zu Hause, schlafe eine Runde und wache kurz vor Bordeaux wieder auf. „Reisen Sie schneller und verschmutzen Sie die Umwelt weniger“ zeigt der Bildschirm im Waggon freundlich an, bevor er auf Wickelräume, Defibrillator und das aktuelle Gericht des Monats im Bordbistro hinweist.

Der Nebel hat sich verzogen, die Sonne scheint und ich schaue die nächsten zwei Stunden einfach aus dem Fenster. Ab Biarritz wünscht die freundliche Zugchefin allen, die aussteigen, schöne Ferien und gute Erholung. Kurz vor Hendaye sagt sie an, wie Reisende nach Spanien den Schienenersatzverkehr und seine Tücken umgehen und schnell am Ziel ankommen können. Das Geheimnis heißt Straßenbahn und fährt nur wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt ab. Klar, hier gilt mein Interrail-Pass nicht, aber die zusätzlichen 2,75 Euro bis San Sebastián kann ich gut verschmerzen.

Google Maps bringt mich und meinen Rucksack sicher durch die spanische Hafenstadt, ich mache eine gemütliche Mittagspause im Schatten am Wasser, verspeise mein letztes Reisebrot und steige in den nächsten Bus nach Loyola. Beim Einsteigen treffe ich drei Teilnehmerinnen der Konferenz, zu der ich fahre. Sie kommen aus Brasilien, Chile und Argentinien und sind in etwa genauso lang unterwegs wie ich. Wir freuen uns über den Busfahrer, der baskische Rockmusik mitpfeift und irgendwann zu ABBA wechselt und laut mitsingt. Er erklärt uns den Weg von der Bushaltestelle zum Tagungshaus und hilft beim Ausladen des Gepäcks.

Tldr: Was sich unheimlich abenteuerlich anhörte, entpuppte sich – sobald die DB ihren Job getan hatte – als völlig durchschnittliche, dafür aber herrlich entspannte Reise. Ich freu mich jetzt schon auf die Rückfahrt.

Nähe und Distanz

Nicht erst seit der Pandemie gehört für mich das Internet zu meiner echten Lebenswelt. Soziale Netzwerke verbinden mich mit Menschen – manche vor Ort, andere mithilfe von Technologie. Zwischen Internet und Kohlenstoffwelt klafft für mich kein Graben. Das ist für viele Menschen um mich herum noch immer ungewöhnlich und schwer zu verstehen. Für sie waren Videokonferenzen und Chats, digitale Spieleabende und all die anderen Hilfsmittel ein Überbrückungstool für die Pandemie. Jetzt freuen sie sich, dass das „echte Leben“ wieder mit weniger Bildschirmen auskommt und sie „echte Menschen“ live treffen können.

Auch ich schätze räumliche Nähe, Umarmungen mit Freund:innen, ein gemeinsames Kichern und Anstoßen, gemeinsame Spaziergänge und Essen und und und. Aber digitale Treffen sind für mich nicht weniger echt, nicht weniger live, nicht weniger persönlich und bewegend. Ich ziehe andere Grenzen zwischen Nähe und Distanz, fühle mich manchmal gar bei analogen Begegnungen weiter entfernt von Menschen als bei digitalen Treffen mit anderen, mit denen mich die gleiche Sehnsucht, der gleiche Humor, die gleiche Leidenschaft für Frauenrechte und Leben, Veränderung und Solidarität verbindet.

Die Frau vom Amt, der ich nur einen knappen Meter entfernt gegenübersitze, versteht meine Frage nicht. Wir sprechen beide deutsch, haben die gleichen Unterlagen vor uns und reden doch aneinander vorbei. Großes Interesse an meinem Anliegen scheint sie nicht zu haben und zugegebenermaßen ist auch meine Geduld nur bedingt ausgeprägt. Wir sind uns geografisch so nah wie möglich, aber es scheint, als trennen uns Welten.

Ganz anders neulich mittags. Da saß ich mit Frauen aus verschiedenen Ecken der Welt zusammen. Für mich Europäerin war das bequem, die wunderbare Frau in Toronto ist extra früh aufgestanden, die in Melbourne länger aufgeblieben als es für sie üblich ist. Dazwischen Menschen aus verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Muttersprachen. Wir sprechen alle gut englisch, aber für manche Nuance, manche noch nicht ganz ausgegorene Idee brauchen wir Hände und Füße, Emojis und schnell gegoogelte Unterstützung in der Muttersprache einer der anderen. Wir lachen und seufzen, reden durcheinander und dann wieder eine nach der anderen, nicken zustimmen, wiegen nachdenklich die Köpfe oder runzeln die Stirn – ganz so, als säßen wir uns in einem Raum, auf einem Sofa, um einen Tisch gegenüber. Die einen haben sich Kaffee mitgebracht, die andere den Gutenacht-Tee. Bei manchen steht der Winter in den Startlöchern, bei den anderen der Sommer – all die geografischen, klimatischen und kulturellen Entfernungen überwinden wir ohne groß darüber nachzudenken.

Ich habe Freund:innen in der Nähe. Die mir nächsten Menschen leben jedoch in unterschiedlicher geografischer Entfernung, manche in anderen Zeitzonen, eine gar in einem Land ohne funktionierende Post. Nähe messe ich schon lange nicht in Kilometern, sondern in der Zeit, die wir brauchen, um ins Gespräch zu kommen. Meistens geht das ganz ohne „Aufwärmen“, als hätten wir gerade erst einen intensiven Abend miteinander verbracht. Wir laufen herum und denken aneinander, wir wohnen in den Herzen und Seelen der jeweils anderen. Auf der Karte weit weg und doch ganz nah.

 

Ort der Lebenden. Ein Spaziergang durch Erinnerungen

Was ist ein Friedhof? Der erste Gedanke für eine Antwort ist vermutlich: ein Ort der Verstorbenen. Natürlich ist das wahr. Doch so verschieden die Friedhöfe sind, auf denen ich gewesen bin – und auch getrauert habe – so weit entfernt von einem Ort ausschließlich der Toten sind sie auch. Vielmehr empfinde ich Friedhöfe als Orte des Lebens und der Lebenden. Und das nicht erst seit gestern.

Auf dem Friedhof im alten Heimatdorf sind immer Menschen unterwegs. Wie kleine Dörfer das so an sich haben, kenne ich trotz meiner langen Abwesenheit überraschend viele zumindest vom Sehen. Gerade rund um Feiertage treffe ich mehr oder weniger gleichaltrige  Schulfreund:innen, Bekannte meiner Eltern, ehemalige Nachbarn, Lehrer:innen, Nachhilfeschüler:innen, … Wir plaudern auf den Wegen zwischen den Gräbern oder am Wasserhahn beim Auffüllen der Gießkannen. In der Kapelle leuchten (dank stillem Trotz der Dorfbewohner:innen) Kerzen. Sie zeugen von Gedenken und Hoffnung und Sehnsucht und Freundschaft.

Auf der Friedhofsmauer sonnt sich häufig eine streunende Katze. Zu denen, die sie kennt, kommt sie und lässt sich streicheln. Auch beim Schnurren der Katze lässt es sich hervorragend erfahren, was aus den anderen geworden ist, sich erinnern und gemeinsam seufzen oder auch lachen. Ich kenne viele der Namen hier, erinnere mich an Gesichter und Stimmen, an Begegnungen und Erzählungen, an die Mutter von X und den Vater von Y, an die Nachbarin A und den beliebten Grundschullehrer B. Im Sommer gibt es Hummeln und Marienkäfer, ein Zilpzalp zwischert in den Bäumen, Meisen und Spatzen hüpfen über die Wege, Wo Blumen sind, sind auch Schmetterlinge und ja, Stechmücken gibt es auch.

Im neuen Heimatdorf treffen ich auch Jahre nach dem Tod einer der besten an ihrem Todestag andere Freundinnen an ihrem Grab. Wir erinnern uns an besondere Momente, schöne und schwere, an ihr Lachen und ihre Kreativität, an den einen Kuchen, den niemand so hinbekam wie sie und an die Musik, die sie besonders mochte. Wir zünden eine Kerze an, stellen ein Blümchen zu ihrem Grabstein und nehmen uns in den Arm.

Um die Ecke der Wohnung eines Herzensmenschen liegt Hergé begraben, der Zeichner von Tim und Struppi. Es ist ein besonderer Ort. Seit Ende der 1980er Jahre wird hier niemand mehr bestattet. Die Gemeinde hält nur die Hauptwege frei, auf dem Rest des Geländes kann die Natur sich ausbreiten, wie sie will. Blumen und Stauden, Efeu und Unkraut wachsen über die alten Grabstätten – manche von ihnen so groß wie ein Gartenhäuschen, andere klein und fast nicht mehr zu sehen. In den Bäumen und Sträuchern singen Vögel, abends sieht man wohl auch ab und an einen Fuchs vorbeispazieren. Hier hat das Leben das letzte Wort, breitet sich aus, unbändig und unübersehbar.

Eine besonders lebendige Erinnerung habe ich an einen sonnigen November-Nachmittag auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris. Ich machte ein Praktikum in der Stadt und freute mich über den Besuch einer Freundin, die nicht nur einer der allerbesten Menschen in meinem Leben sondern auch Kunsthistorikerin ist. Ich habe ihr vermutlich ein Loch in den Bau gefragt und wir haben geschwatzt, wie Freundinnen das tun. Vor allem haben wir nicht auf die Uhr geschaut und auch nicht auf die Öffnungszeiten. Am späten Nachmittag waren wir schließlich am Grab von Jim Morisson angekommen – wo wir zwei streng dreinschauenden Polizisten quasi direkt in die Arme liefen. Wir hatten die Schließzeit überschritten und wurden aller möglicher Untaten mit legalen und illegalen Drogen verdächtigt. So bürgerlich wir auch aussehen, so spießig unsere Herkunft auch sein mochte: Hier galten wir als mögliche Groupies, als potentielle Gefahr für wen oder was auch immer. Egal, wie flehentlich wir um Aufschub baten, um die verrückten Devotionalien auf dem Grab bewundern zu dürfen, es war nichts zu machen. Einer Verhaftung konnten wir am Ende vermutlich deutlich problemloser entgehen als meine Erinnerung mir vorgaukeln will. Ich erinnere mich nicht mehr an den Gesprächsverlauf, nur daran, dass ich froh war über meine Sprachkenntnisse und die ein oder andere Redewendung, die ich von Mitbewohnern gelernt hatte, die den Verdächtigungen der Obrigkeit deutlich näher gekommen wären.

In meiner Kindheit fuhren wir zu Allerheiligen oft ins Heimatdorf meines Vaters, mehrere hundert Kilometer entfernt. Wie kleine Dörfer am Ende der Welt das so an sich haben, halten sich Bräuche dort länger als in Städten oder Regionen mit Strukturwandel. Und so waren die Spaziergänge zu den Gräbern meiner Großeltern und Urgroßeltern, zu den Grabstädten von Verwandten, die ich längst nicht mehr kannte, nie traurige Veranstaltungen. Stattdessen gab es immer lautstarke und ausgiebig zelebrierte Treffen mit alten Bekannten meiner Eltern und neuen Spielkamaeraden für uns Kinder. Auf den frisch geharkten Wegen des kleinen Friedhofs neben der Kirche trafen sich mehr oder weniger alle Bewohner:innen des Dorfs und ihre Verwandten aus der Nähe und Ferne. Man war warm angezogen und darauf eingerichtet, nicht nur an den eigenen Gräbern zu verweilen. Alle paar Schritte gab es ein großes Hallo, Händeschütteln und Umarmungen, erzählten sich Erwachsene, was sie im vergangenen Jahr so getan und was sie bewegt hatte und wir Kinder spielten Fangen, Verstecken oder Klatsch-Spiele (gibt es die heute eigentlich noch?). Es war ein Tag zum Schöne-Erinnerungen wachrufen und Zukunftspläne teilen, für Wiedersehensfreude und Einladungen zum Kaffeetrinken.

Meine Urgroßeltern im Saarland besuchten wir auf dem Friedhof immer gemeinsam mit meiner Großmutter. Auf dem Grab gab es eine kleine Weihwasserschale und einen Zweig von Palmsonntag. Wir Kinder durften mit dem nassen Palmzweig ein Kreuzzeichen über dem Grab machen, ein Zeichen für Segen und Verbundenheit und eine Geste, die meiner Oma immer ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Ob sie unsere unbeholfenen Gesten niedlich fand, eigene Erinnerungen in ihr wach wurden oder sie das Glitzern der Wassertropfen auf dem Blütenblättern beobachtete: Ich habe nie daran gedacht, sie zu fragen. Ihr Lächeln habe ich aber nicht vergessen.

In Osbaldwick steht der Grabstein von Mary Ward. Im anglikanischen England, in dem Katholiken zu ihrer Zeit im 17. Jahrhundert gefährlich lebten und keinesfalls in heiliger Erde beerdigt werden durften, hat sie hier irgendwie doch die letzte Ruhe gefunden. Hat das Vorbild, haben das Charisma und die Würde dieser Frau, die von der Welt und den hohen Herren aller Seiten so sehr gefürchtet und niedergemacht worden war, die Verantwortlichen überzeugt, dass es sich lohnte, hier die Verbote zu ignorieren und die Regeln zu beugen oder war es die Überzeugungskraft ihrer engen Freundinnen? Bis heute ist dieser Ort, die kleine Kirche mit dem gar nicht so kleinen historischen Gräberfeld um sie herum, ein Ort der Begegnung, treffen sich dort Anhängerinnen Mary Wards, dieser Pionierin für Mädchenbildung und Frauenrechte. Frauen und Männer aus aller Welt, verschiedener Konfessionen und sogar Religionen kommen hierhin. Sie singen und beten, tanzen oder halten stille Einkehr. Sie teilen einen einfachen Imbiss oder lassen sich in historische Details einführen. Einmal im Jahr feiert auch die anglikanische Gemeinde hier das Leben und das Vorbild dieser besonderen Frau, die eine neue Ordensgemeinschaft gegründet hat und deren Schwestern ganz in der Nähe noch immer nach ihrem Vorbild leben und wirken. Gemeinsam machen sich all die Menschen hier für Notleidende und Ausgegrenzte stark, einige unterstützen die Schwestern in ihrem Einsatz für Bildung und Rechte von Frauen.

Hier wie dort: Umgeben von den Grabstätten der Ahninnen und Ahnen blüht das Leben.

Stille Revolution im Heimatdorf

Auch wenn der Ursprung der badischen Revolution nur wenige Kilometer entfernt liegt, habe ich mein Heimatdorf nie als Revoluzzernest wahrgenommen. In den vergangenen Wochen jedoch habe ich hier eine Art stille Revolution miterlebt. Eine ganz kleine – aber für mich ist sie trotzdem groß.

Im Mittelpunkt standen nicht Jugendliche oder gar Studierende, keine Menschen mit hippen Klamotten, bunten Haaren oder Demoplakaten. Die Revoluzionärinnen waren ältere Damen. Und der Schauplatz war auch nicht der Platz vor dem Rathaus oder der unter der großen Dorflinde. Ort des Geschehens ist der Friedhof, genauer gesagt, die kleine Friedhofskapelle von 15hundertirgendwas.

Sie ist kein kunsthistorisches Kleinod. Das lebensgroße Kruzifix und die fast lebensgroße Marienstatue stammen nicht von bekannten Künstlergrößen, das dort aufbewahrte historische Wappen ist auch vor allem das: historisch. Einmal im Monat findet eine Andacht statt – eine Handvoll Gotteslobe (Gotteslöber?) zeugt davon, dass die wenigen Holzbänke locker für die Besucher:innen ausreichen.

Wer auf dem Friedhof ein Grab besucht, hört immer wieder das Knarren der Holztür. Wer seine Lieben besucht, nutzt gerne die Möglichkeit, hier innezuhalten, Ruhe zu suchen, eine Kerze zum Gedenken anzuzünden. Doch eines Tages liegt da, wo bisher immer kleine Teelichter in passenden Bechern standen, ein laminierter Zettel. Weil zu viele Menschen nicht den geforderten Mindestpreis für die Kerzen bezahlt hätten, könne die Pfarrgemeinde keine Kerzen mehr anbieten. Wer von zu Hause selbst passende Becherchen und Teelichter mitbrachte (das kleine schmiedeeiserne Gestell für die Kerzen war schließlich noch da) muss kurz darauf feststellen, dass sie entsorgt worden waren.

Ein kleines Licht. Nur eine kleine Kerze. Aber es sagt für trauernde Menschen so viel aus. Es ist ein sichtbares Zeichen der Erinnerung, des Gedenkens, der Verbundenheit über den Besuch auf dem Friedhof, ja sogar über den Tod hinaus. Ich habe einige Jahre in der humanitären Hilfe gearbeitet und bin ein wenig in der Welt herumgekommen. Den Brauch, Kerzen anzuzünden, habe ich überall erlebt. Im Südsudan, in Sri Lanka, in Gutalemala und, und, und … An den meisten der heiligen Orte konnten die Besucher:innen vermutlich nichts bezahlen. Gab es überall Kassetten, in die man einen Obulus hätte werfen können? Vermutlich. Einen „wegen Armut einiger müssen alle verzichten“-Zettel habe ich aber nirgends gesehen. Vielmehr sind mir Poster und handgeschriebene Infos in verschiedenen Sprachen begegnet, die Besucher:innen  dazu einluden, ein Licht anzuzünden – egal, ob man dem gleichen Glauben angehört oder überhaupt einen Gott verehrt. Ich erinnere mich an unterschiedliche Erklärungen für dieses Zeichen der Verbundenheit der Menschen, die den Ort besuchen – mit anderen Menschen, mit Toten, mit kranken Freund:innen, mit Natur und Universum, oder einfach für sich selbst.

Und hier, in der kleinen Pfarrei in einem der reichsten Länder der Welt, in dem Kirchensteuereinnahmen trotz rasant schwindender Mitgliederzahlen auf hohem Niveau liegen, hier sollte es nicht möglich sein, die fehlenden Euros aufzubringen? Der Dorffunk wusste schnell zu berichten, welches Gremium hier Bürokratie vor alles andere gestellt zu haben schien. Doch die Funktionär:innen haben vermutlich nicht mit dem Einfallsreichtum und dem Eigensinn der Menschen gerechnet.

Wenige Tage nach dem laminierten Schild taucht eine 50er-Packung Teelichter auf. Wer sie dort deponiert hat? Unbekannt. Andere Menschen hatten wohl Becherchen aus dem Müll gerettet, denn nach einigen Tagen sind auch davon wieder einige da – und bleiben stehen. Vermutlich hat der dorftypische Kommunikationskanal den ehrenamtlichen Putzverantwortlichen einen Wink gegeben.

Nun leuchten wieder jeden Tag einige Teelichter. Als die erste Großpackung verbraucht ist, wird sie von jemandem durch eine neue ersetzt. Ich fand es schön, dass es wieder Kerzen gibt, lächelt die weißhaarige Besucherin. Da dachte ich, ich kann auch mal welche mitbringen. Bei meinem nächsten Spaziergang mit Abstecher zum Grab meines Vaters hat jemand die herumliegenden Kerzen schön sortiert und die ausgebrannten Lichter in einen leeren Blumenübertopf gesteckt. Er läuft nicht über, ist also sicher von jemandem zwischendurch geleert worden.

Mein schon geplanter Protestbrief bleibt ungeschrieben. Am Jahrestag der Beerdigung meines Vaters trinken wir ein Glas seines Lieblingsweins. Ich erhebe es auch auf die „Selbsthilfegruppe Friedhof“ und wünsche uns allen noch viel mehr solcher kleiner Widerstände. Wir können sie brauchen.

Diese besondere Leichtigkeit

Äußerlich ist alles schwerer: Schwere Stiefel, schwerer Mantel, Mütze, Handschuhe. Schwere Schritte, erhöhte Achtsamkeit, weil sich unter der Pracht Glatteis verstecken könnte. Wege bahnen übers Feld erfordert andere Bewegungsmuster als in Sneakern spazieren zu gehen.  Die Kälte krabbelt durch Reißverschlussösen und die schneenassen Handschuhe. Aber das ist nur äußerlich.

In mir ist es das genaue Gegenteil: Der viele Schnee macht unser Esszimmer – mein heutiges Arbeitszimmer – hell. Die Stimmen der Kinder, die heute schulfrei haben, klingen lachend zu uns herein. Die Sonne kommt über die Dächer der Nachbarhäuser und lockt uns zu einem gemeinsamen Mittagspausenspaziergang nach draußen. In den Baumwipfeln am zugefrorenen Bach sitzen dutzende Vögel und singen wie an einem warmen Frühlingsmorgen.

Die knirschenden Geräusche unter unseren Füßen verstärken das Glitzern der Schneekristalle (ja, wirklich – auch wenn das unsere Physikerfreund*innen vermutlich leidenschaftlich abstreiten würden). Die vertraute Spazierrunde bietet immer wieder neue Perspektiven – heruntergebogene Äste, Spuren von Eichhörnchen und Vögeln im Schnee, wo die Vögel leiser sind, hören wir das leise Gluckern des Bachs unter dem Eis und die Geräusche der Tropfen, die von der Sonne angetaut von den Ästen herunterploppen.

Es ist wie mit dem Lindenblütentee bei Proust – ich erinnere mich an Langlauf-Nachmittage im heimatlichen Schwarzwald, an die Kapuzenmützen als wir klein waren und Kniebundhosen als wir größer wurden, an Thermoskannen voller Tee und Brotboxen mit selbst gebackenen Nussecken; an Schlittenfahrten, bei denen mein Vater bäuchlings auf dem einen Schlitten saß, meine Schwester auf seinem Rücken und die Füße in den zweiten Schlitten eingehakt, auf dem meine Mutter ihre Arme um mich schlang, um dann zu viert juchzend bergab zu rasen.

Ich erinnere mich an Schnee-Spaziergänge auf den Kindheitswegen, an lange Eiszapfen und heiße Schokolade im Café. Und an diesen einen besonderen Nachmittag, warm eingepackt, auf der Lieblingsbank am Löwenwäldchen. An den Pandemieabend, an dem es schneite und der Lieblingsmensch und ich eine ausgiebige Nachtwanderung um unser Heimatdorf gemacht haben, inklusive Pinguinhüpfern und Schneeballschlacht.

Die Sonne bringt die verschneite Weite zum Leuchten und lässt Bäume und Hecken die herrlichsten Schattenformen werfen. Mitten in der äußerlichen Schwere wird mein Herz leicht. Das ältere Ehepaar, das uns entgegen kommt, schaut überrascht zu, wie der Lieblingsmensch mir hilft, mich vom Schnee zu befreien, weil man auch mit 46 Jahren eine unberührte Wiese ganz großartig mit einem Schnee-Engel verzieren kann. Übermut höre ich sie kopfschüttelnd sagen. Wir fassen uns an den Händen und gehen lächelnd nach Hause.

Was schön war

Ich habe selten Anflüge von Misanthropie, aber in der letzten Zeit erwische ich michab und an beim Gedanken an die Überflüssigkeit von Menschen. Also ist es mal wieder Zeit dafür, mich darauf zu besinnen, was schön war. Da gab es nämlich tatsächlich eine Menge in der letzten Zeit.

Wir waren zu Besuch bei Freunden, etwas weiter zu fahren, mitten im Grünen. Wir haben alle regelmäßig viel zu tun und haben uns bewusst ein Wochenende geblockt, um beieinander zu sein. Wir haben gemeinsam gekocht und draußen gegessen, wir haben Kunst geguckt und Natur, wir haben uns über Regen gefreut und den Sonnenuntergang zwischen Wolkenwänden bewundert, wir haben uns an riesigen Hummeln gefreut und Beeren im Garten genascht, wir haben viel gelacht, einträchtig geschwiegen und noch mehr geredet, das alles in 3 einhalb Sprachen, mit Händen und Füßen und ganz viel Liebe und Freundschaft im Herzen.

Ich fahre viel Zug diesen Sommer, treffe wunderbare Menschen und ärgere mich weniger über Verspätungen (und es gibt viele davon), weil ich mit anderen gemeinsam „Bahn-Bingo“ spiele. Wir lachen viel dabei und sind gespannt, wer von uns am Ende des Sommers den Eisbecher gewinnt.

Mit einer Freundin war ich im Stadion. Mitten im Regen, bei einem Freundschaftspiel gegen eine Mannschaft, deren Gästefans die beste Flagge der Welt dabei hatten (die bretonische – falls das nicht eh klar ist). Wie lange habe ich das nicht mehr gemacht und wie weit weg waren die Emotionen, die Fußball früher bei mir ausgelöst hat. Ich war direkt wieder von dem Gemeinschaftsgefühl umgeben, das ich so sehr mochte, ließ mich mitreißen von Torjubel und Hymnengesang. Ich fühlte mich wieder jung und gleichzeitig auch nicht und jedenfalls planen wir jetzt, das ein oder andere Heimspiel dieser Saison zu besuchen und diese leidenschaftliche Nebensächlichkeit in vollen Zügen zu genießen.

Ich kaufe mir eine neue Handtasche und fruchtigen Tee, der als Eistee besonders gut schmeckt. Wenn ich ihn trinke, denke ich an dieses besonders schöne Wochenende und lasse die Freude daran wieder in mir lebendig werden. Proust lässt grüßen. Und noch ein Tee macht mich glücklich und bringt mich über die Regentage. Hibiskus mit Apfelstücken und Gojibeeren, den eine Freundin als Dankeschön fürs Blumengießen aus dem Urlaub mitgebracht hat und der dafür sorgt, dass es im Büro süß duftet, während ich liegengebliebene Aufgaben wegarbeite.

Beim Warten auf einen Arzt lerne ich eine ältere Dame kennen. Fast 90 ist sie und erzählte mir  aus ihrem Leben. Wie sie jung geheiratet hat, an der Ostsee, und wie ihr Mann sie schlug. Wie sie ihr Kind packte und mit nur einer kleinen Tasche in den Westen floh – noch vor dem Bau der Mauer, aber schon damals nicht einfach und nicht ungefährlich. Wie sie in einem Auffanglager lebte und dann in eine kleine Wohnung irgendwohin weit weg weiterverteilt wurde. Wie sie Monate später ihren Bruder und ihre Mutter wiederfand und seither nicht mehr an Zufälle glaubt. Wie sie eine großartige und hilfsbereite Frau kennenlernte und später deren Sohn und wie sie dann heirateten. Eine große, liebevolle Familie habe sie um sich herum, erzählt sie. Und dass sie hoffe, dass die jungen Leute nicht die gleichen Fehler machen wie die, die heute alt oder schon tot sind. Weil das keiner mehr brauche und wir es alle viel schöner haben könnten, wenn wir uns gegenseitig helfen. Da haben Sie aber ganz schön viel richtig gemacht, sage ich ihr. Sie zuckt nur mit den Schultern. Ihr sei so viel geholfen worden im Leben, da könne sie gar nicht anders, als das auch zu tun.

Die Nachbarskatze, die sich als Babykatz bei offener Terrassentür häufiger mal in unsere Küche verirrte, hat entdeckt, dass man in unserem Garten die Abendsonne genießen und sich bei Regen unterm Rosmarinstrauch verstecken kann. Und so kommt sie jetzt immer wieder zu Besuch und will kuscheln. Da der Lieblingsmensch sehr allergisch ist und ich lieber ihn als eine Katze im Haus habe, nutze ich das schamlos aus (draußen natürlich und mit gebührendem Abstand zum Lieblingsmenschen) und bin glücklich über diese besondere Sommerfreude.

Was sonst noch schön war: Vanilleeis mit Plattpfirsichen, Zitronnenmelissensirup, Curry, die schöne Bettwäsche, die ich gekauft habe, die Rosenpracht im Garten, die Schmetterlinge im Bürohinterhof und das lange Telefonat mit einer Freundin, die ich lange nicht gehört hatte. Die Solarsonnenblume im Garten und der Salatnachschub aus dem Hochbeet. Freundschaften über Ländergrenzen hinweg und Vorfreude aufs Meer.

Erinnerungen

Vor neuen Jahren war ich in Bamberg. Vor sieben Jahren mit dem Lieblingsmenschen an der Nordseeküste in Belgien. Manchmal denke ich, dass ich Facebook nur behalte, um die regelmäßigen Erinnerungen genießen zu können, die es auswirft.

Ein Foto einer Orchidee am Wegesrand bringt ganz viele Erinnerungen zurück. An einen Stadtspaziergang und eine Flasche Wein in einem Keller mit einer starken Frau. An das Wachsen einer Entscheidung und die Freude darüber, was seither alles daraus gewachsen und geworden ist.

Ein Sonnenuntergang über Industrieanlagen weckt andere Erinnerungen. Ich muss das Meer nicht mal sehen können, um den salzigen Geruch auf der Zunge zu haben, das Wellenrauschen zu hören, das uns damals in den Schlaf begleitet und geweckt hat. Ich erinnere mich an das Prickeln meiner Füße im kühlen Wasser, unsere Schatten im Watt und sogar an manche Gespräche. An Cocktails in der Strandbar und Olivien mit Knoblauch und Zitrone.

Ich mache ein Foto von einer Rosenknospe im Garten. Ob ich mich in Jahren erinnern werde an heute? An die Mail an eine Behörde, die ich mit enttäuschten Grüßen unterschrieben habe. Den Geschmack des Käsekuchens, den der Lieblingsmenschen und ich uns teilten. Die Arbeit im Homeoffice. Die Sonne auf der Terrasse. Die Trauer um den, der gerade gegangen ist und den, der ihm bald folgen wird.

Von Worten und Menschen

Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, sagt eine der besten und sagt damit in diesem Moment genau das richtige. Du sollst wissen, dass du auch nein sagen kannst, schicke ich einer großen Frage voraus. Ich kann aber auch ja sagen, sagt der wunderbare Mensch, an den ich die Frage richte, und tut das dann auch. Melde dich, wenn du etwas brauchst, sagt eine andere und das ist doch selbstverständlich eine dritte und weiß gar nicht, wie besonders das für mich ist.

Mein Leben lang habe ich mich mit Worten beschäftigt, mit Wörtern und Sätzen, ihrer Bedeutung und Wirkung, ihren grammatikalischen Eigenschaften, ihrem Ursprung und ihrer Entwicklung; damit, wie man sie übersetzt oder zusammenfügt, wie man mit ihnen berichtet und erklärt, verdeutlich und vermittelt, verständlich macht oder begeistert. Ich habe gelernt, sie zu lesen, direkt und zwischen den Zeilen, in den Buchstaben und den Lücken dazwischen; im Literaturstudium und in den Vorlesungen über politische Philosophie, Vertragsverhandlungen und Gesetzgebungsverfahren. Ich habe gelernt, sie zu benutzen, mit ihnen zu überzeugen oder Emotionen zu wecken, sie regelkonform zu setzen und mit ihnen zu spielen; in der Ausbildung zur Journalistin und in meinem Berufsleben. Ich habe mit Wörtern gebetet, mit fremden und eigenen, gesagten, geschriebenen und geschwiegenen. Ich habe Worte gesungen, geweint und gelacht.

Nicht nur mein Kopf weiß also viel über die Bedeutung von Worten. Und doch ist mir in den vergangenen Wochen eine Erkenntnis noch einmal ganz neu unter die Haut gegangen: Wie gut es tut, wenn da eine ist, die das richtige sagt.

Das richtige muss nicht groß sein, nicht bis zum Ende durchdacht, nicht formvollendet. Ein kleines Wort auf einer Karte, eine liebevoll ausgesuchte Erkenntnis eines anderen, die die eigene Sprachlosigkeit überwindet, ein Ich denk an dich im Messenger, ein Wie geht es dir – wirklich bei einer ungeplanten Begegnung, ein Es tut mir so leid mit ausgebreiteten Armen. Da bringt ein Lass dir Zeit hinter einem Arbeitsauftrag mein Herz zum Schwingen und ein … wenn dir das gerade gut tut am Ende eines Rats aus eigener Erfahrung rührt mich tief.

Wie gut es tut, wenn da einer ist, der das richtige sagt. Der mit den Ohren und dem Herzen zuhört und dann Worte findet, die meine Trauer nicht wegreden, sie nicht übertünchen mit wohlfeilem Reden, sie wahr sein lassen und notwendig und wichtig. Worte, die so viel mehr sind als Wörter und Sätze, die Trost sind und Freundschaft und Liebe und Hoffnung.

Wie gut es ist, wenn da jemand das richtige sagt. Erinnerungen hervorkramt, schöne und schmerzhafte, herausfordernde und wunderbare, lange zurückliegende und ganz neue. Das Leben in den Mittelpunkt stellt, das aktuelle mit all seinen kleinen und großen Herausforderungen. Worte des Alltags, die Unterbrechungen zulassen, Raum für mehr – und für weniger.

Ich bin dankbar für die Worte, die gesagten, die geschriebenen, die gestammelten, die halben und die ganzen, und die, die mit den Augen direkt ins Herz gesprochen sind. Und für die Menschen hinter, vor und in diesen Worten. Es ist so schön, dass es euch gibt.

 

Aus der Zeit gefallen – mit Tränen im Auge und Sahne im Herzen

Seinen letzten Kaffee hat mein Vater mit Sahne getrunken. Sein Leben lang trank er Kaffee schwarz, bestellte keinen Cappucino, lächelte nur, wenn seine „drei Frauen“ (meine Mutter, meine Schwester und ich) Milchschaum schlugen. Und dann greift er beherzt nach der Sahne, reißt das kleine Töpfchen auf  und brummelt die Zeilen von Udo Jürgens: „Dass der Herrgott den Weg in den Himmel ihm bahne, aber bitte mit Sahne“ vor sich hin und ich singe mit.

Die Szene ist jetzt eine meiner Erinnerungen. Eine kostbare. Eine Familiengeschichte, die sich zu denen hinzufügt, die ich nur durch ihn kenne. Die sich zugesellt zu Hektor, dem Hund, der von meinem Großvater gelernt hatte, Kühe zu hüten. Derselbe Großvater, der meinen Vater als Kind auf Kühen hat reiten lassen. Diese Erinnerung aus seinen letzten Tagen stellt sich zu vielen anderen, in denen wir gemeinsam gesungen haben (beim Schlauchboot fahren, im Auto auf dem Weg in den Campingurlaub, im Gottesdienst – mein Vater immer knapp daneben, aber mit Inbrunst) und zu anderen, in denen wir gemeinsam gelacht haben. Sie passt zu den Momenten, in denen wir Neues ausprobiert haben und zu denen, in denen er Gedichte und Passagen aus Lieblingsbüchern auswendig aufsagen konnte. Und dann sind da noch so viele andere Momente, Erinnerungen. Manche, die ich sowieso immer schon mit mit trage und andere, die plötzlich wieder auftauchen, beim gemeinsamen Erzählen und Schweigen und Umarmen wieder lebendig werden, aus längst verschollen geglaubten Tiefen auftauchen. Manche lassen sich festhalten, andere sind kaum ganz zu erhaschen.

Nach Wochen der Trauer, der auch räumlichen Gemeinschaft mit anderen, die ihn vermissen, nach Tagen des Weinens und Lachens, des Wachliegens und Organisierens, des Loslassens und Festhaltens fühle ich mich aus der Zeit gefallen. Als wäre ich einmal hinausgepurzelt aus dem Lauf der Zeit und irgendwie damit durcheinandergekommen. Die Gezeitenuhr an der Wand fühlt sich deutlich realer an, sagt mir mehr und wesentlicheres als Kalender und Uhrzeit.

Das liegt sicher an den Umständen, den freien Tagen, den Ortswechseln und Begegnungen. Das liegt aber auch und besonders an den Erinnerungen aus meinen 46 Jahren und den geteilten Erinnerungen weit darüber hinaus, die jetzt so lebendig  sind und die ich lebendig halten will. Sie bringen Vergangenheit und Gegenwart durcheinander, vermischen sie zu einer großen Gleichzeitigkeit und lassen diese, wenn der übliche Einkaufen-Putzen-Arbeiten-Freunde treffen-Alltag sich Raum greift, wieder in viele kleine Einheiten zerfallen, nur um sich in der nächsten Ruhepause zu einer neuen großen Zeitblase zusammensetzen.

„Das ist heute“ heißt es in der Liturgie des Triduums am Gründonnerstag. Seit vielen Jahren mag ich diese kurz gefasste Vergegenwärtigung des Geschehens besonders. Erinnerungen halten Menschen, Gefühle, Geräusche und Musik, Gerüche und Gedanken lebendig oder werden von Gerüchen und Geräuschen oder anderen Auslösern neu zum Leben erweckt. Proust weiß davon ausgiebig zu erzählen. Ich trinke meinen Kaffee zwar immmer noch schwarz, aber wenn es irgendwo Kaffeesahne gibt, werde ich wohl in Zukunft still lächeln, mit einer Träne im Auge und ganz viel Liebe im Herzen. Auf dich, Papa.