Auch wenn der Ursprung der badischen Revolution nur wenige Kilometer entfernt liegt, habe ich mein Heimatdorf nie als Revoluzzernest wahrgenommen. In den vergangenen Wochen jedoch habe ich hier eine Art stille Revolution miterlebt. Eine ganz kleine – aber für mich ist sie trotzdem groß.
Im Mittelpunkt standen nicht Jugendliche oder gar Studierende, keine Menschen mit hippen Klamotten, bunten Haaren oder Demoplakaten. Die Revoluzionärinnen waren ältere Damen. Und der Schauplatz war auch nicht der Platz vor dem Rathaus oder der unter der großen Dorflinde. Ort des Geschehens ist der Friedhof, genauer gesagt, die kleine Friedhofskapelle von 15hundertirgendwas.
Sie ist kein kunsthistorisches Kleinod. Das lebensgroße Kruzifix und die fast lebensgroße Marienstatue stammen nicht von bekannten Künstlergrößen, das dort aufbewahrte historische Wappen ist auch vor allem das: historisch. Einmal im Monat findet eine Andacht statt – eine Handvoll Gotteslobe (Gotteslöber?) zeugt davon, dass die wenigen Holzbänke locker für die Besucher:innen ausreichen.
Wer auf dem Friedhof ein Grab besucht, hört immer wieder das Knarren der Holztür. Wer seine Lieben besucht, nutzt gerne die Möglichkeit, hier innezuhalten, Ruhe zu suchen, eine Kerze zum Gedenken anzuzünden. Doch eines Tages liegt da, wo bisher immer kleine Teelichter in passenden Bechern standen, ein laminierter Zettel. Weil zu viele Menschen nicht den geforderten Mindestpreis für die Kerzen bezahlt hätten, könne die Pfarrgemeinde keine Kerzen mehr anbieten. Wer von zu Hause selbst passende Becherchen und Teelichter mitbrachte (das kleine schmiedeeiserne Gestell für die Kerzen war schließlich noch da) muss kurz darauf feststellen, dass sie entsorgt worden waren.
Ein kleines Licht. Nur eine kleine Kerze. Aber es sagt für trauernde Menschen so viel aus. Es ist ein sichtbares Zeichen der Erinnerung, des Gedenkens, der Verbundenheit über den Besuch auf dem Friedhof, ja sogar über den Tod hinaus. Ich habe einige Jahre in der humanitären Hilfe gearbeitet und bin ein wenig in der Welt herumgekommen. Den Brauch, Kerzen anzuzünden, habe ich überall erlebt. Im Südsudan, in Sri Lanka, in Gutalemala und, und, und … An den meisten der heiligen Orte konnten die Besucher:innen vermutlich nichts bezahlen. Gab es überall Kassetten, in die man einen Obulus hätte werfen können? Vermutlich. Einen „wegen Armut einiger müssen alle verzichten“-Zettel habe ich aber nirgends gesehen. Vielmehr sind mir Poster und handgeschriebene Infos in verschiedenen Sprachen begegnet, die Besucher:innen dazu einluden, ein Licht anzuzünden – egal, ob man dem gleichen Glauben angehört oder überhaupt einen Gott verehrt. Ich erinnere mich an unterschiedliche Erklärungen für dieses Zeichen der Verbundenheit der Menschen, die den Ort besuchen – mit anderen Menschen, mit Toten, mit kranken Freund:innen, mit Natur und Universum, oder einfach für sich selbst.
Und hier, in der kleinen Pfarrei in einem der reichsten Länder der Welt, in dem Kirchensteuereinnahmen trotz rasant schwindender Mitgliederzahlen auf hohem Niveau liegen, hier sollte es nicht möglich sein, die fehlenden Euros aufzubringen? Der Dorffunk wusste schnell zu berichten, welches Gremium hier Bürokratie vor alles andere gestellt zu haben schien. Doch die Funktionär:innen haben vermutlich nicht mit dem Einfallsreichtum und dem Eigensinn der Menschen gerechnet.
Wenige Tage nach dem laminierten Schild taucht eine 50er-Packung Teelichter auf. Wer sie dort deponiert hat? Unbekannt. Andere Menschen hatten wohl Becherchen aus dem Müll gerettet, denn nach einigen Tagen sind auch davon wieder einige da – und bleiben stehen. Vermutlich hat der dorftypische Kommunikationskanal den ehrenamtlichen Putzverantwortlichen einen Wink gegeben.
Nun leuchten wieder jeden Tag einige Teelichter. Als die erste Großpackung verbraucht ist, wird sie von jemandem durch eine neue ersetzt. Ich fand es schön, dass es wieder Kerzen gibt, lächelt die weißhaarige Besucherin. Da dachte ich, ich kann auch mal welche mitbringen. Bei meinem nächsten Spaziergang mit Abstecher zum Grab meines Vaters hat jemand die herumliegenden Kerzen schön sortiert und die ausgebrannten Lichter in einen leeren Blumenübertopf gesteckt. Er läuft nicht über, ist also sicher von jemandem zwischendurch geleert worden.
Mein schon geplanter Protestbrief bleibt ungeschrieben. Am Jahrestag der Beerdigung meines Vaters trinken wir ein Glas seines Lieblingsweins. Ich erhebe es auch auf die „Selbsthilfegruppe Friedhof“ und wünsche uns allen noch viel mehr solcher kleiner Widerstände. Wir können sie brauchen.