Was ist ein Friedhof? Der erste Gedanke für eine Antwort ist vermutlich: ein Ort der Verstorbenen. Natürlich ist das wahr. Doch so verschieden die Friedhöfe sind, auf denen ich gewesen bin – und auch getrauert habe – so weit entfernt von einem Ort ausschließlich der Toten sind sie auch. Vielmehr empfinde ich Friedhöfe als Orte des Lebens und der Lebenden. Und das nicht erst seit gestern.
Auf dem Friedhof im alten Heimatdorf sind immer Menschen unterwegs. Wie kleine Dörfer das so an sich haben, kenne ich trotz meiner langen Abwesenheit überraschend viele zumindest vom Sehen. Gerade rund um Feiertage treffe ich mehr oder weniger gleichaltrige Schulfreund:innen, Bekannte meiner Eltern, ehemalige Nachbarn, Lehrer:innen, Nachhilfeschüler:innen, … Wir plaudern auf den Wegen zwischen den Gräbern oder am Wasserhahn beim Auffüllen der Gießkannen. In der Kapelle leuchten (dank stillem Trotz der Dorfbewohner:innen) Kerzen. Sie zeugen von Gedenken und Hoffnung und Sehnsucht und Freundschaft.
Auf der Friedhofsmauer sonnt sich häufig eine streunende Katze. Zu denen, die sie kennt, kommt sie und lässt sich streicheln. Auch beim Schnurren der Katze lässt es sich hervorragend erfahren, was aus den anderen geworden ist, sich erinnern und gemeinsam seufzen oder auch lachen. Ich kenne viele der Namen hier, erinnere mich an Gesichter und Stimmen, an Begegnungen und Erzählungen, an die Mutter von X und den Vater von Y, an die Nachbarin A und den beliebten Grundschullehrer B. Im Sommer gibt es Hummeln und Marienkäfer, ein Zilpzalp zwischert in den Bäumen, Meisen und Spatzen hüpfen über die Wege, Wo Blumen sind, sind auch Schmetterlinge und ja, Stechmücken gibt es auch.
Im neuen Heimatdorf treffen ich auch Jahre nach dem Tod einer der besten an ihrem Todestag andere Freundinnen an ihrem Grab. Wir erinnern uns an besondere Momente, schöne und schwere, an ihr Lachen und ihre Kreativität, an den einen Kuchen, den niemand so hinbekam wie sie und an die Musik, die sie besonders mochte. Wir zünden eine Kerze an, stellen ein Blümchen zu ihrem Grabstein und nehmen uns in den Arm.
Um die Ecke der Wohnung eines Herzensmenschen liegt Hergé begraben, der Zeichner von Tim und Struppi. Es ist ein besonderer Ort. Seit Ende der 1980er Jahre wird hier niemand mehr bestattet. Die Gemeinde hält nur die Hauptwege frei, auf dem Rest des Geländes kann die Natur sich ausbreiten, wie sie will. Blumen und Stauden, Efeu und Unkraut wachsen über die alten Grabstätten – manche von ihnen so groß wie ein Gartenhäuschen, andere klein und fast nicht mehr zu sehen. In den Bäumen und Sträuchern singen Vögel, abends sieht man wohl auch ab und an einen Fuchs vorbeispazieren. Hier hat das Leben das letzte Wort, breitet sich aus, unbändig und unübersehbar.
Eine besonders lebendige Erinnerung habe ich an einen sonnigen November-Nachmittag auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris. Ich machte ein Praktikum in der Stadt und freute mich über den Besuch einer Freundin, die nicht nur einer der allerbesten Menschen in meinem Leben sondern auch Kunsthistorikerin ist. Ich habe ihr vermutlich ein Loch in den Bau gefragt und wir haben geschwatzt, wie Freundinnen das tun. Vor allem haben wir nicht auf die Uhr geschaut und auch nicht auf die Öffnungszeiten. Am späten Nachmittag waren wir schließlich am Grab von Jim Morisson angekommen – wo wir zwei streng dreinschauenden Polizisten quasi direkt in die Arme liefen. Wir hatten die Schließzeit überschritten und wurden aller möglicher Untaten mit legalen und illegalen Drogen verdächtigt. So bürgerlich wir auch aussehen, so spießig unsere Herkunft auch sein mochte: Hier galten wir als mögliche Groupies, als potentielle Gefahr für wen oder was auch immer. Egal, wie flehentlich wir um Aufschub baten, um die verrückten Devotionalien auf dem Grab bewundern zu dürfen, es war nichts zu machen. Einer Verhaftung konnten wir am Ende vermutlich deutlich problemloser entgehen als meine Erinnerung mir vorgaukeln will. Ich erinnere mich nicht mehr an den Gesprächsverlauf, nur daran, dass ich froh war über meine Sprachkenntnisse und die ein oder andere Redewendung, die ich von Mitbewohnern gelernt hatte, die den Verdächtigungen der Obrigkeit deutlich näher gekommen wären.
In meiner Kindheit fuhren wir zu Allerheiligen oft ins Heimatdorf meines Vaters, mehrere hundert Kilometer entfernt. Wie kleine Dörfer am Ende der Welt das so an sich haben, halten sich Bräuche dort länger als in Städten oder Regionen mit Strukturwandel. Und so waren die Spaziergänge zu den Gräbern meiner Großeltern und Urgroßeltern, zu den Grabstädten von Verwandten, die ich längst nicht mehr kannte, nie traurige Veranstaltungen. Stattdessen gab es immer lautstarke und ausgiebig zelebrierte Treffen mit alten Bekannten meiner Eltern und neuen Spielkamaeraden für uns Kinder. Auf den frisch geharkten Wegen des kleinen Friedhofs neben der Kirche trafen sich mehr oder weniger alle Bewohner:innen des Dorfs und ihre Verwandten aus der Nähe und Ferne. Man war warm angezogen und darauf eingerichtet, nicht nur an den eigenen Gräbern zu verweilen. Alle paar Schritte gab es ein großes Hallo, Händeschütteln und Umarmungen, erzählten sich Erwachsene, was sie im vergangenen Jahr so getan und was sie bewegt hatte und wir Kinder spielten Fangen, Verstecken oder Klatsch-Spiele (gibt es die heute eigentlich noch?). Es war ein Tag zum Schöne-Erinnerungen wachrufen und Zukunftspläne teilen, für Wiedersehensfreude und Einladungen zum Kaffeetrinken.
Meine Urgroßeltern im Saarland besuchten wir auf dem Friedhof immer gemeinsam mit meiner Großmutter. Auf dem Grab gab es eine kleine Weihwasserschale und einen Zweig von Palmsonntag. Wir Kinder durften mit dem nassen Palmzweig ein Kreuzzeichen über dem Grab machen, ein Zeichen für Segen und Verbundenheit und eine Geste, die meiner Oma immer ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Ob sie unsere unbeholfenen Gesten niedlich fand, eigene Erinnerungen in ihr wach wurden oder sie das Glitzern der Wassertropfen auf dem Blütenblättern beobachtete: Ich habe nie daran gedacht, sie zu fragen. Ihr Lächeln habe ich aber nicht vergessen.
In Osbaldwick steht der Grabstein von Mary Ward. Im anglikanischen England, in dem Katholiken zu ihrer Zeit im 17. Jahrhundert gefährlich lebten und keinesfalls in heiliger Erde beerdigt werden durften, hat sie hier irgendwie doch die letzte Ruhe gefunden. Hat das Vorbild, haben das Charisma und die Würde dieser Frau, die von der Welt und den hohen Herren aller Seiten so sehr gefürchtet und niedergemacht worden war, die Verantwortlichen überzeugt, dass es sich lohnte, hier die Verbote zu ignorieren und die Regeln zu beugen oder war es die Überzeugungskraft ihrer engen Freundinnen? Bis heute ist dieser Ort, die kleine Kirche mit dem gar nicht so kleinen historischen Gräberfeld um sie herum, ein Ort der Begegnung, treffen sich dort Anhängerinnen Mary Wards, dieser Pionierin für Mädchenbildung und Frauenrechte. Frauen und Männer aus aller Welt, verschiedener Konfessionen und sogar Religionen kommen hierhin. Sie singen und beten, tanzen oder halten stille Einkehr. Sie teilen einen einfachen Imbiss oder lassen sich in historische Details einführen. Einmal im Jahr feiert auch die anglikanische Gemeinde hier das Leben und das Vorbild dieser besonderen Frau, die eine neue Ordensgemeinschaft gegründet hat und deren Schwestern ganz in der Nähe noch immer nach ihrem Vorbild leben und wirken. Gemeinsam machen sich all die Menschen hier für Notleidende und Ausgegrenzte stark, einige unterstützen die Schwestern in ihrem Einsatz für Bildung und Rechte von Frauen.
Hier wie dort: Umgeben von den Grabstätten der Ahninnen und Ahnen blüht das Leben.