Äußerlich ist alles schwerer: Schwere Stiefel, schwerer Mantel, Mütze, Handschuhe. Schwere Schritte, erhöhte Achtsamkeit, weil sich unter der Pracht Glatteis verstecken könnte. Wege bahnen übers Feld erfordert andere Bewegungsmuster als in Sneakern spazieren zu gehen. Die Kälte krabbelt durch Reißverschlussösen und die schneenassen Handschuhe. Aber das ist nur äußerlich.
In mir ist es das genaue Gegenteil: Der viele Schnee macht unser Esszimmer – mein heutiges Arbeitszimmer – hell. Die Stimmen der Kinder, die heute schulfrei haben, klingen lachend zu uns herein. Die Sonne kommt über die Dächer der Nachbarhäuser und lockt uns zu einem gemeinsamen Mittagspausenspaziergang nach draußen. In den Baumwipfeln am zugefrorenen Bach sitzen dutzende Vögel und singen wie an einem warmen Frühlingsmorgen.
Die knirschenden Geräusche unter unseren Füßen verstärken das Glitzern der Schneekristalle (ja, wirklich – auch wenn das unsere Physikerfreund*innen vermutlich leidenschaftlich abstreiten würden). Die vertraute Spazierrunde bietet immer wieder neue Perspektiven – heruntergebogene Äste, Spuren von Eichhörnchen und Vögeln im Schnee, wo die Vögel leiser sind, hören wir das leise Gluckern des Bachs unter dem Eis und die Geräusche der Tropfen, die von der Sonne angetaut von den Ästen herunterploppen.
Es ist wie mit dem Lindenblütentee bei Proust – ich erinnere mich an Langlauf-Nachmittage im heimatlichen Schwarzwald, an die Kapuzenmützen als wir klein waren und Kniebundhosen als wir größer wurden, an Thermoskannen voller Tee und Brotboxen mit selbst gebackenen Nussecken; an Schlittenfahrten, bei denen mein Vater bäuchlings auf dem einen Schlitten saß, meine Schwester auf seinem Rücken und die Füße in den zweiten Schlitten eingehakt, auf dem meine Mutter ihre Arme um mich schlang, um dann zu viert juchzend bergab zu rasen.
Ich erinnere mich an Schnee-Spaziergänge auf den Kindheitswegen, an lange Eiszapfen und heiße Schokolade im Café. Und an diesen einen besonderen Nachmittag, warm eingepackt, auf der Lieblingsbank am Löwenwäldchen. An den Pandemieabend, an dem es schneite und der Lieblingsmensch und ich eine ausgiebige Nachtwanderung um unser Heimatdorf gemacht haben, inklusive Pinguinhüpfern und Schneeballschlacht.
Die Sonne bringt die verschneite Weite zum Leuchten und lässt Bäume und Hecken die herrlichsten Schattenformen werfen. Mitten in der äußerlichen Schwere wird mein Herz leicht. Das ältere Ehepaar, das uns entgegen kommt, schaut überrascht zu, wie der Lieblingsmensch mir hilft, mich vom Schnee zu befreien, weil man auch mit 46 Jahren eine unberührte Wiese ganz großartig mit einem Schnee-Engel verzieren kann. Übermut höre ich sie kopfschüttelnd sagen. Wir fassen uns an den Händen und gehen lächelnd nach Hause.