Seinen letzten Kaffee hat mein Vater mit Sahne getrunken. Sein Leben lang trank er Kaffee schwarz, bestellte keinen Cappucino, lächelte nur, wenn seine „drei Frauen“ (meine Mutter, meine Schwester und ich) Milchschaum schlugen. Und dann greift er beherzt nach der Sahne, reißt das kleine Töpfchen auf und brummelt die Zeilen von Udo Jürgens: „Dass der Herrgott den Weg in den Himmel ihm bahne, aber bitte mit Sahne“ vor sich hin und ich singe mit.
Die Szene ist jetzt eine meiner Erinnerungen. Eine kostbare. Eine Familiengeschichte, die sich zu denen hinzufügt, die ich nur durch ihn kenne. Die sich zugesellt zu Hektor, dem Hund, der von meinem Großvater gelernt hatte, Kühe zu hüten. Derselbe Großvater, der meinen Vater als Kind auf Kühen hat reiten lassen. Diese Erinnerung aus seinen letzten Tagen stellt sich zu vielen anderen, in denen wir gemeinsam gesungen haben (beim Schlauchboot fahren, im Auto auf dem Weg in den Campingurlaub, im Gottesdienst – mein Vater immer knapp daneben, aber mit Inbrunst) und zu anderen, in denen wir gemeinsam gelacht haben. Sie passt zu den Momenten, in denen wir Neues ausprobiert haben und zu denen, in denen er Gedichte und Passagen aus Lieblingsbüchern auswendig aufsagen konnte. Und dann sind da noch so viele andere Momente, Erinnerungen. Manche, die ich sowieso immer schon mit mit trage und andere, die plötzlich wieder auftauchen, beim gemeinsamen Erzählen und Schweigen und Umarmen wieder lebendig werden, aus längst verschollen geglaubten Tiefen auftauchen. Manche lassen sich festhalten, andere sind kaum ganz zu erhaschen.
Nach Wochen der Trauer, der auch räumlichen Gemeinschaft mit anderen, die ihn vermissen, nach Tagen des Weinens und Lachens, des Wachliegens und Organisierens, des Loslassens und Festhaltens fühle ich mich aus der Zeit gefallen. Als wäre ich einmal hinausgepurzelt aus dem Lauf der Zeit und irgendwie damit durcheinandergekommen. Die Gezeitenuhr an der Wand fühlt sich deutlich realer an, sagt mir mehr und wesentlicheres als Kalender und Uhrzeit.
Das liegt sicher an den Umständen, den freien Tagen, den Ortswechseln und Begegnungen. Das liegt aber auch und besonders an den Erinnerungen aus meinen 46 Jahren und den geteilten Erinnerungen weit darüber hinaus, die jetzt so lebendig sind und die ich lebendig halten will. Sie bringen Vergangenheit und Gegenwart durcheinander, vermischen sie zu einer großen Gleichzeitigkeit und lassen diese, wenn der übliche Einkaufen-Putzen-Arbeiten-Freunde treffen-Alltag sich Raum greift, wieder in viele kleine Einheiten zerfallen, nur um sich in der nächsten Ruhepause zu einer neuen großen Zeitblase zusammensetzen.
„Das ist heute“ heißt es in der Liturgie des Triduums am Gründonnerstag. Seit vielen Jahren mag ich diese kurz gefasste Vergegenwärtigung des Geschehens besonders. Erinnerungen halten Menschen, Gefühle, Geräusche und Musik, Gerüche und Gedanken lebendig oder werden von Gerüchen und Geräuschen oder anderen Auslösern neu zum Leben erweckt. Proust weiß davon ausgiebig zu erzählen. Ich trinke meinen Kaffee zwar immmer noch schwarz, aber wenn es irgendwo Kaffeesahne gibt, werde ich wohl in Zukunft still lächeln, mit einer Träne im Auge und ganz viel Liebe im Herzen. Auf dich, Papa.