Nicht erst seit der Pandemie gehört für mich das Internet zu meiner echten Lebenswelt. Soziale Netzwerke verbinden mich mit Menschen – manche vor Ort, andere mithilfe von Technologie. Zwischen Internet und Kohlenstoffwelt klafft für mich kein Graben. Das ist für viele Menschen um mich herum noch immer ungewöhnlich und schwer zu verstehen. Für sie waren Videokonferenzen und Chats, digitale Spieleabende und all die anderen Hilfsmittel ein Überbrückungstool für die Pandemie. Jetzt freuen sie sich, dass das „echte Leben“ wieder mit weniger Bildschirmen auskommt und sie „echte Menschen“ live treffen können.
Auch ich schätze räumliche Nähe, Umarmungen mit Freund:innen, ein gemeinsames Kichern und Anstoßen, gemeinsame Spaziergänge und Essen und und und. Aber digitale Treffen sind für mich nicht weniger echt, nicht weniger live, nicht weniger persönlich und bewegend. Ich ziehe andere Grenzen zwischen Nähe und Distanz, fühle mich manchmal gar bei analogen Begegnungen weiter entfernt von Menschen als bei digitalen Treffen mit anderen, mit denen mich die gleiche Sehnsucht, der gleiche Humor, die gleiche Leidenschaft für Frauenrechte und Leben, Veränderung und Solidarität verbindet.
Die Frau vom Amt, der ich nur einen knappen Meter entfernt gegenübersitze, versteht meine Frage nicht. Wir sprechen beide deutsch, haben die gleichen Unterlagen vor uns und reden doch aneinander vorbei. Großes Interesse an meinem Anliegen scheint sie nicht zu haben und zugegebenermaßen ist auch meine Geduld nur bedingt ausgeprägt. Wir sind uns geografisch so nah wie möglich, aber es scheint, als trennen uns Welten.
Ganz anders neulich mittags. Da saß ich mit Frauen aus verschiedenen Ecken der Welt zusammen. Für mich Europäerin war das bequem, die wunderbare Frau in Toronto ist extra früh aufgestanden, die in Melbourne länger aufgeblieben als es für sie üblich ist. Dazwischen Menschen aus verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Muttersprachen. Wir sprechen alle gut englisch, aber für manche Nuance, manche noch nicht ganz ausgegorene Idee brauchen wir Hände und Füße, Emojis und schnell gegoogelte Unterstützung in der Muttersprache einer der anderen. Wir lachen und seufzen, reden durcheinander und dann wieder eine nach der anderen, nicken zustimmen, wiegen nachdenklich die Köpfe oder runzeln die Stirn – ganz so, als säßen wir uns in einem Raum, auf einem Sofa, um einen Tisch gegenüber. Die einen haben sich Kaffee mitgebracht, die andere den Gutenacht-Tee. Bei manchen steht der Winter in den Startlöchern, bei den anderen der Sommer – all die geografischen, klimatischen und kulturellen Entfernungen überwinden wir ohne groß darüber nachzudenken.
Ich habe Freund:innen in der Nähe. Die mir nächsten Menschen leben jedoch in unterschiedlicher geografischer Entfernung, manche in anderen Zeitzonen, eine gar in einem Land ohne funktionierende Post. Nähe messe ich schon lange nicht in Kilometern, sondern in der Zeit, die wir brauchen, um ins Gespräch zu kommen. Meistens geht das ganz ohne „Aufwärmen“, als hätten wir gerade erst einen intensiven Abend miteinander verbracht. Wir laufen herum und denken aneinander, wir wohnen in den Herzen und Seelen der jeweils anderen. Auf der Karte weit weg und doch ganz nah.