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Aussterbende Traditionen

Vor kurzem waren wir auf einen Geburtstag eingeladen. Sogar zu zwei runden, zu denen die Gastgeber ein gemeinsames Fest veranstalteten und zu dem sie Menschen aus allen Himmelsrichtungen und allen Zeiten ihres Lebens eingeladen hatten. Ein schönes, ein rauschendes Fest mit liebevoller Dekoration, guten Gesprächen, leckerem Essen, fröhlichen Vorträgen und Reden – und mit Musik. Viel Musik.

Einer der Gäste war ein geübter (Vor-)Sänger und stimmte Lieder an, die alle mitsingen konnten. Oder doch zumindest fast alle. Alte Hits aus der „Mundorgel“, Lieder, die wir als Kinder auf langen Autofahrten mit unseren Eltern oder im Zeltlager am Lagerfeuer sangen, Volkslieder, Allzeit-Beliebt-Klassiker, die wir mit der Stadtkapelle ungezählte Male bei Volksfesten zum Besten gegeben haben. Wer sich nicht zu singen traute oder eine Melodie nicht kannte, der konnte bei einigen Liedern aufstehen oder winken, wenn ein bestimmtes Wort gesungen wurde.

Später setzte sich jemand ans Klavier, ein anderer hatte seine Gitarre mitgebracht und das eigens gestaltete Liederheft mit kölschen Klassikern (mit den abgedruckten Texten für die „Immis“) wurde herumgereicht.

Die Gastgeber hatten mit einer heiteren Vorstellungsrunde dafür gesorgt, dass ihre Gäste einen Überblick bekamen, wer von denen, die man noch nicht kannte (und auch von denen, die man bereits kannte) gemeinsame Interessen teilt und dabei hatte man schon sehen können, dass etwa ein Drittel der Anwesenden die Vorliebe der Geburtstagskinder für Chorgesang ebenfalls ihr eigen nennen. Doch mitsingen konnten noch viel mehr.

Auch bei einem Familienfest in der Eifel wurde vor einiger Zeit ganz selbstverständlich das ein oder andere Lied angestimmt. Alle Menschen meines Alters und darüber konnten mitsingen, die meisten auch ohne Textblatt.

Ich bin auf dem Land großgeworden, wo runde Geburtstage mit Spielen und Späßen gefeiert wurden. Ich habe in einem symphonischen Blasorchester gespielt, mit dem wir neben der „ernsten“ Musik auch Umzüge, Volksfeste, Frühschoppen und andere Veranstaltungen umrahmt haben. Dort kannten die Besucher natürlich die diversen Strophen des Badnerlieds, ‚Tief im Odenwald‘, ‚Hoch auf dem gelben Wagen‘, und wie sie alle hießen, waren Lieder aus der böhmischen Tradition und Oberkrainer Polkas allgemein bekannt, so dass sie fröhlich mitgesummt wurden, bei diversen – immer vorhersehbaren und daher immer im richtigen Moment aufgelegten – Märschen wurde mit dem Bierkrug der Takt mitgeklopft und der Kapelle dann von jemanden, der gerade nicht erst den ersten Krug leerte, eine Runde ausgegeben.

Dinge, die ich nicht vermisst habe und die in meinem Leben üblicherweise keine Rolle mehr spielen. Vor allem, wenn es um Liedtexte geht, die klassische Geschlechterrollen feiern, indem sie Männer als tollkühne Eroberer und Frauen als hübsche Heimchen am Herd besingen, bin ich froh, dass das vorbei ist. Die verschwanden allerdings vor mehr als 25 Jahren schon nach und nach aus den „Playlists“ – aber vermutlich sind sie noch immer irgendwo im Einsatz.

An dem Festabend neulich wurde mir bewusst, dass diese Art des Beisammenseins, diese Art von Gemütlichkeit und Gemeinschaft eine Tradition ist, die – zumindest in meinem Umfeld – nach und nach aussterben wird. Mein städtisch geprägter Freundeskreis kennt das alles nicht oder nicht mehr. Feste werden anders gefeiert, Gemeinschaft entsteht durch andere Riten. Wenn der Lieblingsmensch in einigen Jahren rundet, wird es kein Liederheft geben und niemanden, der spontan aufsteht und Rümcher und Verzällcher anstimmt. Es wird uns nicht fehlen. Aber bemerkenswert finde ich es doch.

 

Tri martolod

Volkslieder haben schon lange eine ganz eigentümliche Anziehungskraft auf mich. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Jugendgruppenleiterwochenende, bei dem wir abends lange auf alle möglichen europäischen Volkslieder getanzt haben: irisch, schottisch, italienisch, griechisch,… Klassiker wie Ännchen von Tharau, Der Mond ist aufgegangen oder Es war ein König in Thule finden einen festen Platz in meinem Herzen. Und ich habe wundervolle Erinnerungen an lange Urlaubsfahrten, auf denen wir als Kinder Die Mundorgel rauf und runter gesungen haben (In einen Harung jung und stramm, zwo drei vier… 🙂 )

Ganz besonders mag ich – Überraschung – bretonische Volkslieder. Vor kurzem habe ich diese hinreißende Version von Tri martolod, einem der bekanntesten Lieder aus der Bretagne entdeckt. Bekannt geworden ist es durch Alain Stivell, in Deutschland vermutlich auch durch Manau und ihren Hit La Tribu de Dana. Die Version von Didier Squiban und Yann Fanch Kemener ist zwar schon etwas älter, war aber an mir vollkommen vorbeigegangen (obwohl ich Didier Squiban schon lange kenne und mich unter anderem sehr gerne an eines seiner Konzerte in Köln erinnere).

Wenn ihr mich dieser Tage morgens mit verträumtem Grinsen und Kopfhörern am Bahnsteig stehen seht, wisst ihr, womit ich mir den Beinahe-schon-winterlichen-Schlechtwettermorgen und den Weg ins Büro versüße.

Neuer Klang

Am 5. Oktober gab es in Halberstadt bei Organ²/ASLSP einen Klangwechsel. John Cage-Fans, Musikwissenschaftler und Menschen mit einer Begeisterung für außergewöhnliche Events, wissen, wovon ich rede. Allen anderen sei kurz gesagt, dass in Halberstadt ein Musikstück aufgeführt wird, das „as slow as possible“, so langsam wie möglich, gespielt wird. Es ist auf 639 Jahre angelegt – auch wenn die Partitur nur acht Seiten hat und bei der Uraufführung in weniger als einer halben Stunde gespielt wurde. Ach ja: Das Stück begann mit einer Pause von eineinhalb Jahren.

Warum ich euch hier damit komme? Weil ich dieses Projekt immer mal wieder verfolge und es aus unterschiedlichen Gründen spannend finde, die nicht nur mit dem Werk von Cage sondern vor allem mit meinem Alltag zu tun haben:

  • In einer Zeit, in der alle über die ständig steigende Schnelllebigkeit stöhnen, gibt es Menschen, die eine solche Unternehmung wagen. Die ein Projekt umsetzen, das mit einem sehr, sehr langen Luftholen, einer 17-monatigen Phase der Konzentration begann und das – gefühlt – eine halbe Ewigkeit dauern wird. Ein Projekt, bei dem sogar die angenommene Bewegung der Finger von einer Taste zur nächsten mit mehreren Monaten berechnet wurde. Bei dem es wirklich „so langsam wie möglich“ zugeht.
  • Das Ganze findet nicht abgeschlossen und isoliert statt sondern inmitten unserer schnellebigen Zeit. Man kann das Konzert zwischendurch besuchen, es gibt Führungen und andere Begleitprogramme, Zuhörer können jederzeit von der gefühlten und vor allem gedachten Langsamkeit in der Burchardi-Kirche in die als schnell an- und wahrgenommene Außenwelt wechseln. Diese Gleichzeitigkeit von Alltag und Raum zum Innehalten, der Wechsel von verschiedenen Tempi und Wahrnehmungen, die Spannung zwischen Ausharren und Weitergehen ist in meinen Augen ein gutes Abbild vieler meiner Alltage. Sie kann mir bewusst machen, dass ich wählen kann. Sie weisen mich dann darauf hin, dass Tempowechsel notwendig, aber eben auch möglich sind. Einfach so. Mitten im Alltag, Wenn ich meine Sinne dafür schärfe.
  • Durch die physische Präsenz des Raums, der Orgel, des Klangs entsteht mehr als ein reines Symbol für Langsamkeit, Kreativität, Genie, Wahnsinn,…. Durch die sinnliche Erfahrbarkeit wird eine Idee Wirklichkeit, wird wahrhaftig, lebendig. Hier werden Menschen aus aller Welt miteinander verbunden – über Grezen von Raum und Zeit hinweg. (Um euch einzureihen, könnt ihr den aktuellen Ton hier hören.)
  • Kein einziger Zuhörer wird Anfang und Ende dieses Konzerts hören. Niemand kann wissen, ob das Konzert überhaupt beendet werden wird. Ob die Orgel lange genug hält. Ob genug Geld zusammenkommen wird, um das Ganze bis zum Ende zu finanzieren. Ob genug Menschen das Projekt am Leben erhalten möchten. Ob lange genug Frieden herrschen wird. Ob…
    Das Konzert hat etwas von dem Luther zugeschriebenen Satz vom Ende der Welt und dem Apfelbäumchen. Allein dafür: <3 <3 <3
  • Der Förderverein erklärt, das Projekt verstehe sich als ein „Versprechen in die Zukunft“. In eine Zukunft für die wir vieles tun, manches vorbereiten, anderes verhindern, aber die wir niemals mit Sicherheit werden planen können. Mit so einem Versprechen verbinden sich gute Wünsche, Bitten, Befürchtungen, Anleitungen, Fragen. Ein solches Versprechen in und an die Zukunft bedeutet auch Hoffnung; darauf, dass auch den Generationen nach uns der Sinn und das Herz für Kultur nicht fehlen wird; dass diese Menschen, die wir nicht kennen und von denen wir nichts wissen können, eine Ahnung haben werden von der Größe einer Idee, dem Charme und der Kraft ihrer Umsetzung; dass sie sich ein Auge, ein Ohr, eine innere Gewissheit bewahren für die Bedeutung von Dingen, die wir nicht vollständig überblicken und deren Wert wir noch weniger in Geld messen können.

Organ²/ASLSP ist für mich mehr als ein Versprechen. Für mich gibt es Ausdruck von einem unbedingten Vertrauen in das, was kommt. Nicht der schlechteste Wegweiser und ganz bestimmt eine der helleren Leuchten für das, was wir Zukunft nennen.