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Familiengeschichten: Deutsch-französischer Grenzverkehr

Bei Proust ist es eine Madeleine, die die Erinnerungen an die Kindheit des Erzählers der Suche nach der verlorenen Zeit zurückbringt. Bei mir sind es zum Beispiel Orangen, die Erinnerungen auslösen, Erinnerungen an meine Großeltern im Saarland. Ganz besonders an meinen Großvater. Opa Paul, wie wir Kinder ihn nannten, war Bergmann. Solange ich denken kann, hing seine Bergmannsmütze an einem Nagel. Es muss noch eine Mütze gegeben haben, eine blaue mit französischen Aufdruck: Denn vor dem Bergbau war Opa zuerst einmal französischer Grenzpolizist. Nach dem Krieg, von dem er uns Enkeln nie erzählt hat, und von dem er auch seinen Kindern kaum etwas erzählt hatte.

Meine Mutter erinnert sich, dass er einmal davon erzählte, wie sie auf der Flucht in Polen durch einen Fluss schwimmen mussten, neben ihm wurden Soldaten erschossen. Irgendwie hat er überlebt. Und wurde nach dem Krieg Grenzer bei den Franzosen. Das Saarland gehörte bis 1956 als Protektorat zu Frankreich. Und er tat Dienst an der Grenze. Kontrollierte Grenzgänger, suchte nach Schmuggelware. Eines Tages musste er Orangen beschlagnahmen. Eine ganze Schale voll. Waren sie nicht verzollt? Gab es Hinweise darauf, dass sie gestohlen waren? Ich weiß nicht, warum er sie beschlagnahmen musste. Aber da stand nun diese Schale Orangen. Was tun, mit den süßen, in seinem Dorf so seltenen Früchten? Eigentlich hätte er sie wegwerfen müssen. Natürlich. Schließlich war er ein Mann des Staates, ein Ordnungshüter. Ich erinnere mich daran, dass wie dieses Wort beim Erzählen jedes Mal besonders betont aussprach.

Ich erinnere mich auch an seinen Hut, den er abnahm, um ihn in den Händen zu drehen und ihn dann, jetzt aber ganz gerade, wieder aufzusetzen. Ich erinnere mich an die Kreuzworträtsel, die er so gerne löste – von oben links nach unten rechts. Bloß nicht wild durcheinander. Auf die Weiße-Rabe-Zigarillos, die er rauchte und deren Schachteln immer genau übereinander gestapelt im Schrank lagen, neben einer Packung Salzstangen, aus der für uns Kinder manchmal eine Handvoll entnommen und in ein nur dafür benutztes Glas mit blau-goldenem Muster gestellt wurde. Das Glas wurde nach dem Kinderansturm wieder genau in die Mitte des Spitzendeckchens auf dem Büffet zurückgestellt. Ordnung eben.

Aber dieses eine Mal hütete Opa Paul nicht die Ordnung. Sondern einen Schatz. An diesem einen Tag ließ er die Vorschriften Vorschriften sein. Und freute sich auch Jahre danach diebisch über seine Traute. Wenn er erzählte, wie er die Orangen still und heimlich und vor allem schnell in seiner Tasche verschwinden ließ, wie er sich vorstellte, wie seine Frau – meine Oma – sie zu Hause schälen würde. Wie sich alle an der exotischen Süßigkeit freuen würden. Wenn er das erzählte, war er ein Held, mein Held. Warum ich euch das erzähle? Ich habe heute Orangen gekauft…

Familiengeschichten: Kriegsende in der Eifel

Mein Vater stammt aus der Eifel. Er ist dort auf einem Bauernhof groß geworden. Im letzten Jahr habe ich ihm und seiner älteren Schwester – meiner Patentante – Löcher in den Bauch gefragt, wie es früher war. Natürlich kannte ich schon vorher ich viele Geschichten von früher, habe über die Jahre hinweg viele Erinnerungen gehört, viele Anekdoten immer wieder erzählt bekommen. Aber durch die vielen Jahrestage und vermutlich auch, weil wir alle nicht jünger werden, wollte ich mehr wissen, Geschichten, an die ich mich nur halb erinnerte, Erzählfetzen, die irgendwo angerissen herumlagen, zu echten Erzählungen zusammenzufügen. Einige der Geschichten, die ich gehört habe, berühren mich besonders. Darunter das, was am Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Hof meiner Großeltern in der Eifel geschah. Dieser Tage jähren sich diese Ereignisse zum 70. Mal. Daher erzähle ich sie euch weiter.

Mein Großvater hatte im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft und ein steifes Bein zurückbehalten. Er wurde daher nicht eingezogen und war zu Hause. Als die Front immer näher kam, hatte er einen seiner Cousins und dessen Familie bei sich aufgenommen. Die drei ältesten Söhne des Cousins waren an der Front, doch seine Frau, die 20-jährige Tochter und die beiden kleinsten Kinder lebten einige Wochen zusammen mit meinem Großvater, meiner Großmutter, meinem Vater und seinen beiden älteren Geschwistern auf dem Hof. Bei Bombenalarm versammelten sich alle Familienmitglieder im Keller. Auch der russische Kriegsgefangene, der  bei einem Angriff auf dem  Feld schwer verletzt worden war und den mein Großvater unter Einsatz seines Lebens mit dem Pferdewagen zum Arzt gefahren hatte, wurde in den Keller getragen. Vor die Kellerfenster hatte mein Opa schwere Holzbretter gestellt.

Nicht nur die Menschen flüchteten dorthin, auch der Hofhund rannte beim Klang der Sirenen in den Keller so schnell er konnte. Eines Tages hatte sich auch ein Soldat in den Keller gerettet. Mein Vater, der damals knapp drei Jahre alt war, habe auf den zitternden Soldaten gezeigt und seiner Schwester zugeflüstert: Guck mal, der Mann hat genauso viel Angst wie unser Hund.

Allerdings bot der Keller nicht so viel Schutz, wie die Familie gehofft hatte. Am letzten Tag, an dem in dem kleinen Dorf gekämpft wurde, schlug eine Granate im Hof ein. Ein schwerer Splitter drang zwischen zwei Brettern hindurch, durchschlug das Fenster und traf die Tochter der Gastfamilie ins Herz. Meine Tante sieht bis heute vor sich, wie die junge Frau direkt vor ihr tot zusammenbrach. Auch die Schreie der Eltern kann sie nicht vergessen. Es war der letzte Schuss, der in dem Dorf fiel. Wenige Stunden später kamen die Amerikaner in das Haus meiner Großeltern.

Meine Tante erzählt, dass die Soldaten mit vorgehaltener Waffe von Raum zu Raum gingen. Wie im Krimi seien sie durch die Tür gesprungen und hätten sich hektisch umgesehen. Ein Dolmetscher übersetzte den Befehl, sie sollten sofort das Haus verlassen. Doch mein Großvater legte Widerspruch ein. Wie sollte das gehen, mit einem Schwerverletzten und einer Leiche. Die Amerikaner befragten also den verletzten Russen. Gespannt warteten alle hinter der Tür. Dort hörten sie, wie der ehemalige Gefangene den Amerikanern erklärte: Chef gut, alles gut.

Sicher ein Grund dafür, dass die Familie beim Schreiner des Dorfes einen einfachen Sarg holen durfte, um die tote junge Frau darin in die Kirche zu stellen, damit sie eine ordentliche Beerdigung bekommen konnte.

Der nächsten Wochen verbrachte meine Familie zusammen mit vielen anderen in der Dorfschule, in jedem Klassenzimmer eine oder zwei Familien. Die Kinder durften manchmal auf dem Schulhof spielen. Mein Großvater hatte eine Ausnahmegenehmigung bekommen, er durfte jeden Morgen und jeden Abend zu seinem Hof gehen, das Vieh füttern und die Kühe melken.

Mehr über diese Zeit, konkret über die Befreiung Triers, könnt ihr zum Beispiel hier lesen. In Monschau war der Krieg schon einige Wochen vorher zu Ende, darüber hat im vergangenen Jahr die FAZ berichtet.

Ganz persönliche Familienerinnerungen, in diesem Fall allerdings an den Ersten Weltkrieg, hat Friederike v.C. im Projekt Fürchten lernen – Ein Weltkriegsblog gesammelt. Das Nachlesen der Tagebucheinträge, Briefe und Erinnerungen geht unter die Haut.

Familiengeschichten: Maria flieg in die Luft

Am Sonntag (also am 29. Juni) war Peter und Paul. In diesem Jahr praktischerweise quasi automatisch arbeitsfrei. Eine Tatsache, die mir noch immer ein kleines Lächeln ins Herz zaubert. Grund dafür ist eine alte Geschichte. Denn in meiner Familie gibt es ein geflügeltes Wort. „Nicht arbeiten Peter und sein Kamerad, nicht arbeiten Maria flieg in die Luft.“

Gesagt hat den Satz ein junger russischer Soldat, der auf dem Hof meiner Großeltern in der Eifel als Kriegsgefangener arbeiten musste. An Peter und Paul wurde auf dem Hof nicht gearbeitet. Also, das was „nicht arbeiten“ auf einem Hof eben heißt. Natürlich muss das Vieh trotzdem gefüttert und die Kühe gemolken werden. Arbeit ist das immer noch genug. Dabei erinnere ich mich daran, dass mein Vater erzählt hat, der der Russe, dessen Namen ich nicht kenne, besonders gut mit den Tieren umgehen konnte. So wie mein Vater und seine Geschwister von ihm erzählen, gehörte er zur Hofgemeinschaft dazu. Er hatte schnell recht gut deutsch gelernt. Und scherzte wohl auch gerne mit den Kindern.

Am 15. August feiert nicht nur die römisch-katholische Kirche Mariä Himmelfahrt, auch in der orthodoxen Tradition ist der Tag ein Fest. In der Eifel wurde an diesem Tag jedoch ganz normal gearbeitet. Der junge Russe nahm aber an, wenn schon an Peter und Paul nicht gearbeitet werde, könne er auch am 15. August ausschlafen.

Ich habe nicht viele Erinnerungen an meinen Großvater, der starb, als ich sechs Jahre alt war. Ich erinnere mich aber noch an sein verschmitztes Lächeln, wenn wir nach dem Mittagessen auf seinem Schoß saßen und hofften, er würde uns ein Märchen erzählen. In meiner Vorstellung hat er genau so gelächelt, als die gleichermaßen pragmatische wie poetische Entschuldigung des jungen Russen erklang. In meinem Herzen lebt dieses Lächeln weiter, ganz besonders an „Peter und sein Kamerad“ und „Maria flieg in die Luft“.

Geschichten von früher

Am Wochenende haben wir meine Eltern besucht. Neben stundenlangen Spielerunden (ehrlicherweise haben wir vor allem Auf Teufel komm raus gezockt 🙂 ) haben wir auch viel über früher geredet.

Mein Vater ist beispielsweise auf einem Bauernhof in der Eifel aufgewachsen. In Zeiten von Melkrobotern ist es kaum noch vorstellbar, wie in den 50er Jahren die Milch zur Molkerei kam: In Kannen, die erst auf einen Wagen gestellt und dann durch das Dorf zu dem Bauern gefahren wurden, bei dem der LKW der Molkerei Station machte. Der LKW brachte gleichzeitig die Kannen vom Vortag leer wieder mit. Im Laufe des Tages musste jemand wieder zur Milch-Station laufen und die leeren Kannen abholen. Die wurden dann gewaschen und am nächsten Morgen fing der Kreislauf wieder von vorne an.

Bei der Gelegenheit ist mir wieder einmal aufgefallen, wie viel Wissen einfach verschwindet, wenn keiner mehr davon erzählt. Weil niemand danach fragt. Weil keiner denkt, dass es interessant sein könnte. Weil es mit meiner Lebenswirklichkeit nichts mehr zu tun hat. Weil…

Auch wenn sich der Zweck und der Wert solchen Wissens nicht auf den ersten Blick erschließen, finde ich es mehr als schade, wenn es verloren geht. Dieses Wissen wurde ja nicht einfach angehäuft, es wurde gelebt, gefühlt, erfahren, durchlitten. So verstandenes Wissen muss nicht zu etwas nütze sein. Diese Erfahrungen haben einen Wert für sich, sie lassen sich nicht nach Kriterien der Wirtschaftlichkeit einordnen. Das, was meine Eltern, meine Großeltern, Onkel oder Tanten erlebt haben, ist nichts Besonderes. Sie sind weder adelig, noch sind Entdecker weltverändernder Fakten unter meinen Vorfahren.

Was die Menschen, die ich liebe, erlebt haben, ist ganz normaler Alltag. Oft langweilig, manchmal fröhlich, meistens hart. Alltag im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in der Evakuierung und in den Hungerwintern der Nachkriegszeit. Während des Mauerbaus und zu Zeiten, als das Saarland französisch war. Alltag als Polizist, Bergmann, Bäuerin, Mädchen „in Gestellung“. Das ganz normale Leben. Für mich so wertvoll, dass ich es nicht vergessen möchte. Das war sicher nicht das letzte geschichtenreiche Wochenende.