Archiv für den Monat: April 2017

Frankreichliebe – Europaliebe

Am Sonntag wählen die Franzosen einen neuen Präsidenten. Beziehungsweise bestimmen sie, wer es in den zweiten Wahlgang schafft und dann Präsidentin oder Präsident werden kann. Und je mehr ich von Freunden und Bekannten höre und in deutschen und französischen Medien lese, desto mehr habe ich das Gefühl, dass das Land, das ich liebe, sich grundlegender verändert hat, als ich es bisher wahrhaben wollte.

Meine Liebe zu Frankreich ist irgendwie einfach so entstanden. Ich bin in der Nähe der Grenze groß geworden und habe schon in der Grundschule die ersten französischen Vokabeln gelernt. Ganz selbstverständlich wollte ich unbedingt Französisch als erste Fremdsprache lernen. Und selbst wenn der erste Schüleraustausch in der sechsten Klasse ein kompletter Reinfall war (meine einige Jahre ältere Austauschpartnerin war zum ersten Mal verliebt und verbrachte ihre gesamte Freizeit mit ihrem Freund, während ich allein auf einem kleinen Dorf ohne andere Jugendliche festsaß und mit „bébé“ spielen konnte, dem dreijährigen Nachzüglerkind der Familie, das von allen so babyhaft behandelt wurde, dass es weder sprechen noch sicher laufen konnte oder wollte), habe ich mich unmerklich nach und nach unsterblich in dieses Land, seine Menschen, seine Sprache verliebt.

Außerhalb der Ferien radelten wir mit Freundinnen ins Elsass, kauften Baguette und Käse, und picknickten am Rheinufer – stilecht auf der französischen Seite.

Im Sommer nach dem ersten Austauschversuch war ich wieder in Frankreich. Diesmal bei einer Familie mit einem gleichaltrigen Mädchen, einem kleinen Häuschen mit Garten in einer wundervollen Kleinstadt. In den folgenden Jahren trafen wir uns immer wieder, mal in Deutschland, mal in Frankreich, wir plauderten in unseren beiden Sprachen, spielten mit den Haushühnern in Frankreich und fuhren begeistert mit der Wildwasserbahn im benachbarten Freizeitpark, wenn wir in Deutschland waren. Meine französische Freundin verdrehte den Jungs in meiner Clique reihenweise den Kopf. Ich lernte flirten, und verknallte mich in Diderot und französische Popmusik.

Und dann war da diese Begegnung in meinem ersten Langres-Sommer. An einem langen Wochenendtag besuchten wir die Großeltern der Familie. Gegen Ende des unenedlich langen und unendlich gemütlichen Familienessens, stand der Großvater auf, ging in ein Nachbarzimmer und kam mit einem Buch und einer Dose in der Hand zurück. Er drückte mir lächelnd beides in die Hand und die kleine, frankreichliebende, familiendynamik beobachtende Austauschschülerin, die ich war, saß plötzlich sprach- und ratlos inmitten der Großfamilie. Ich wusste gar nicht mehr, was ich sagen und wie ich die Situation einordnen sollte. Das Buch war „Mein Kampf“ und in der Dose steckten ein paar Reichsmarkscheine.

An die gespannten Blicke und die plötzliche, neugierige Stille am Tisch kann ich mich noch heute lebhaft erinnern. Und auch daran, dass es der Großvater war, der die Stille brach. Er war – neben meinem Vater – der erste Mensch, der mir von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Davon, dass er in Deutschland in Kriegsgefangenschaft geraten war. Dass er als Knecht auf einem süddeutschen Bauernhof arbeiten musste. Und dass die Bauernfamilie sehr nett zu ihm gewesen sei. Er habe genug zu essen gehabt und mit viel Geduld habe der Familienvater ihm ein wenig Deutsch beigebracht. Er durfte die Bücher in der guten Stube lesen – oder versuchen, etwas daraus zu verstehen – und er durfte mit der Familie gemeinsam am Tisch sitzen.

Buch und Geldscheine bewahre er auf, um sich immer an diese Menschlichkeit mitten im Krieg zu erinnern. Er konnte sogar noch immer einige Sätze auf deutsch sagen. Eine seiner Töchter hatte seine Liebe zur deutschen Sprache inhaliert und war Deutschlehrerin geworden. Europa war in allen weiteren Gesprächen an diesem Nachmittag und Abend der einzige logische Weg für die Zukunft.

Egal, wie viel ich später lernte und las über deutsch-französische Geschichte: Eindrücklicher habe ich nur sehr selten gespürt, was diese so junge Freundschaft zwischen zwei Völkern bedeutet. Zum ersten Mal habe ich mich an diesem Tag nicht nur als Deutsche gefühlt, sondern als Europäerin. Ich habe es in diesen Stunden als Dreizehn- oder Vierzehnjährige nicht bewusst wahrgenommen, nicht begreifen können, aber ich habe es wohl damals schon gefühlt: Dass wir alle, jede und jeder einzelne von uns, etwas zu einer friedvollen, menschlichen, hoffnungsvollen Wirklichkeit beitragen können.

Wenn viele Franzosen jetzt ernsthaft über einen „Frexit“ nachdenken; wenn Menschen, die ich seit Jahren kenne und schätze, davon sprechen, wie sehr Europa die Freiheit Frankreichs bedrohe; wenn die allgegenwärtige Angst vor dem Terror dazu führt, dass der Wunsch nach der Einschränkung von Freiheiten auch bei Menschen, die ich als weltoffen und kreativ kennengelernt habe, zu Forderungen führt, die auch Gleichheit und Brüderlichkeit einschränken würden, so dass diese nur noch für einige bestimmte Gruppen der Gesellschaft gelten sollen; dann blicke ich über die Grenze, die für mich lange nur noch auf dem Papier bestand, und verstehe die Welt nicht mehr.

Ich weiß, dass man für Liebe nicht immer Verständnis braucht. Dass man jemanden auch dann lieben kann, wenn man ihn gerade gar nicht versteht. Und doch hoffe ich, dass sich am Sonntag, und beim zweiten Wahlgang in vierzehn Tagen, viele Franzosen einlassen auf dieses Experiment, das Europa heißt. Auch wenn – und gerade weil – es keine einfachen Antworten verspricht. Dafür aber Begegnungen, ohne die wir alle so viel ärmer wären.

Vive la France. Vive l’Europe. Vive l’amitié.

Kneipenschild mit der Aufscrift: Heute empfehlen wir: Politisch sein!

Demokratie zum Anfassen

Wählen gehen ist ein Recht, das mir jahrelang selbstverständlich erschien. Natürlich konnte ich wählen gehen. Bürgermeisterwahl, Gemeinderatswahl, Landtagswahl, Bundestagswahl, Europawahl. Sogar Pfarrgemeinderäte konnte man wählen. Ich habe mich sogar schon für Wahlen aufstellen lassen. Und wurde gewählt. Als Pfarrgemeinderätin und Betriebsrätin.

Nur einmal gab es ein Problem. Bei der Europawahl 1999 wohnte ich in Frankreich. Und weil dort die Post (oder irgendeiner der Transportwege für die Post) streikte, kamen meine Briefwahlunterlagen erst nach der Wahl bei mir an. Ein kleines Ärgernis, aber wer kann Franzosen, die für bessere Arbeitsbedingungen nicht arbeiten, irgendwas übel nehmen. Ok, nach sechs Wochen Busstreik, bei dem nicht mal verhandelt wurde und der dann irgendwann einfach ohne Ergebnis vorbei war, wurde meine Geduld schon sehr auf die Probe gestellt. Aber selbst wenn ich das Gefühl habe, das aktuelle Frankreich immer weniger zu verstehen (trotz vieler Gespräche mit französischen Bekannten und Freunden und der wirklich informativen politischen Zwischenrufe von Au fil des mots), ist das in meiner Erinnerung kein Grund gewesen, Wahlen grundsätzlich doof zu finden.

Zuhause zu bleiben oder meine Stimme absichtlich ungültig zu machen, auf diese Ideen bin ich nie gekommen. Aber in diesem Jahr reicht mir das nicht mehr. Ich will mehr tun. Etwas beitragen zu diesem unglaublich tollen demokratischen Vorgang. Mehr beitragen als nur meinen Stimmzettel in einen Umschlag zu stecken und ihn in eine Urne zu werfen. Und so habe ich mich als Wahlhelferin gemeldet.

Benachrichtigung über meinen Einsatz als Wahlhelferin

Das klingt jetzt erstmal nicht besonders großartig. Aber es ist ein Ehrenamt, ohne das die Demokratie nicht funktionieren würde. Und so werde ich also bei der NRW-Landtagswahl in diesem Jahr zum ersten Mal ein winzig kleiner Teil dieses demokratischen Prozederes sein und als Beisitzerin dazu beitragen, dass andere die Wahl haben.

Also tut mir einen Gefallen: Geht hin. Gebt eure Stimme ab. Macht davon Gebrauch, die Richtung in unserem Land mitzugestalten. Und lasst euch bei eurer Entscheidung nicht nur von eurem Gefühl leiten. Informiert euch, besucht vielleicht sogar Wahlkampfveranstaltungen. Redet mit euren Freunden. Diskutiert über die vorgeschlagenen Lösungen für aktuelle Probleme. Hört euch auch gegenteilige Meinungen an und tragt eure eigenen Argumente sachlich vor. Redet über Ideen und Fragen, Antworten und ihr Gegenteil.

Und auch, wenn das jetzt recht salbungsvoll klingen mag, meine ich es ganz ernst: Versuchen wir, nicht zynisch und sarkastisch zu sein, sondern an Veränderungen hin zu mehr Menschlichkeit zu glauben. Gestalten wir die Gesellschaft mit, die wir haben wollen. Setzen wir uns ein für Freiheit, Vertrauen, Hoffnung, (Mit-)Menschlichkeit. Für die Suche nach den richtigen Fragen und nicht nur nach einfachen Antworten. Setzen wir uns ein für die, die das selbst nicht können, weil sie schwach sind, oder stumm gemacht werden, weil sie Angst haben oder traumatisiert sind, weil sie rechtlos am Rand sind und selbst nicht mehr daran glauben, dass sie Würde haben. Machen wir uns stark für einander und für andere, für eine menschliche, hoffnungsvolle Grundlage für unser Zusammenleben. Setzen wir uns ein für das Aushalten von Konflikten und die sachliche Auseiandersetzung, in der niemand einem anderen das Menschsein abspricht. Und für die Demokratie.

Denn die funktioniert nicht einfach für uns. Sondern nur mit uns.

Was schön war (okay, es fängt doof an, aber dann… :-) )

„Ich renne und halte für Sie die Tür auf.“

Ein kleiner Satz, der ganz alltäglich klingt, meinen gestrigen Tag aber zu einem ganz besonders schönen gemacht hat. Aber von vorne:

Der Tag fing schonmal gleich gut mies an. Bevor ich das Haus verließ, hatte ich in der Bahn-App nachgesehen, ob mein Zug pünktlich sein würde. Jawoll, alles klar. Der Anschluss in Köln – für den ich sowieso schon eine halbe Stunde zusätzlichen Puffer eingeplant hatte – war mir sicher.

Fünf Minuten später am Bahnhof: Strecke gesperrt, seit mehr als einer Stunde geht hier gar nichts mehr. Immerhin stand da ein Zug, in dem es Sitzplätze gab. Der freundliche Triebfahrzeugführer vom „National Express“ gab immer wieder mit Durchsagen bekannt, was es zu wissen gab: Dass er seinen Kollegen von der Nachtschicht abgelöst habe und auch erstmal erfahren müsse, wie es denn nun weitergehe. Dass die Strecke leider immer noch gesperrt sein. Dass die Strecke wieder freigegeben worden sei und man gleich losfahre. Und dass wir 20 Minuten später dann doch den Zug räumen mussten, um mit einem anderen Zug, der mittlerweile auf dem Nachbargleis gestrandet war, in die falsche Richtung zu fahren, weil: Nach Köln kommen Sie hier nicht. Immerhin bringe einen der andere Zug nach Bonn, wo man zwar auch keinen Schienenersatzverkehr, aber immerhin die Straßenbahn erreichen könne.

Und mitten in diesem Chaos wurde es schön: Die Info, welcher Zug fährt und wohin, hatte man nämlich den Menschen auf den diversen Bahngleisen und im anderen Zug nicht gegeben. Das erledigten dann die – nach bis zu zwei Stunden Verspätung überraschend gelassenen – Fahrgäste aus dem blauen Zug. Egal, wer wie oft fragte, jeder teilte das Wissen, das er hatte. Wer nun doch das Auto holen wollte, bot Fahrgemeinschaften an, andere geleiteten Ortsfremde zur Bushaltestelle, von wo man wenigstens ein bisschen gemeinsam in die richtige Richtung weiterfahren wollte.

In Bonn erwischte ich dann die Straßenbahn nach Siegburg und hatte dort laut Fahrplan drei Minuten Zeit zum Umsteigen in einen ICE gen Süden. Leider war die Straßenbahn aber genau diese drei Minuten zu spät. Egal. Rechtzeitig vor der Einfahrt in den Siegburger Bahnhof stellte ich mich an die Tür zum Aussteigen. Il y a un dieu pour les ivrognes – frei übersetzt: Das Glück ist mit den Besoffenen Tüchtigen. Und vielleicht würde ich den Zug ja trotzdem irgendwie kriegen. Das ständige Sporteln im letzten Jahr verleiht mir zwar keine Flügel, aber immerhin schnellere Beine. 🙂

Die brauchte ich aber gar nicht, denn plötzlich steht ein freundlicher Herr mit Rucksack neben mir und sagt den schönen Satz: „Wollen Sie auch zum ICE nach Mannheim? Ich auch und ich habe keinen Koffer. Ich renne und halte für Sie die Tür auf.“

Jemand der seine Umgebung so wahrnimmt, dass er das, was er selbst tut, mit anderen in Verbindung bringt. Jemand, der einfach so seine Hilfe anbietet. Jemand, der nicht lange fragt, sondern einfach mal macht: So jemanden wünsche ich euch heute auch. Und morgen. Und übermorgen. Und überhaupt.

Lieber unbekannter Bahnmitarbeiter (das weiß ich, weil wir danach noch ein wenig plauderten): Vielen Dank. Und allzeit gute Fahrt!